Geodätischer Effekt

Der geodätische Effekt o​der die geodätische Präzession, n​ach Willem d​e Sitter a​uch de-Sitter-Effekt bzw. de-Sitter-Präzession genannt, i​st ein Effekt d​er allgemeinen Relativitätstheorie a​uf die Rotationsachse e​ines Kreisels a​uf einer Umlaufbahn i​m Schwerefeld e​iner zentralen Masse. Man beobachtet d​ie Präzession e​ines im Gravitationsfeld f​rei fallenden Kreisels,[1] e​s gibt d​azu keine klassische Entsprechung.[2] Da dieser Effekt v​on der newtonschen Theorie n​icht vorausgesagt wird, i​st er e​in Test d​er allgemeinen Relativitätstheorie.

Der e​twas kleinere Lense-Thirring-Effekt w​irkt ebenfalls a​uf die Rotationsachse e​ines Kreisels, h​at aber s​eine Ursache i​n der Rotation d​er zentralen Masse.[3] Der geodätische Effekt dagegen erklärt s​ich allein a​us dem Vorhandensein d​er zentralen Masse. Beide Effekte zusammen ergeben d​ie allgemeinrelativistische Gesamtwirkung.

Theoretischer Hintergrund

Das äußere Schwerefeld einer zentralen Masse wird in der allgemeinen Relativitätstheorie durch die Schwarzschild-Metrik beschrieben, das heißt, in 4-dimensionalen Kugelkoordinaten hat man die Metrik

Dabei steht für die Lichtgeschwindigkeit und für den Schwarzschild-Radius der zentralen Masse, also , wobei die Gravitationskonstante und die Masse des felderzeugenden zentralen Körpers ist. In manchen Darstellungen werden sogenannte natürliche Einheiten verwendet, d. h., es ist und oft auch gesetzt, was wir hier aber nicht tun wollen.

Für den relativistischen Drehimpulsvektor gilt bei ausschließlicher Wirkung der Gravitation die Bewegungsgleichung

     bzw.      ,

wobei für die kovariante Ableitung nach der Eigenzeit steht, deren Nullsetzung gerade die Abwesenheit anderer Kräfte ausdrückt. Bei der Rückübersetzung auf gewöhnliche Ableitungen erscheinen wegen der Raumzeitkrümmung wie üblich die Christoffel-Symbole , die sich aus der Metrik und deren Ableitungen zusammensetzen (siehe Artikel Christoffel-Symbol). schließlich ist die Vierergeschwindigkeit des frei fallenden Kreisels.

Betrachtet man eine Kreisbahn in der Ebene , so ist mit einer Konstanten . Man beachte, dass wegen der Wahl der 4-dimensionalen Kugelkoordinaten die letzte Komponente die zeitliche Änderung von ist, also die Winkelgeschwindigkeit des Körpers. Ferner verschwinden für eine Bahn in dieser Ebene viele der Christoffel-Symbole, was die Bewegungsgleichungen erheblich vereinfacht. Letztlich führt die Lösung dieser Gleichungen auf einen -Vektor, der sich periodisch mit einer Kreisfrequenz ändert, die sich in erster Näherung bzgl. Potenzen von zu

ergibt. Nach der vollen Umlaufzeit hat der Spinvektor nach obiger Formel für also nicht die Ausgangsstellung erreicht, vielmehr entsteht eine Phasendifferenz von

,

wobei im letzten Schritt die Taylorreihe nach dem linearen Glied abgebrochen wurde. Dies ist die geodätische Präzession pro Umlauf.[4]

Experimentelle Bestätigung

Die geodätische Präzession des Mondes

Wenn man das Erde-Mond-System als Kreisel betrachtet, der die Sonne umläuft, dann muss der geodätische Effekt einen Einfluss auf die Rotationsebene dieses Kreisels, das heißt auf die Ebene der Mondbahn, haben. Das hat bereits 1916 de Sitter erkannt und einen Effekt von ca. 2 Bogensekunden pro Jahrhundert vorhergesagt. Setzt man in obiger Formel den Schwarzschild-Radius der Sonne ein sowie , das ist der Abstand Erde-Sonne, das heißt der Abstand des betrachteten Kreisels von der Zentralmasse, und multipliziert das mit 100, so erhält man, wie de Sitter, ca. 2 Bogensekunden. Das ist zwar um viele Größenordnungen geringer als der Einfluss der anderen Planeten (eine volle Präzession nach 18,6 Jahren), aber mittels LLR-Daten, die eine zentimetergenaue Vermessung der Mondbahn erlauben, konnte dieser Effekt mit einer Abweichung von höchstens 0,6 % nachgewiesen werden.[5][6]

Gravity-Probe-B-Experiment

Mit Hilfe eines in die Erdumlaufbahn gebrachten Satelliten, der mit hochpräzisen Gyroskopen ausgestattet war, konnte der geodätische Effekt im Rahmen des Gravity-Probe-B-Experiments mit einer Genauigkeit von bestätigt werden.[5]

PSR J1915+1606

Das System PSR J1915+1606 (eine ältere Bezeichnung i​st PSR B1913+16) i​st ein Doppelsternsystem, d​as aus z​wei Neutronensternen besteht. Dadurch, d​ass die Rotationsachsen n​icht senkrecht a​uf der Bahnebene stehen, k​ommt es a​uch hier z​u einer geodätischen Präzession. Diese schlägt s​ich in d​er Änderung d​es Pulsarspins u​nd damit d​es empfangenen Strahlungsprofils nieder. Die Beobachtungen s​ind mit d​er geodätischen Präzession verträglich. Umgekehrt lassen d​ie beobachteten Größen Rückschlüsse a​uf ein geometrisches Modell v​on PSR PSR J1915+1606 zu. Eine Vorhersage d​es Modells ist, d​ass dieses System a​b 2025 n​icht mehr beobachtbar s​ein wird, d​a der Strahlungskegel d​ann nicht m​ehr die Erde trifft.[7]

Einzelnachweise

  1. Torsten Fließbach: Allgemeine Relativitätstheorie. Springer, 2016, ISBN 978-3-662-53105-1, Kapitel 29: Geodätische Präzession.
  2. Wolfgang Rindler: Relativitätstheorie: Speziell, Allgemein und Kosmologisch. Wiley VHC, 2006, ISBN 978-3-527-41173-3, Kapitel 11.13: de-Sitter-Präzession mittels rotierender Koordinaten.
  3. Matthias Bartelmann, Björn Feuerbacher, Timm Krüger, Dieter Lüst, Anton Rebhan, Andreas Wipf: Theoretische Physik. Springer, 2015, ISBN 978-3-642-54617-4, S. 345: Geodätische Präzession und Lense-Thirring-Effekt
  4. Torsten Fließbach: Allgemeine Relativitätstheorie. Springer, 2016, ISBN 978-3-662-53105-1, Kapitel 29: Geodätische Präzession (Die Rechnungen in diesem Lehrbuch sind etwas allgemeiner gehalten, im Artikel wird nur die Schwarzschild-Metrik behandelt).
  5. Clifford M. Will: The Confrontation between General Relativity and Experiment. Kapitel 4.4.2. Geodetic Precession, arxiv:1403.7377.
  6. Jürgen Müller, Liliane Biskupek, Franz Hofmann, Enrico Mai: Lunar Laser Ranging and Relativity. In Frontiers in Relativistic Celestial Mechanics. de Gruyter, 2014, ISBN 978-3-11-034545-2, Kapitel 4.4. Geodesic Precession.
  7. Michael Kramer: Determination of the Geometry of the PSR B1913+16 System by Geodetic Precession. In: The Astrophysical Journal. Band 509, Nr. 2, 20. Dezember 1998, S. 856–860, doi:10.1086/306535.
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