Gini-Koeffizient
Der Gini-Koeffizient oder auch Gini-Index ist ein statistisches Maß für die Ungleichverteilungen in einer Gesellschaft, das vom italienischen Statistiker Corrado Gini entwickelt wurde. Ungleichverteilungskoeffizienten lassen sich für jegliche Verteilungen berechnen. Beispielsweise gilt der Gini-Koeffizient in der Wirtschaftswissenschaft, aber auch in der Geographie als Maßstab für die Einkommens- und Vermögensverteilung einzelner Länder und somit als Hilfsmittel zur Klassifizierung von Ländern und ihrem zugehörigen Entwicklungsstand.
Der Gini-Koeffizient wird aus der Lorenz-Kurve der kumulierten Einkommen über der geordneten Liste der Teilnehmer (Haushalte/Personen/Länder &c) abgeleitet. Er ist das Verhältnis von zwei Flächen:
- der Differenzfläche zwischen der idealen Lorenz-Kurve für vollkommen gleichmäßige Verteilung der Einkommen (einer ansteigenden Geraden) und der realen Lorenz-Kurve,
- der Fläche unter der idealen Kurve.
Er ist 0 für vollkommene Gleichverteilung (keine Differenzfläche) und 1 für vollkommene Ungleichverteilung, d. h. wenn nur eine Person das gesamte Einkommen hat (Alles ist Differenzfläche).
Mit einer gleichmäßigen Verteilung ist dabei nicht die Gleichverteilung von Wahrscheinlichkeiten gemeint, die i. A. noch konkretes Auftreten unterschiedlicher Werte erlaubt, sondern dass es konkret nur einen Einkommenswert gebe, also eine Verteilung mit einer Varianz von 0. Im häufigsten Anwendungsfall, der Einkommensverteilung in einem Staat, heißt das, dass das Einkommen jedes Erwachsenen gleich hoch ist, und nicht etwa, dass verschiedene Einkommens(klassen) gleich häufig sind.
Anwendungen
Ökonomie
Der Gini-Koeffizient wird insbesondere in der Wohlfahrtsökonomik verwendet, um beispielsweise das Maß der Gleichheit oder Ungleichheit der Verteilung von Vermögen oder Einkommen zu beschreiben. Der Koeffizient ist eine Alternative zum S80/S20-Einkommensquintilverhältnis, das in der EU-Statistik[1] Verwendung findet.
Informationstheorie
In der Informationstheorie wird er als Maß der „Reinheit“ oder „Unreinheit“ von Information verwendet.
Maschinelles Lernen
Im Bereich des maschinellen Lernens kann beim Erzeugen eines Entscheidungsbaums der Gini-Index, genauer gesagt die Änderung des Gini-Index, auch „Gini Gain“ genannt, als Kriterium verwendet werden, um diejenige Entscheidungsregel auszuwählen, bei der die Kindknoten möglichst „rein“ werden.[2] Die Idee ist, dass bei einer „reinen“ Entscheidung der Baum fertig ist, weshalb die Änderung des Gini-Index als Maß geeignet ist.
Bankwesen
Im Bankwesen wird der Gini-Koeffizient als Maß dafür verwendet, wie gut ein Ratingsystem gute von schlechten Kunden trennen kann (Trennschärfe).[3]
Normierung
Die Skala möglicher Werte reicht je nach Anwendungsfall von 0 bis 1, von 0 bis 100, von 0 bis 10000. Je nach Anwendungsfall steht der kleinste oder eben der größte Wert für die gleichmäßige Verteilung. Der Wert der absoluten Ungleichheit kann dabei im Allgemeinen nur asymptotisch erreicht werden. Durch Renormierung kann man dies vermeiden.
Definition
Allgemeiner Fall
Für eine aufsteigend sortierte, diskret verteilte Größe (Beispiel: Haushaltseinkommen) ist die Lorenz-Kurve gegeben durch
Für die Position in der Einkommensverteilung gibt die Lorenz-Kurve daher den kumulierten Anteil am Gesamteinkommen an. bezeichnet das arithmetische Mittel. Bei einer Gleichverteilung entspräche die Fläche zwischen der 45-Grad-Linie und der Lorenzkurve dem Wert 0 und nimmt zu für ungleichere Verteilungen. Aus dieser Überlegung und dem Ziel, ein auf das Intervall normiertes Maß zu erhalten, ergibt sich der Gini-Ungleichheitskoeffizient als Durch geometrische Zerlegung der Fläche erhält man:[5]
Für eine reale Verteilung kann man den Gini-Koeffizienten daher direkt folgendermaßen (unter Verwendung von ) berechnen:
Eine alternative Formulierung, die keine Sortierung der Daten voraussetzt, basiert auf der sogenannten relativen mittleren absoluten Differenz. Die mittlere absolute Differenz bezeichnet die durchschnittliche Differenz aller vorhandenen Beobachtungspaare in einer Population. Diese wird ins Verhältnis gesetzt zum Durchschnittseinkommen. Damit der Gini-Koeffizient den gewünschten Wertebereich annimmt, wird die Differenz noch durch 2 geteilt:
Berechnung anhand von Quantilen
Ein gewisser Teil einer Menge A wird einem Teil einer anderen Menge B zugeordnet. Dies kann z. B. Geld (A) auf Menschen (B) oder auch Stromverbrauch (A) auf Städte (B) sein. Entscheidend ist, dass A eine homogene gut aufteilbare Menge darstellt. Zum Beispiel wäre der Besitz von Kfz nicht geeignet, da Kfz weder homogen – einzelne Typen unterscheiden sich erheblich – noch in kleine Einheiten aufteilbar sind.
Der Gini-Koeffizient ist die auf die Gleichverteilung normierte Fläche zwischen den Lorenz-Kurven einer Gleichverteilung und der beobachteten Verteilung.
mit GUK als dem Gini-Ungleichverteilungskoeffizienten, der Fläche unter der Lorenz-Kurve einer Gleichverteilung und der Fläche unter der Lorenz-Kurve für die beobachtete Verteilung.
Beispiel
A wird auf B verteilt, beispielsweise wird das Vermögen (A) auf die Bevölkerung (B) verteilt.
50 Prozent von B (b1) wird 2,5 Prozent von A zugeordnet (v1). 40 Prozent von B (b2) wird 47,5 Prozent von A zugeordnet (v2). 9 Prozent von B (b3) wird 27,0 Prozent von A zugeordnet (v3). 1 Prozent von B (b4) wird 23,0 Prozent von A zugeordnet (v4).
In einem ersten Schritt werden die Daten „normalisiert“ dargestellt:
b1 = 0,50 v1 = 0,025 v1/b1 = 0,05 b2 = 0,40 v2 = 0,475 v2/b2 = 1,188 b3 = 0,09 v3 = 0,270 v3/b3 = 3 b4 = 0,01 v4 = 0,230 v4/b4 = 23
Im zweiten Schritt wird der Gini-Koeffizient berechnet.
Den Gini-Ungleichverteilungskoeffizienten (GUK) erhält man durch Auswertung einer Lorenz-Kurve.
Damit tatsächlich eine Lorenz-Kurve entsteht, müssen gegebenenfalls die obigen Werte umsortiert werden. Alle Werte-Paare müssen zunächst so vorsortiert werden, dass gilt:
Bei dem obigen Beispiel liegt schon die richtige Sortierung vor, so dass nicht umsortiert werden muss.
Die gesuchte Lorenz-Kurve entsteht, wenn man (xi,yi)-Paare als Punkte in ein kartesisches Koordinatensystem einträgt und anschließend benachbarte Punkte mit einer Geraden verbindet. Die -Paare entstehen aus den -Paaren nach folgender Rechenvorschrift:
Im zweiten Schritt werden aus den Daten des ersten Schritts die nachfolgenden Daten durch Summation ermittelt (wobei am Anfang (0, 0) als fester Wert dazu kommt):
x0 = 0,00 y0 = 0 x1 = 0,50 y1 = 0,025 x2 = 0,90 y2 = 0,5 (da 0,5 + 0,4 = 0,9 und 0,025 + 0,475 = 0,5 ist) x3 = 0,99 y3 = 0,77 x4 = 1,00 y4 = 1
Bei totaler Gleichverteilung des Vermögens ist die Lorenz-Kurve eine gerade Linie von Punkt (0|0) zu Punkt (1|1).
Zur Bestimmung des Gini-Koeffizienten werden zuerst zwei Größen bestimmt, die graphisch betrachtet Flächen sind. Einmal die Fläche unter der Gleichverteilungslinie, nennen wir diese Größe beispielsweise A. Die zweite Fläche ist die Fläche unter der tatsächlichen Verteilungskurve, nennen wir diese Größe beispielsweise B. Mit diesen beiden Größen berechnet sich der Gini-Ungleichverteilungskoeffizient wie folgt:
Errechnen der y-Werte der Lorenz-Kurve der tatsächlichen Verteilung:
y0 = 0,000 y1 = v1 = 0,025 y2 = v1 + v2 = 0,500 y3 = v1 + v2 + v3 = 0,770 y4 = v1 + v2 + v3 + v4 = 1,000
Berechnung der Fläche B unter der Lorenz-Kurve der tatsächlichen Verteilung (siehe unten):
(y1 - 0,5 · v1) · b1 = 0,00625 (y2 - 0,5 · v2) · b2 = 0,105 (y3 - 0,5 · v3) · b3 = 0,05715 (y4 - 0,5 · v4) · b4 = 0,00885
B = 0,17725
Da eine normierte Darstellung verwendet wird, verbindet die Kurve der totalen Gleichverteilung die Eckpunkte (0|0) und (1|1) miteinander. Das Dreieck mit der Fläche A beträgt also 0,5. Darum gilt für den Gini-Ungleichverteilungskoeffizienten:
Graphisch betrachtet ist der Gini-Koeffizient das Verhältnis der Fläche zwischen Gleichverteilungslinie und Lorenzkurve (A-B) zur Fläche unterhalb der Gleichverteilungslinie (A).
Erläuterung zur Berechnung
Die gesamte Gini-Fläche ist ein Rechteck mit den Seiten mal . Die Gini-Fläche einer Gleichverteilung ist die Hälfte der gesamten Gini-Fläche. Zur Berechnung der Fläche unter der Kurve werden alle Einzelflächen addiert. Nehmen wir beispielsweise . Voll anzurechnen ist das Rechteck mit der Höhe und der Breite (d. h. von bis ). Von dem Rechteck, das von der Höhe bis zur Höhe geht, ist nur die Hälfte zu nehmen, da die andere Hälfte oberhalb der Ginilinie nicht zur Gini-Fläche gehört. Also ist
oder auch
Alternative Anschauung zur Flächenberechnung: Die Einzelfläche über ist die Differenz aus der Rechtecksfläche, die von den Punkten (x1,y0=0), (x2,y0=0), (x2,y2), (x1,y1) begrenzt wird (Inhalt: ), abzüglich der Fläche des rechtwinkligen Dreiecks, das von den Punkten (x1,y1), (x2,y1), (x1,y2) begrenzt wird (Inhalt: ), mit gleichem Ergebnis.
Datenreduktion
Der Gini-Koeffizient ist ein statistisches Maß zur Berechnung der Ungleichheitsverteilung. Solche Maße reduzieren prinzipiell einen mehr oder minder komplexeren Datensatz auf eine einfache Kennzahl. Diese Kennzahl kann zu Fehlinterpretationen führen, wenn sie nicht sachgemäß verwendet wird.
Im Fall des Gini-Koeffizienten gibt es beispielsweise zu fast jeder Lorenzkurve mindestens eine andere Lorenzkurve mit exakt dem gleichen Gini-Wert. Diese erhält man durch Spiegelung der ursprünglichen Lorenzkurve an der Linie, die durch die Punkte (0|1) und (1|0) verläuft. Wenn auf 50 %/50 % die Mengen 10 %/90 % zu verteilen sind, ergibt dies die gleiche Lorenzkurve wie die Verteilung der Mengen von 50 %/50 % auf 90 %/10 % der Merkmalsträger. Diese beiden Lorenzkurven sind in Abbildung 1 dargestellt. Ausnahmen sind lediglich Lorenzkurven, die von vornherein symmetrisch zu dieser Linie sind.
Für die beiden unterschiedlichen Kurven ergibt sich ein gemeinsamer Gini-Koeffizient von 0,4.[7] Tatsächlich gibt es zu einem Gini-Koeffizienten (außer bei absoluter Gleich- oder absoluter Ungleichverteilung) sogar unendlich viele mögliche Lorenzkurven. In diesem Punkt gleicht der Gini-Koeffizient jeder anderen Kennzahl, die aus der Akkumulation einer größeren Datenmenge abgeleitet ist. Ungleichverteilungskennzahlen wie der Gini-Koeffizient entstehen aus Aggregation von Daten mit dem Ziel, Komplexität zu reduzieren. Der damit einhergehende Informationsverlust ist also keine unbeabsichtigte Nebenwirkung. Für Komplexitätsreduktionen gilt generell, dass sie erst dann zu einem Nachteil werden, wenn man ihr Zustandekommen und ihre Abbildungsfunktion vergisst.
Fehlerquelle bei Vergleichen
Aussagen, in denen Ungleichheitskoeffizienten miteinander verglichen werden, erfordern eine besonders kritische Überprüfung der Berechnung der einzelnen Koeffizienten. Für einen korrekten Vergleich ist es erforderlich, dass diese Koeffizienten in allen Fällen einheitlich berechnet wurden. Beispielsweise führt die unterschiedliche Granularität der Eingangsdaten zu unterschiedlichen Ergebnissen bei der Berechnung der Ungleichverteilung. Ein mit wenigen Quantilen berechneter Gini-Koeffizient zeigt in der Regel eine etwas geringere Ungleichverteilung an als ein mit mehr Quantilen berechneter Koeffizient, weil im letzteren Fall dank höherer Messauflösung die Ungleichverteilung berücksichtigt werden kann, die innerhalb der Bereiche (d. h. zwischen den Quantilen) im ersten Fall wegen der gröberen Messauflösung unausgewertet bleibt.
In einfachen Worten: Eine höhere Auflösung der Daten liefert (fast immer) eine niedrigere Gleichverteilung.
Siehe auch
Weblinks
- Travis Hale, University of Texas Inequality Project:The Theoretical Basics of Popular Inequality Measures (Theorie mit praktischen Beispielen; MS Word; 1,6 MB), Beispiel 1B
- Rechner (Ungleichverteilung): online und herunterladbare Skripte und Macros (für Python, Lua und OpenOffice.org 2.0 Calc)
- E-Learning-Video: Lorenzkurve und Gini-Koeffizient
- World Income Inequality Database der Universität der Vereinten Nationen
Einzelnachweise
- Eurostat-Website (Memento vom 4. Dezember 2016 im Internet Archive)
- Breiman, L. and Friedman, JH and Olshen, RA and Stone, CJ: Classification and regression trees. Chapman and Hall, New York 1984.
- Leitfadenreihe zum Kreditrisiko: Ratingmodelle und -validierung, Österreichische Nationalbank und Finanzmarktaufsicht, 2004. Archivlink (Memento vom 4. Dezember 2011 im Internet Archive)
- P. J. Lambert (2001): The Distribution and Redistribution of Income. Manchester University Press, S. 31ff.
- Ochmann, R. und A. Peichl (2006): Measuring Distributional Effects of Fiscal Reforms. Finanzwissenschaftliche Diskussionsbeiträge Nr. 06-9, Finanzwissenschaftliches Forschungsinstitut an der Universität zu Köln.
- On-Line-Rechner: Ungleichverteilung
- Vergleich: www.umverteilung.de/rechner/?quantiles=50,10|50,90 (blaue Kurve) und www.umverteilung.de/rechner/?quantiles=90,50|10,50 (rote Kurve)