Ethnographische Fotografie
Ethnographische oder anthropologische Fotografie bezeichnet eine Anwendung der wissenschaftlichen Fotografie zur Unterstützung oder Ergänzung ethnographischer/ethnologischer beziehungsweise anthropologischer Feldforschungen.
Geschichte und Entwicklung
Die Ursprünge der ethnografischen Fotografie finden sich in der Reisefotografie, die sich bereits in den ersten Jahren der Fotografie entwickelt, Zitat: „Die koloniale Durchdringung der überseeischen Welt und die neuen Verkehrsmittel setzten ab Mitte des vorigen Jahrhunderts verschiedene Reisende in den Stand, ihre wissenschaftlichen, geschäftlichen oder auch nur touristischen Reisen zu verwirklichen. Dabei gehörte für viele die fotografische Ausrüstung zum unverzichtbaren Bestandteil ihres Gepäcks“ (Theye 1989).[1]
Frühe anthropologische Fotografien finden sich bereits 1872 in Charles Darwins Buch The Expression of Emotion in Man and Animals, das einige Bilder von Oscar Gustave Rejlander enthält. Ebenfalls in diese Zeit fallen die zahlreichen Expeditionen zur Erkundung der westlichen Territorien der USA sowie des Nahen und Mittleren Ostens – also in die Region des heutigen Israels, Palästinas, Syriens und Ägyptens sowie des indischen Subkontinents – und der Kolonien; auf diesen Fernreisen wurden nicht nur die menschlichen Artefakte fotografisch festgehalten, sondern auch die Sitten und Gebräuche der (Ur-)Einwohner dokumentiert.
Beispielsweise fotografierte der Brite Ludovico Wolfgang Hart 1864 für das Mappenwerk Galerie universelle des peuples (Straßburg, Paris, London 1865) im Elsaß, in Baden, in Württemberg und in der Schweiz, sowie 1865 im Libanon, Syrien und Ägypten. Der Brite John Thomson fotografierte Anfang der 1870er Jahre in Kambodscha, Malaya und China; er veröffentlichte eine Auswahl seiner Fotografien in dem vierbändigen Werk Illustrations of China and Its People (London 1873). Die 1882–1883 entstandene Sophus-Tromholt-Sammlung zur Kultur der Sámi in Norwegen gehört seit 2013 zum Weltdokumentenerbe. In den USA fotografierte der Buchhändler Adam Clark Vroman zwischen 1895 und 1904 eine Dokumentation über die Indianer des amerikanischen Südwestens.
Als anspruchsvollste ethnographische Fotodokumentation der Jahrhundertwende gilt jedoch das Lebenswerk Edward S. Curtis’, der mit finanzieller Unterstützung des Bankiers John Pierpont Morgan die Monografie The North American Indian schuf, die aus jeweils zwanzig Text- und Bildbänden mit Fotogravüren besteht und zwischen 1907 und 1930 veröffentlicht wurde.
Gemeinsames Kennzeichen dieser frühen anthropologischen und ethnografischen Fotografie ist der Glaube an die Präzision und die unzweifelhafte Genauigkeit der Fotografie – Skepsis gegenüber dem Wahrheitsgehalt der Fotografie kommt erst später auf.
- „Die Fülle an Abbildungen in wissenschaftlichen Berichten um die Jahrhundertwende steht in deutlichem Gegensatz zu heutigen ethnologischen Publikationen, in denen Beweise und Belege eher durch Diagramme, Kurven und statistische Zahlenangaben geliefert werden“ (Markus Schindlbeck: Die ethnographische Linse – Photographien aus dem Museum für Völkerkunde Berlin, 1989, S. 9).
Zu den neueren Vertretern einer kritischen ethnographischen Fotografie zählt beispielsweise Claude Lévi-Strauss, der seinen Bericht Traurige Tropen über die Indianervölker in Brasiliens Mato Grosso mit zahlreichen Fotografien illustrierte.
Siehe auch
- Dokumentarfotografie
- reflexive Fotografie (Mittel bei Interviews)
- ethnologischer Film (Völkerkunde)
- ethnographisches Interview (Völkerbeschreibung)
- Multispezies-Ethnographie (Erweiterung der Ethnographie um Tiere und belebte und unbelebte Natur)
Literatur
- Banks, Marcus; Morphy, Howard (Hrsg.): Rethinking Visual Anthropology. New Haven: Yale University Press 1999. ISBN 978-0-300-07854-1
- Collier, Malcom et al.: Visual Anthropology. Photography As a Research Method. University of Mexico 1986. ISBN 978-0-8263-0899-3
- Edwards, Elisabeth (Hrsg.): Anthropology and Photography 1860-1920. New Haven, London 1994, Nachdruck. ISBN 978-0-300-05944-1
- Engelke, Henning: Dokumentarfilm und Fotografie. Bildstrategien in der englischsprachigen Ethnologie 1936–1986. Mann, Berlin 2007, ISBN 978-3-7861-2546-4.
- Gürge, Peter: Kulturwissenschaftliches Filmen im Umbruch. Die Filmarbeit von Edmund Ballhaus. Norderstedt 2000, ISBN 978-3-8391-0616-7
- Husmann, Rolf (Hrsg.): Mit der Kamera in fremden Kulturen. Aspekte des Films in Ethnologie und Volkskunde. Emsdetten: Gehling 1987. ISBN 978-3-89049-008-3
- Krech, Hartmut: Lichtbilder vom Menschen. Vom Typenbild zur anthropologischen Fotografie. In: Fotogeschichte. 4/1984, Heft 14. Volltext (HTML)
- Krech, Hartmut: Ein Bild der Welt. Die Voraussetzungen der anthropologischen Photographie. (Dissertation, Universität zu Köln, 1984). Konstanz: Hartung-Gorre Verlag, 1989. Vorwort und Einführung (HTML)
- Lederbogen, Jan: Fotografie als Völkerschau. In: Fotogeschichte, Jg. 6, Heft 22, 1986, S. 47–64.
- Mead, Margaret: Anthropology and the camera. In: Morgan, Willard D. (Hg.): Encyclopedia of photography. New York 1963.
- Pink, Sarah: Doing Visual Ethnography: Images, Media and Representation in Research. London: Sage Publications Ltd. 2006. ISBN 978-1-4129-2348-4
- Pinney, Christopher: Photography and Anthropology. London: Reaktion Books 2011. ISBN 978-1-86189-804-3
- Scheurer, Hans J.: Zur Kultur- und Mediengeschichte der Fotografie. Die Industrialisierung des Blicks. Köln: DuMont 1991. ISBN 978-3-7701-2108-3
- Jürg Schneider, Ute Röschenthaler, Bernhard Gardi, Hrsg.: Fotofieber: Bilder aus West- und Zentralafrika. Die Reisen von Carl Passavant 1883-1885. Christoph Merian Verlag, Museum der Kulturen, Basel 2005, ISBN 3-85616-251-8 (Rezension auf msu.edu).
- Henrick Stahr: Fotojournalismus zwischen Exotismus und Rassismus – Darstellungen von Schwarzen und Indianern in Foto-Text-Artikeln deutscher Wochenillustrierter 1919-1939. Kovac, Hamburg 2004, ISBN 3-8300-1450-3 (Rezension auf msu.edu, Rezension auf hsozkult.de).
- Steiger, Ricabeth: Fotos schaffen neue Bilder. Über die Nützlichkeit der Fotografie in der Ethnologie. In: Brauen, Martin (Hg.): Fremden-Bilder. Eine Publikation zu den Ausstellungen Frühe ethnographische Fotografie; Die exotische Bilderflut. Völkerkundemuseum Zürich 1982.
- Thomas Theye (Hrsg.): Der geraubte Schatten – Die Photographie als ethnographisches Dokument. Münchner Stadtmuseum, München 1989, ISBN 978-3-7658-0646-9 (Einführung als Volltext auf lmz-bw.de: PDF, 684 kB).
- Wiener, Michael: Ikonographie des Wilden. Menschen-Bilder in Ethnographie und Photographie zwischen 1850 und 1918. Trickster, München 1990, ISBN 978-3-923804-44-3.
Beispiele für anthropologische und ethnografische Fotografie:
- Claude Lévi-Strauss: Traurige Tropen. Suhrkamp, Frankfurt/M. 1978, ISBN 3-518-06736-2 (französische Erstausgabe 1955: Tristes Tropiques).
- Carol Beckwith, Angela Fisher: Afrika – Kulte, Feste, Rituale (2 Bände).
Weblinks
- Birgit Glindmeier: Zur Synthese von Fotografien und Texten in ausgewählten ethnologischen Monographien. – Eine vergleichende Betrachtung der Bild-Text-Beziehung in The Nuer und Witchcraft, Oracles and Magic among the Azande von E. E. Evans-Pritchard. (PDF: 2,1 MB, 176 Seiten.) Magisterarbeit, Institut für Ethnologie und Afrikastudien, Universität Mainz 2002, abgerufen am 17. November 2018.
- Peter Gürge: Kulturwissenschaftliches Filmen im Umbruch – Die Filmarbeit von Edmund Ballhaus. (PDF: 3,1 MB, 512 Seiten.) Doktorarbeit, Universität Mainz 2000, abgerufen am 17. November.
Einzelnachweise
- Thomas Theye: Eine Weltreise im Spiegel der ethnographischen Photographie. In: Derselbe (Hrsg.): Der geraubte Schatten – Die Photographie als ethnographisches Dokument. Münchner Stadtmuseum, München 1989, ISBN 978-3-7658-0646-9, S. 25.