Diabetes renalis
Als Diabetes renalis wird eine Funktionsstörung der Niere bezeichnet, die durch eine dauerhafte Ausscheidung von Glucose im Urin (Glucosurie) bei normaler Glucosetoleranz und nicht erhöhtem Blutzuckerspiegel gekennzeichnet ist. Synonyme Namen sind renale Glucosurie sowie, weniger gebräuchlich, Diabetes innocens, Diabetes innocuus, Nierendiabetes, Nierenharnruhr und normoglykämische Glucosurie.
Klassifikation nach ICD-10 | |
---|---|
E74.8 | Sonstige näher bezeichnete Störungen des Kohlenhydratstoffwechsels |
R81 | Glucosurie |
ICD-10 online (WHO-Version 2019) |
Das Symptombild des Diabetes renalis wurde erstmals 1895 beschrieben. Der Schweizer Kinderarzt Guido Fanconi prägte für diese Form der Störung des Kohlenhydratstoffwechsels 1931 die Bezeichnung Familiäre renale Glucosurie. Neben dem angeborenen Diabetes renalis gibt es darüber hinaus auch erworbene und vorübergehende Formen. Da diese Störung im Regelfall nahezu symptomlos und damit für die Patienten beschwerdefrei bleibt und keine Spätfolgen bekannt sind, ist eine Therapie im Regelfall nicht notwendig.
Verbreitung
Zu Prävalenz und Inzidenz des primären und des sekundären Diabetes renalis gibt es keine verlässlichen Daten. Horst Bibergeil nennt in einer älteren Veröffentlichung eine Schätzung von 0,3 Prozent zur Häufigkeit der familiären Form,[1] vorrangig betroffen ist nach diesen Angaben die Altersgruppe von 18 bis 49 Jahren. Dies ist jedoch möglicherweise, aufgrund des meist symptomlosen Verlaufs, auch auf eine späte Diagnose im Rahmen einer Routineuntersuchung zurückzuführen. Männer sind häufiger betroffen als Frauen.
Ursache und Krankheitsentstehung
Primäre Formen
Ursache des primären beziehungsweise familiären Diabetes renalis, also der nicht als Folge anderer Erkrankungen entstehenden Form, ist eine vererbte Störung der Rückresorption der Glucose in der Niere. Die Blutglucose, die bei der Bildung des Harns in der Niere zunächst über die Glomeruli in den Primärharn gelangt, wird aus diesem im Normalfall vollständig aktiv zurückresorbiert und dem Blutstrom wieder zugeführt. Die Reabsorption geschieht dabei in den proximalen Tubuluszellen. Eine Störung dieser Reabsorption der Glucose in den Nieren kann entweder autosomal unvollständig rezessiv vererbt werden und damit angeboren sein (familiäre Form des Diabetes renalis), oder sie beruht auf erworbenen Veränderungen der Nierenfunktion. Als physiologische Basis gibt es zwei Möglichkeiten, und zwar zum einen eine eingeschränkte Funktion der Glucosetransporter in der Niere mit einer verringerten Reabsorption für Glucose (verminderte maximale Glucosetransportkapazität) und zum anderen eine Verringerung der Nierenschwelle für Glucose mit einer gesteigerten Abgabe von Glucose in den Urin (normale maximale Glucosetransportkapazität)
Nach Reubi kann unterschieden werden zwischen einem Typ A, dem gleichzeitigen Vorliegen beider Störungen, und einem Typ B, dem alleinigen Vorliegen einer verringerten Nierenschwelle bei normaler Reabsorptionsrate. Diese Unterscheidung wird jedoch von einigen Autoren in Frage gestellt. Als Typ 0 wurde eine bisher erst einmal beschriebene Form bezeichnet, die durch ein völliges Fehlen der Reabsorption gekennzeichnet ist.[2] Für die autosomal unvollständig rezessiv vererbte Form des Diabetes renalis ist eine Mutation des Gens für den Natrium-Glucose-Cotransporter SGLT2 in der Niere identifiziert worden.[3] Weitere Untersuchungen haben ergeben, dass das Ausmaß der Glucosurie wahrscheinlich von der Art und der Lage der Mutation sowie vom Vorliegen der Mutation in homozygoter oder heterozygoter Form abhängt.
Sekundäre Formen
Beim sekundären Diabetes renalis, also der erworbenen Form, liegt meist eine Absenkung der Nierenschwelle vor. Zu unterscheiden ist dabei einerseits zwischen vorübergehend bestehenden Zuständen und andererseits einer dauerhaft erhöhten Glucoseausscheidung als Begleiterscheinung anderer Erkrankungen.
Eine vorübergehende Form des Diabetes renalis kann beispielsweise bei einer Schwangerschaft auftreten und wird dann auch als Schwangerschaftsglucosurie bezeichnet.[4] Als Ursache gilt hier ein schwangerschaftsbedingter Anstieg der Nebennierenhormone. Eine vorübergehende renale Glucosurie wurde darüber hinaus als mögliche Begleiterscheinung einer Erkrankung an Tetanus[5] sowie bei Nierentransplantationen[6] beschrieben. Auch das Vorliegen einer vorübergehenden Glucosurie bei Neugeborenen ist weit verbreitet.
Eine mögliche Ursache eines dauerhaft bestehenden sekundären Diabetes renalis ist eine akute oder chronische Entzündung der Niere. Weitere Erkrankungen oder Zustände, bei denen eine Glucosurie vorübergehend oder dauerhaft als Symptom auftreten kann, sind beispielsweise Akromegalie, Morbus Cushing, Hyperthyreose, Phäochromozytom, Tumoren der Alpha-Zellen der Langerhansschen Inseln, Herzinfarkt, Pankreatitis, Lungenentzündung, Bluthochdruck, Leberzirrhose, Morbus Wilson, Erkrankungen beziehungsweise Verletzungen des zentralen Nervensystems, Fanconi-Syndrom, diverse Nephropathien, Vergiftungen, länger anhaltende Fastenzustände sowie akuter oder chronischer Sauerstoffmangel.[1] Die spezifische Abgrenzung gegenüber einem primären Diabetes renalis erfolgt in diesen Fällen durch eine entsprechende Differentialdiagnose.
Klinische Erscheinungen
Die Feststellung eines Diabetes renalis ist häufig ein Begleitbefund anderer Untersuchungen, da beim alleinigen Vorliegen dieser Störung in der Mehrzahl der Fälle keine klinisch bedeutsamen Symptome bestehen. Das Auftreten einer erhöhten Urinausscheidung (Polyurie) und eines gesteigerten Durst- und Hungergefühls (Polydipsie und Polyphagie) ist möglich. Ein Diabetes renalis kann, meist bei körperlicher Belastung, aufgrund der erhöhten Glucoseausscheidung gelegentlich auch einen verringerten Blutzuckerspiegel bewirken und somit vorübergehend Symptome einer milden Unterzuckerung (Hypoglykämie) auslösen. Etwa zehn bis zwölf Prozent der Betroffenen leiden gelegentlich unter Atemnot (Dyspnoe), Schwäche, Nervosität, Müdigkeit oder einem Engegefühl im Brustkorb (Stenokardie).
Untersuchungsmethoden
Wichtigstes diagnostisches Merkmal des Diabetes renalis ist der Nachweis einer dauerhaften Ausscheidung von Glucose im Urin. Kennzeichnend für den Diabetes renalis ist dabei die Konstanz der Glucosurie, weitestgehend unabhängig von Nahrungsaufnahme, körperlicher Belastung oder der Gabe von Insulin beziehungsweise von oralen Antidiabetika. Zur Differentialdiagnose (Abgrenzung) gegenüber einem Diabetes mellitus, bei dem eine Glucosurie ebenfalls als Symptom auftreten kann, dient ein oraler Glukosetoleranztest, der beim Vorliegen eines Diabetes renalis normal ausfällt.[1] Auch eine Familienanamnese kann bei der Diagnose hilfreich sein. Zur Abgrenzung gegenüber anderen Störungen der Nierenfunktion ist die Bestimmung der Ausscheidungrate von anderen Substanzen, die an den proximalen Tubuli reabsorbiert werden, möglich.
Der ICD-10-Code für den Diabetes renalis lautet E74.8, zusammen mit Essentieller Pentosurie, Oxalose und Oxalurie als „Sonstige näher bezeichnete Störungen des Kohlenhydratstoffwechsels“. Der Code für eine Glucosurie unklarer Ursache ist R81.
Behandlung und Heilungsaussicht
Beim isolierten Vorliegen eines Diabetes renalis ist aufgrund des Fehlens von klinisch relevanten Auswirkungen eine spezifische Therapie meist nicht notwendig. Eine kausale (ursächliche) Behandlung ist ebenso wenig verfügbar wie eine symptomatische Behandlung, die auf das Leitsymptom der erhöhten Urinausscheidung ausgerichtet ist. Therapeutische Maßnahmen beschränken sich deshalb auf die Sekundärsymptome wie beispielsweise das gelegentliche Auftreten einer Unterzuckerung oder einer Atemnot in Situationen, in denen diese ein behandlungsbedürftiges Ausmaß erreichen.
Für den Diabetes renalis sind keine Langzeitfolgen bekannt, so dass im Allgemeinen von einem milden (benignen) Verlauf ohne eine fortschreitende Verschlechterung (Progredienz) ausgegangen wird. Die Höhe der Glucosurie kann im Laufe des Lebens sogar abnehmen, da es zu einem auch bei gesunden Menschen auftretenden Anstieg der Nierenschwelle kommen kann. Beim Vorliegen eines milden Diabetes renalis ohne das Auftreten von weiteren Symptomen wie Polyurie, Polydipsie, Polyphagie und Hypoglykämie wird aus diesen Gründen eine Relevanz als Krankheit teilweise in Frage gestellt.
Ein Übergang eines Diabetes renalis in einen Diabetes mellitus ist in der Literatur mehrfach in Form von Fallbeschreibungen dokumentiert. Ob allerdings das Vorliegen eines Diabetes renalis generell mit einem erhöhten Risiko verbunden ist, später an einem Diabetes mellitus zu erkranken, ist nicht gesichert. Eine diesbezügliche Langzeit-Verlaufsstudie erbrachte keine entsprechenden Hinweise.[7]
Literatur
- Ole Gøtzsche: Renal Glucosuria and Aminoaciduria. In: Acta Medica Scandinavica, Band 202, Nr. 1/2, 1977, ISSN 0001-6101, S. 65–67, doi:10.1111/j.0954-6820.1977.tb16785.x.
- Johannes Brodehl, Barry S. Oemar, Peter F. Hoyer: Renal Glucosuria. In: Pediatric Nephrology, Band 1, Nr. 3, 1987, S. 502–508, doi:10.1007/BF00849261.
- Manuel Serrano Ríos: Renal Diabetes (Primary Renal Glycosuria): A Short Overview. In: Verhandlungen der Deutschen Gesellschaft für Innere Medizin, Band 93, 1987, ISSN 0070-4067, S. 512–517, doi:10.1007/978-3-642-85460-6_130.
Weblinks
- eMedicine – Renal Glucosuria (englisch)
- RENAL GLUCOSURIA; GLYS1. In: Online Mendelian Inheritance in Man. (englisch)
Einzelnachweise
- Dietrich Michaelis: Differentialdiagnose des Diabetes mellitus. Abschnitt 7.3.1: Diabetes renalis (familiäre Glukosurie). (S. 193–194) und Abschnitt 7.3.2: Begleitglukosurien bei endokrinen und organischen Erkrankungen. (S. 194–195). In: Horst Bibergeil (Hrsg.): Diabetes mellitus. Ein Nachschlagewerk für die diabetologische Praxis. 3., erweiterte, neugestaltete Auflage. VEB Gustav Fischer Verlag, Jena 1989, ISBN 3-334-00087-7.
- Sabine Scholl-Bürgi, René Santer, Jochen H. H. Ehrich: Long-term outcome of renal glucosuria type 0: the original patient and his natural history. In: Nephrology Dialysis Transplantation, Band 19, Nr. 9, 2004, ISSN 0931-0509, S. 2394–2396, doi:10.1093/ndt/gfh366.
- Lambert P. van den Heuvel, Karin Assink, M. Willemsen, Leo Monnens: Autosomal recessive renal glucosuria attributable to a mutation in the sodium glucose cotransporter (SGLT2). In: Human Genetics, Band 111, Nr. 6, 2002, ISSN 0340-6717, S. 544–547, doi:10.1007/s00439-002-0820-5.
- Willy Weiya Chen, Linda Sese, Prayuth Tantakasen, Vincent Tricomi: Pregnancy associated with renal glucosuria. In: Obstetrics & Gynecology, Band 47, Nr. 1, 1976, ISSN 0029-7844, S. 37–40, online.
- Gholam-Reza Rezaian, Parviz Khajehdehi, Shohreh Beheshti: Transient Renal Glucosuria in Patients with Tetanus. In: Nephron, Band 80, Nr. 3, 1998, ISSN 0028-2766, S. 292–295, doi:10.1159/000045189.
- Antonio Secchi, Aoumeur Hadj-Aissa, Nicole Pozet, Jean Louis Touraine, Guido Pozza, Jean M. Dubernard, Jules Traeger: Renal glucose transport after kidney transplantation. In: European Journal of Clinical Investigation, Band 14, Nr. 2, 1984, ISSN 0014-2972, S. 142–145, doi:10.1111/j.1365-2362.1984.tb02103.x.
- Ten-year follow-up report on Birmingham Diabetes Survey of 1961. Report by the Birmingham Diabetes Survey Working Party. In: British Medical Journal. Band 2, Nr. 6026, 1976, S. 35–37, JSTOR 20410465.