Caroline Heigelin
Carolina Johanna Christiana Scheffauer, geb. Heigelin (* 25. Januar 1768 in Stuttgart; † 26. Januar 1808) war die Ehefrau des Bildhauers Philipp Jakob Scheffauer und eine Patientin des Heilbronner Arztes Eberhard Gmelin. Der Fall der „Caroline H.“ war im Jahr 1791 Gegenstand der ersten medizinischen Beschreibung des Phänomens der doppelten Persönlichkeit. Spekuliert wurde darüber, ob Caroline Heigelin das Urbild des Käthchens von Heilbronn war.
Leben
Carolina Johanna Christiana Scheffauer, geb. Heigelin, war eine Tochter des „Goldarbeiters“ (Goldschmieds) und späteren Taxators und Hofjuweliers Johann Eberhard Heigelin, geb. Stuttgart 14. Januar 1734, dort gest. 3. Juli 1812, und von dessen Ehefrau (Hochzeit Stuttgart 27. Mai 1764) Christiane Friederike, geb. Stritter, geb. Stuttgart 21. September 1745, gest. 2. September 1778. Eberhard Heigelin war Zunftvorsteher (Vorsteher der Goldarbeiterprofession, Goldarbeiter-Vorsteher), mindestens seit März 1789, noch 1793.
Sie verlobte sich mit Philipp Jakob Scheffauer, geb. Stuttgart 7. Mai 1756, gest. 13. November 1808, den sie am 25. Januar 1791 heiratete, nachdem er seinen mehrjährigen Studienaufenthalt in Paris und Rom beendet hatte und 1790 Professor an der Hohen Karlsschule geworden war. Aus der frühen Zeit (um 1793) ihrer Ehe stammt ein Porträt Caroline Scheffauers von der Hand Philipp Friedrich Hetschs, das sich im Besitz der Galerie der Stadt Stuttgart befindet.
Die offenbar glückliche und unbeschwerte Zeit des jungen Ehepaares, dem vier Kinder geboren wurden, endete mit dem Tod des Herzogs Carl Eugen (1793) und der Schließung der Hohen Karlsschule (1794). Scheffauer verlor damit sein Amt als Professor, und auf dem freien Kunstmarkt entwickelte sich der einstige Mitschüler und -student Johann Heinrich Dannecker, gefördert von seinem finanzstarken Schwager Rapp und bewundert von Johann Wolfgang von Goethe, zu einem starken Konkurrenten für den Bildhauer.
Einen Unterstützer fand Scheffauer damals in dem Heilbronner Senator Carl Lang, der zwei Basreliefs für sein Schwäbisches Industrie-Comptoir erwarb und das Stuttgarter Denkmal der Gattenzärtlichkeit und der Volksliebe, das Scheffauer im Auftrag der Herzogin Sophia Dorothea geschaffen hatte, in einer Festschrift bekannt machte. Diese Schrift wurde von Carl Rahl verfasst und mit einem Widmungstitel von Nikolaus Thouret versehen. Sie kam 1797 in Heilbronn heraus.[1] – Ob eine private Beziehung zwischen dem Ehepaar Scheffauer und Carl Lang bestand, ist nicht eindeutig geklärt. Es existiert ein Gedicht Carl Langs, das diese Annahme stützt. Möglicherweise war auch Eberhard Gmelin ein gemeinsames Gesprächsthema, da Langs Schwestern ebenso wie Caroline Scheffauer sich einmal in Behandlung dieses Arztes und Magnetiseurs befunden hatten. Einen weiteren Berührungspunkt könnte der ehemalige Karlsschüler Friedrich Schiller dargestellt haben, der 1793 mit seiner Ehefrau vier Wochen in Heilbronn verbrachte und Gmelin konsultierte. Schiller selbst kritisierte an Gmelin seine „Neigung für das Wunderbare“,[2] veranlasste aber dennoch im Frühjahr 1794 dessen Aufnahme in die von dem Arzt und Botaniker August Johann Georg Karl Batsch 1793 gegründete Naturforschende Gesellschaft zu Jena (Societas physica Jenensis) als Ehrenmitglied; bereits seit 1776 war Gmelin zum Mitglied der Kaiserlichen Akademie der Naturforscher Leopoldina gewählt worden.
Erst als Friedrich II. 1797 an die Macht kam, erhielt Scheffauer wieder zahl- und umfangreichere Aufträge. Friedrich II. ließ ihn mehrere Privaträume seiner Schlösser Stuttgart, Ludwigsburg und Monrepos ausschmücken. Der Markgraf von Baden orderte Porträts von sich selbst und seiner Ehefrau;[3] der Kronprinz von Bayern gab eine Büste Johannes Keplers in Auftrag.[4]
Caroline Scheffauer starb 1808 im Alter von 40 Jahren an der Schwindsucht; ihr Gatte lebte nur etwa zehn Monate länger und fiel ebenfalls einem Lungenleiden zum Opfer. Das Grab des Ehepaars befindet sich auf dem Stuttgarter Hoppenlaufriedhof und ist mit einem Grabmal von Antonio Isopi geschmückt. Der Arzt Eberhard Gmelin, der Caroline Heigelins Fall bekannt machte, überlebte seine einstige Patientin nur um ein gutes Jahr und starb im März 1809. Seine Witwe orderte den Grabstein bei Scheffauers Konkurrenten Dannecker.
Der Fall Caroline H.
Im Herbst 1789 erkrankte die junge Caroline Heigelin an einem rheumatischen Fieber, in dessen Folge sich ihre Persönlichkeit spaltete. Täglich erlebte sie eine Krankheitsphase, in der sie sich als Französin fühlte, die vor den Unruhen der Französischen Revolution nach Stuttgart geflohen war und dort im Gasthof „Römischer Kaiser“ wohnte. Caroline Scheffauer sprach in diesen Phasen ausschließlich französisch, erkannte ihre Familie und Bekannte nicht wieder und beweinte ihr Schicksal als heimatlose Emigrantin; außerdem litt sie unter starken körperlichen Schmerzen und verlangte nach einem Arzt, der sie davon befreite. Wenn sie in ihr eigentliches Ich zurückkehrte, konnte sie sich an diese Anfälle nicht mehr erinnern. Beunruhigt durch die Berichte ihrer Familie über das Leiden, stimmte sie jedoch einer magnetischen Kur zu.
Caroline Heigelin wurde von ihrem Onkel Marcell Friedrich Heigelin, einem Herzoglich Württembergischen Hofrat, der seinen Wohnsitz in Heilbronn hatte, mit dem dortigen Stadtarzt Eberhard Gmelin bekannt gemacht.[5] Zwei Jahre nach der Behandlung, die von dem Stuttgarter Arzt Johann Georg Hopfengärtner und dessen Sohn verfolgt und nach zwei Tagen übernommen und dokumentiert wurde, veröffentlichte Gmelin seinen Krankenbericht zu ihrem Fall im ersten Band seiner Materialien für die Anthropologie. Er nannte seine Patientin dort nicht mit vollem Namen; die junge Frau ist aber eindeutig zu identifizieren. Die „französischen Zustände“ ließen im Zuge der Behandlung rasch nach, die Schmerzen klangen ab und schließlich konnte die Patientin als geheilt bezeichnet werden.
Eberhard Gmelin publizierte von 1787 bis 1793 seine Kranken- und Untersuchungsberichte, die im Zeitalter der Romantik nicht nur Naturforscher, sondern auch Dichter und Schriftsteller wie Heinrich von Kleist, Jean Paul, E. T. A. Hoffmann und Justinus Kerner inspirierten.
In seinem Bericht über „Caroline H.“, der zum Teil auf den Aufzeichnungen Hopfengärtner juniors beruht, erläuterte Gmelin, dass die eigentliche Persönlichkeit der Patientin zu „erlöschen“ schien und stattdessen „ein neues Ich und eine neue Persönlichkeit etablirt“ wurde. Er ließ sich auch über die Ursachen aus: Im Sommer 1789 war das Geschehen in Paris in Stuttgart allgemeines Gesprächsthema und Gegenstand zahlreicher Schriften, die die junge Frau mit Sicherheit gelesen hatte. Außerdem habe Caroline H. viele Flüchtlinge, die tatsächlich häufig im genannten Gasthof Quartier genommen hatten, beobachtet und sich „oft und anhaltend in die Stelle dieser unglücklichen Franzosen“ versetzt, worüber sie „ihre eigenen tief verwurzelten Leiden“ vergessen habe.[6] Ferner habe sie ihren Verlobten sehr vermisst, der sich zu dieser Zeit noch im Ausland befand.
Gmelin versuchte anhand der Beobachtungen, die er an seinen Patienten machte, die Mechanik der menschlichen Seele zu ergründen. Er versuchte zu klären, wie sich das Ich und das Selbst-Bewusstsein bilden, und wie Persönlichkeit entsteht. Insbesondere interessierte ihn auch, welche Auswirkungen physische Veränderungen auf das Ich und die Persönlichkeit haben.
Der Fall Caroline Heigelins brachte ihn zu der Erkenntnis, dass sich hier eine zweite Bewusstseinsschicht gebildet hatte, zu der die Patientin im normalen Zustand keinen Zugang hatte, die aber in Krisenphasen aus dem Unbewussten als „neues Ich“ hervortrat, ohne das andere Ich deswegen zu tilgen. Gmelin gehört mit dieser Entdeckung zu den Pionieren der Tiefenpsychologie und Psychoanalyse.
Johann Christian Reil nahm den Fall Caroline Heigelin mehrfach wieder auf, unter anderem in seinem Buch von 1803.
Der Käthchenstreit
Ein weiteres Mal geriet Caroline Heigelin in den Gesichtskreis der Wissenschaft, als Steven R. Huff die junge Frau als mögliches Urbild des Kleistschen Käthchens identifizierte.[7] Sie steht damit in Konkurrenz zu zwei weiteren Patientinnen Gmelins, die ebenfalls als mögliche „Urkäthchen“ angesehen werden.
Schon Friedrich Dürr stellte fest, dass der Käthchenstoff die Idee des „magnetischen Schlafes“ beinhaltet. Er legte auch dar, auf welchem Weg Kleist von diesen Theorien erfahren haben könnte: Der Dichter habe im Jahr 1808 einen Vortrag in Dresden besucht, in dem Dr. Gotthilf Heinrich Schubert über diesen „magnetischen Schlaf“ berichtete. Schubert stützte sich bei diesem Vortrag unter anderem auf Gmelins Fallbeispiele.
Die Untersuchungen Dürrs ergaben zunächst eine starke Ähnlichkeit des Falls Lisette Kornacher, den Gmelin in seiner Geschichte einer magnetischen Schlafrednerin dargestellt hatte, mit dem Käthchen Kleists. Dieser Identifizierung widersprach jedoch Werner von Froreich,[8] der diverse Unstimmigkeiten aufdeckte: Schubert machte laut seiner eigenen Autobiographie die Bekanntschaft Kleists im Winter 1807/08 und wurde dann von dem Freundeskreis um Otto August Rühle, Ernst von Pfuel, Adam Müller und Kleist aufgefordert, einen Vortrag im Rahmen der Reihe Ansichten von der Nachtseite der Naturwissenschaft zu halten. Diese Veranstaltung, bei der Schubert über Gmelin berichtete, war die dreizehnte in der ganzen Vortragsreihe. Ehe sie stattfand, kam es zu einem Zerwürfnis zwischen Schubert und Adam Müller; mit letzterem wiederum war Kleist privat und geschäftlich (über die Herausgabe des Phöbus) eng verbunden. Froreich argumentierte daher, dass Kleist Schuberts Vortrag wahrscheinlich nach dem Streit zwischen Müller und Schubert gar nicht mehr besucht hat. Andererseits ist bei Schubert jedoch nichts von diesem Streit zu lesen und auch der Illustrator des Phöbus, Christian Ferdinand Hartmann, war auch nach dem Zeitpunkt des angeblichen Zerwürfnisses noch sowohl mit Kleist als auch mit Müller als auch mit Schubert eng befreundet und kehrte sich keineswegs von Schubert ab. Ferner wurden die Vorträge im Haus eines Phöbus-Geldgebers, des Herrn Hans Georg von Carlowitz (1772–1840), abgehalten, was Kleist ebenfalls motiviert haben könnte, sie auf alle Fälle zu besuchen. Froreich selbst gibt aber zu, dass die Frage, ob Kleist den Vortrag besucht hat oder nicht, nicht wirklich bedeutsam ist, da aus Schuberts Autobiographie hervorgeht, dass er auch im privaten Kreis ausgiebig über den Mesmerismus redete und dass „namentlich für Kleist“ „Mittheilungen dieser Art so viel Anziehendes [hatten], daß er gar nicht satt davon werden konnte“.[9]
In seinem Vortrag in Dresden ging Schubert vor allem auf den Fall eines jungen Mädchens ein. Es existieren etliche Abweichungen zwischen Schuberts Darstellung und dem Bericht Gmelins über Lisette Kornacher, etwa hinsichtlich des Alters oder der Sympathie bzw. Antipathie gegenüber der älteren Schwester der Patientin. Christhard Schrenk kam daher zu dem Schluss, dass Schubert bei seinem Vortrag nicht die Gmelin-Patientin Lisette Kornacher in den Vordergrund stellte, sondern ein anderes junges Mädchen. In Gmelins Bericht Untersuchungen über den Th Magnetismus und über die Einfache Behandlungsart ihn nach gewissen Regeln zu leiten und zu handhaben aus dem Jahr 1793 taucht noch eine weitere Patientin jugendlichen Alters auf, die Jungfer Charlotte Elisabethe Zobel (1774–1806), eine zum Zeitpunkt der Behandlung Dreizehnjährige, die damals zwar als gesund galt, jedoch unter heftigem Fußschweiß litt. Die Tochter des Heilbronner Kaufmanns Zobel wurde also von Gmelin magnetisiert und zeigte während der Sitzungen eine deutliche Zuneigung zu ihrer „Frau Schwester“, beantwortete deren Fragen ebenso wie das Käthchen von Heilbronn in der Holunderstrauchszene die des Grafen vom Strahl und teilte körperliche Empfindungen mit ihr, solange sie ihre Hand hielt. Doch auch Gmelins Bericht über die Jungfer Zobel stimmt nicht in allen Details mit Schuberts Darstellung überein; so fehlt z. B. die von Schubert referierte Beobachtung, dass die Magnetisierte den Schmerz fühlte, der einer anderen Person mit einer Nadel zugefügt wurde. Welche Quellen Schubert insgesamt für seinen Vortrag benutzte, ist jedoch nicht zu klären; offenbar stützte er sich auch auf mündliche Mitteilungen. Schrenk kommt zu dem Schluss, dass Schubert die Kornacher-Veröffentlichung möglicherweise überhaupt nicht, jedoch mit Sicherheit die Publikation zur Patientin Zobel gelesen hat, während es bei Dürr umgekehrt gewesen sein könnte.
Er weist jedoch auch darauf hin, dass Schuberts Vortrag über Charlotte Elisabethe Zobel bzw. die Gespräche in Dresden 1807/08 nicht die einzige Quelle Kleists für Mesmersches Gedankengut gewesen sein können. Schon in der Höhlenszene des Schauspiels Die Familie Schroffenstein von 1803 sind Mesmerismusphänomene zu entdecken. Über deren Quelle spekulierte Steven R. Huff ohne eindeutiges Ergebnis. Mesmers Experimente dürften um 1800 jedoch allgemein ein beliebtes Gesprächsthema unter Intellektuellen gewesen sein. Michael Holtermann wies etwa nach, dass auch Goethe sich für diese Phänomene interessierte, dass unter seinen Quellen ebenfalls Gotthilf Heinrich Schubert gewesen sein dürfte und dass die Ottilie in den Wahlverwandtschaften gemeinsame Züge mit Kleists Käthchen aufweist.
Schrenk hält es für möglich, dass Heinrich von Kleist nicht nur durch Berichte Schuberts oder anderer Personen, sondern durch eigene Lektüre mit den Fallbeschreibungen Gmelins vertraut war. Er argumentiert z. B. damit, dass das Käthchen von Heilbronn am Marktplatz dieser Stadt wohnt wie einst die Familie Zobel, deren Adresse heute Kaiserstraße 30 lauten würde. Diese Adresse wurde aber zwar von Gmelin, nicht aber von Schubert in seinem Vortrag mitgeteilt. Auch das Engelmotiv, möglicherweise zurückzuführen auf die Gestaltung der Heilbronner Rathausuhr, taucht bei Kleist häufig auf, spielt aber bei Schubert keine Rolle.
Schrenk weist darauf hin, dass der Heilbronner Senator Christoph Ludwig Schreiber häufig bei Gmelins Experimenten Protokoll führte. Schreiber war ein Kommilitone Georg Christian Wedekinds, bei dem Kleist sich im Jahr 1804 lange aufhielt, und er war auch seit 1792 der Schwager Carl Langs, der Scheffauer protegierte, dessen Schwestern von Gmelin behandelt worden waren und der sich gleichzeitig mit Heinrich von Kleist in Dresden aufhielt. Schrenk spricht infolgedessen von einem ganzen Knäuel von Einflüssen, die auf die Entstehung des Käthchens eingewirkt haben dürften, versucht jedoch zur Klärung die Chronologie heranzuziehen: Im Urkäthchen, das um 1800 schon existierte, war laut den Untersuchungen Hans M. Wolffs aus dem Jahr 1954 der spätere erste Akt noch nicht vorhanden; es fehlten auch z. B. das erste Zusammentreffen Käthchens mit dem Grafen in Heilbronn, der Silvestertraum des Grafen und die Holunderstrauchszene. Vorabdrucke im Phöbus im Jahr 1808 enthielten nur Auszüge aus den ersten beiden Akten, so dass auch hier die Holunderstrauchszene aus dem vierten Akt noch nicht zu finden war. Dies kann jedoch in der einfachen Tatsache, dass der Phöbus im Februar 1809 einging und geplante Veröffentlichungen vielleicht nicht mehr stattfinden konnten, seinen Grund haben. Der zweite Akt indes wurde im Phöbus 1808 schon veröffentlicht – allerdings ohne den Silvestertraum der späteren Fassung. Daraus kann man schließen, dass das Somnambulismusthema insgesamt erst nach dem Oktober 1808 in das Drama eingearbeitet wurde[10] und Kleist dabei wohl doch direkt von Schubert beeinflusst wurde. Steven R. Huffs These, Schubert habe in seinem Vortrag die Kornacher-Krankengeschichte herangezogen, Kleist aber im Käthchen den Fall der Caroline Heigelin, lehnt Schrenk aufgrund seiner chronologischen Beobachtungen ab. Diese beziehen sich auch auf das Auftreten des Attributs „von Heilbronn“, das dem Käthchen ungefähr zeitgleich beigegeben wurde wie die Somnambulismusszenen und wahrscheinlich ebenfalls durch den Kontakt mit Schubert und die Beschäftigung mit dem Heilbronner Gmelin ausgelöst wurde. Allerdings kann auch hier wieder an den Heilbronner Carl Lang, der mit Scheffauer in Verbindung stand, und damit an die Krankengeschichte der Verlobten des Bildhauers gedacht werden.
Die Versuche, ein historisches Vorbild für das Käthchen in den Krankenberichten zu finden, konkurrieren mit der beispielsweise von Helmut Sembdner vertretenen Theorie, dass Heinrich von Kleist den Käthchenstoff einem Flugblatt oder Jahrmarktsdruck entnommen hat. Christhard Schrenk machte jedoch darauf aufmerksam, dass entsprechende Flugblätter bis dato nicht aufgefunden wurden.[11]
Kleist selbst bezeichnete in einem Brief an Marie von Kleist im Sommer 1811 seine Käthchengeschichte als eine „treffliche Erfindung“. „Erfindung“ ist hier aber nicht unbedingt mit „Fiktion“ gleichzusetzen, worauf der Rhetorikexperte Reinhard Breymayer verweist. Kleist wurde nach dem Tod seines Vaters (1788) in der Pension des reformierten Predigers, Katecheten und Pädagogen Samuel Heinrich Catel (1758–1838) erzogen und durch ihn, der später, von 1793 bis zu seiner Pensionierung Professor für griechische Sprache am Französischen Gymnasium in Berlin war, wahrscheinlich mit klassischer rhetorischer Terminologie vertraut. Kleist, von dem bekanntlich Überlegungen zum Reden stammen, hat „Erfindung“ daher hier möglicherweise als deutsches Äquivalent zum griechischen Begriff „Heúresis“ in der Rhetorik des Aristoteles oder zum Terminus "Inventio" in Ciceros Rhetorik verwendet. So schließt seine briefliche Äußerung eine Anknüpfung an historische Realität, für die in der Heilbronner Szene bezeugte Persönlichkeiten etwa, nicht aus. Neben solch lokalhistorischer Verortung steht die erwähnte Behauptung, dass Kleist die Käthchen-Thematik im Kern einem auf einem Jahrmarkt gekauften Flugblatt zu verdanken habe. Diese Behauptung stammt von Hofrat Karl August Böttiger.[12] Schrenk hält es für „denkbar, daß es sich bei der Erwähnung des Flugblattes um eine nachträgliche Mystifikation durch Böttiger handeln könnte“, da der Hofrat insgesamt eine eher unzuverlässige Quelle darstelle.[11]
Freimaurerischer Umkreis Caroline Heigelins
Drei Onkel Caroline Heigelins waren Freimaurer: Hofrat Marcell Friedrich (Fritz) Heigelin (1735–1796) und sein Bruder Carl Georg Heigelin, geb. Stuttgart 20. September 1741, dort gest. 15. März 1803, ausgebildeter Bäcker, danach in zahlreichen städtischen Ämtern tätig, 1802/1803 Bürgermeister, gehörten der von 1774 bis 1784 bestehenden Loge zu den drei Cedern in Stuttgart an. Zwei Taufpaten Caroline Heigelins waren nachmals Freimaurer: Johann Daniel (von) Weng, geb. um 1734, gest. Stuttgart 10. November 1808, Kriegsrat in Stuttgart (2. Ehemann ihrer Stiefgroßmutter Sophia Magdalena <von> Weng, verwitweter Heigelin, geb. Leyhrer)[13], und der erwähnte Onkel C. G. Heigelin, damals Ratsverwandter und Polizeikommissar. Marcell Friedrich Heigelin "bestellte mehrere Freimaurerbrüder zu Paten seiner Kinder".[14] Ein Bruder der beiden, Christian Hermann Heigelin, geb. Stuttgart 15. Dezember 1744, gest. Neapel 15. März 1820, Handelsmann und Bankier in Neapel, Dänischer Konsul, "trat am 30. September 1770 der zwei Jahre zuvor gegründeten Freimaurer-Loge "Perfette Unione" ("Perfect Union Lodge", "Zur vollkommenen Einigkeit") bei"[15]. Nach deren Bruch mit England (1774) wurde er jedoch Mitglied der Loge "La Vittoria", zeitweilig der bis 1782 bestehenden Strikten Observanz. 1782/1784 war er "Grand Trésorier" der "Großen Loge von Neapel und Sizilien".[16]
Zu Christian Heigelins Gemäldesammlung gehörte seit 1799 das Ölgemälde "Goethe in der römischen Campagna" (1787) des Freimaurers Johann Heinrich Wilhelm Tischbein, das sich seit 1887 im Städelschen Kunstinstitut (in der heutigen Eigenbezeichnung "Städel Museum") befindet.[17]
Bedeutsam ist Jürg Arnolds Hinweis[18] auf Christian Heigelins Zusammenkunft vom 6. und 30. August 1799 mit der Fürstin Luise von Anhalt-Dessau, geb. Prinzessin von Brandenburg-Schwedt (1750–1811), im Haus des Freimaurers Johann Georg Hartmann (1731–1811) und dann noch am 23. September in Bozen. Hier wäre zu ergänzen: Der Sohn Christian Ferdinand Hartmann stand sowohl mit der Fürstin als auch später mit Heinrich von Kleist in Verbindung.[19]
Der Freimaurer Philipp Friedrich Hetsch (1758–1838; geadelt 1805), ein Lehrer Christian Ferdinand Hartmanns, hat um 1793 das erwähnte Porträt von Caroline Scheffauer, geb. Heigelin, geschaffen, ein Ölgemälde auf Holz (71,5 cm × 56,5 cm; Standort: Galerie der Stadt Stuttgart, Inventarnummer 0-2696).[20]
Beziehung Caroline Heigelins zu Hölderlins Umkreis
Ein wie sie in Stuttgart geborener Bruder der Caroline Heigelin taucht spätestens seit 1798 als Kaufmann just in jener Stadt auf, die Friedrich Hölderlin als "Nabel dieser Erde" bezeichnet, nämlich in Frankfurt am Main: Johann Christian Hermann Heigelin, geb. Stuttgart 30. Oktober 1773, gest. 1833. Sein Aufenthalt in der Mainmetropole ist seit März 1798 bezeugt. Vielleicht ist er mit dem "Heigelin" gemeint, den Hölderlin im Juni 1798 in einem Brief aus Frankfurt am Main an seinen Freund Christian Ludwig Neuffer erwähnt: "Heigelin sagte mir, Du hättest ihm gesagt, er soll meinen Beitrag zu deinem Allmanach auf seiner Rückreise mit sich nehmen, und weil ich ihn alle Tage erwartete, verschob ich meine Antwort so lange."[21] Der Kommentator Adolf Beck rechnet auch mit der Möglichkeit, dass der Vater des Kaufmanns, "der angesehene Vorsteher der Goldarbeiterzunft in Stuttgart", Johann Eberhard Heigelin, oder des Kaufmanns älterer Bruder Johann Friedrich ("Fritz") Heigelin gemeint sei. Dieser, geb. Stuttgart 17. (16.?) November 1764, gest. Geradstetten 9. November 1845, war 1800–1811 Pfarrer in Herrenalb, 1811 in Geradstetten, dann Schriftsteller in Stuttgart, seit 1820 mit dem Titel "Professor der Deutschen Sprache".[22] Eine Schwester Caroline Heigelins hat am 14. Januar 1793 in Stuttgart einen bedeutenden Freund Hölderlins geheiratet, nämlich den Stuttgarter Tuchhändler Georg Christian Landauer, geb. Stuttgart 11. Dezember 1769, dort gest. 6. Juli 1845: Johanna Margaretha Luisa Landauer, geb. Heigelin, * Stuttgart 16. April 1770, dort gest. 17. Okt. 1819. Der Kaufmann Landauer betrieb eine Tuchhandlung in Stuttgart, Gymnasiumstraße 1 (Ecke Königstraße).[23]
Literatur
- Jürg Arnold: Beiträge zur Geschichte der Familie Otto (in Ulm, Stuttgart und Heilbronn) und der Familie Heigelin (in Stuttgart). (Jürg Arnold), Ostfildern 2012.
- S. 156–205: "Stammfolge der Familie Otto aus Ulm", hier S. 176, Nr. 32 ("Frau Professor Scheffauer"), und S. 181, Nr. 34 ("Frau Scheffauer") als Patin.
- S. 206–288: "Stammfolge der Familie Heigelin aus Stuttgart-Feuerbach", hier S. 212–214, Nr. 4, zu Caroline Scheffauer, geb. Heigelin; ebd., S. 234, Nr. 47 ("Professor Scheffauerin"), als Patin.
- S. 289–307: "Verzeichnis der Abbildungen";
- hier S. 289–293: "Bilder aus der Familie Otto" (darin S. 290. 292 f.);
- hier S. 295–301: "Bilder aus der Familie Heigelin" (darin S. 297, Nr. 84 f., S. 299, Nr. 99, und S. 300, Nr. 106–108, zu Caroline Scheffauer, geb. Heigelin).
- S. 329–448: Abbildung 1–182, hier besonders S. 336 f. 348. 350. 374-409 (darin S. 388 f., Nr. 84 f.; S. 400, Nr. 99; S. 403 f., Nr. 106–108 zu Caroline Scheffauer, geb. Heigelin).
- Jürg Arnold: Christian Heigelin (1744-1820). Bäckersohn aus Stuttgart, Bankier in Neapel, Freimaurer, Vermittler italienischer Kultur. (Jürg Arnold), Ostfildern; Vertrieb: Buchhandlung Müller & Gräff, Stuttgart 2012, S. 42 f., Anm. 203, und S. 53 mit Anm. 256 zur Nichte Caroline Scheffauer, geb. Heigelin. Vgl. Abbildung 1–19 zwischen S. 32 und 33; hier Nr. 17 zu Carolines Vater, Johann Eberhard Heigelin, und Nr. 17 zu ihrem Onkel Marcell Friedrich Heigelin.
- Huff, Steven R.: Heinrich von Kleist und Eberhard Gmelin. Neue Überlegungen. In: Euphorion. Zeitschrift für Literaturgeschichte 86 (1992), S. 221–239. [Hinweis auf Gmelins Patientin "Caroline H.", die später vom Stadtarchiv Heilbronn als Caroline Heigelin identifiziert wurde.]
Einzelnachweise und Anmerkungen
- Denkmal der Gattenzärtlichkeit und Volksliebe
- Friedrich Schiller am 27. August 1793 in einem Brief an Körner
- August Wintterlin: Scheffauer, Philipp Jacob von. In: Allgemeine Deutsche Biographie (ADB). Band 30, Duncker & Humblot, Leipzig 1890, S. 672–676.
- Keplerbüste (Memento vom 10. Oktober 2007 im Internet Archive)
- Marcell (auch: Marzell) Friedrich ("Fritz") Heigelin, geb. Stuttgart 19. November 1735, gest. Heilbronn 26. Dezember 1796. Er war 1762-1762 Proviantkommissar der Truppen des Schwäbischen Kreises auf dem Kriegsschauplatz in Sachsen und Böhmen, Kreisproviantkommissar in Stuttgart (1764). Seit 1767 war er Pfleger der Pflegen Heilbronn und Untereisesheim des württembergischen ehemaligen Frauenklosters Lichtenstern und wohnte im Lichtensteinischen Hof (auch "Württemberger Hof") in Heilbronn. Von dort aus begab er sich zusammen mit Dr. Eberhard Gmelin am 2. November 1789 zu der Patientin Caroline Heigelin nach Stuttgart. Vgl. Jürg Arnold: Beiträge (2012), S. 46–51, Nr. 18, und S. 209, Nr. 2, zu M. F. Heigelin; S. 216–219, Nr. 14–21, zu dessen Kindern und deren Taufpaten.
- Zitate nach der Darstellung des Stadtarchivs Heilbronn.
- Stadtarchiv Heilbronn mit Bezug auf Steven R. Huff: Heinrich von Kleist und Eberhard Gmelin. Neue Überlegungen. In: Euphorion. Zeitschrift für Literaturgeschichte 86 (1992), S. 221–239
- laut Schrenk in: Werner von Froreich: Eberhard Gmelin – zwischen Kerner und Kleist. In: Nachrichtenblatt für die Stadt Weinsberg, 19. Januar 1973, 26. Januar 1973 und 9. Februar 1973. Vgl. auch Werner von Froreich: Eberhard Gmelin - ein großer Arzt. In: Schwaben und Franken 20 (1974), 5, S. 1–2.
- zitiert nach Schrenk: Das Käthchen von Heilbronn (Memento vom 16. Februar 2009 im Internet Archive)
- Dem widerspricht eine Arbeit in Gunhild Oberzaucher-Schüller u. a. (Hrsg.): Prima la danza! Festschrift Sibylle Dahms. Königshausen & Neumann, 2004, ISBN 978-3-8260-2771-0, S. 211, bedingt mit dem Hinweis, dass die merkwürdige Anhänglichkeit Käthchens an Strahl, die schon im Phöbus-Druck vorhanden ist, dann kaum erklärbar ist.
- Christhard Schrenk: Das Käthchen von Heilbronn (Memento vom 16. Februar 2009 im Internet Archive)
- Böttiger
- Vgl. Jürg Arnold: Beiträge (2012), S. 58. 212. 216 u. ö.
- Jürg Arnold: Beiträge (2012), S. 48.
- Jürg Arnold: Christian Heigelin(2012), S. 14
- Vgl. Jürg Arnold: Beiträge (2012), S. 14–19: "Der Freimaurer"; ferner S. 27–32 (zu Heigelins maurerischem Garten). 37. 50. 59. 73 f. Vgl. ebd., S. 59: "Heigelins Villa war ein Zentrum freimaurerischen Lebens."
- Zur Provenienz vgl. Jürg Arnold: Beiträge (2012), S. 32–36: "Die Gemäldesammlung", hier S. 35 f.
- Vgl. Jürg Arnold: Beiträge, S. 74
- Zur literarischen Bedeutung der Familie Hartmann und der Fürstin Luise von Anhalt-Dessau vgl. Reinhard Breymayer: Freimaurer vor den Toren des Tübinger Stifts: Masonischer Einfluss auf Hölderlin? In: Tubingensia. Impulse zur Stadt- und Universitätsgeschichte. Festschrift für Wilfried Setzler zum 65. Geburtstag. Hrsg. von Sönke Lorenz und Volker Schäfer. (Tübinger Bausteine zur Landesgeschichte, 10), Jan Thorbecke, Ostfildern 2008, S. 355–395. Hier wird in einer Netzwerkanalyse die Bedeutung der Loge zu den drei Cedern für das literarische Leben während ihres Bestehens (1774-1784) und auch während der Zeit des Verbots (1784-1834) auf Grund ihrer Nachwirkung dargestellt. - Der Verfasser möchte jetzt darauf hinweisen, dass Christian Ferdinand Hartmanns Gönnerin Fürstin Luise von Anhalt-Dessau sich ausweislich ihres Tagebuchs mit dem animalischen Magnetismus, besonders auch mit Eberhard Gmelin, befasst hat. Heinrich von Kleists Freund Hartmann seinerseits hatte einen wichtigen Bezug zu Heilbronn: durch seine 1797-1803 und vom November 1809 bis zu ihrem Tode dort wohnende Schwester Johanna Henriette Friederike Mayer, geb. Hartmann (1762-1820), und deren Tochter Juliane Auguste Mayer, geb. 17. Februar 1789, gest. 18. Juli 1843, die mit dem gebürtigen Heilbronner Johann Clemens Bruckmann (1768–1835) verheiratet war, der 1822–1835 dort als Stadtschultheiß amtierte.
- Vgl. Jürg Arnold: Beiträge (2012), S. 297, Nr. 84. - Vgl. ferner ebd., S. 297, Nr. 80 ein um 1783/1784 durch Hetsch gefertigtes Porträt ihres späteren Ehemanns Philipp Jakob Scheffauer, ein Ölgemälde auf Leinwand (80 cm × 64 cm) in Privatbesitz. Zu weiteren von Hetsch erstellten Porträts von Mitgliedern der Familie Heigelin siehe ebd., S. 296, Nr. 77 f.; S. 298, Nr. 92; S. 299, Nr. 95.
- Hölderlin: Sämtliche Werke, Stuttgarter Ausgabe, Bd. 6, 1, S. 272, Zeile 6-9. Vgl. dazu Adolf Beck. In: Hölderlin: Sämtliche Werke, Stuttgarter Ausgabe, Bd. 6, 2, S. 877, Zeile 7-10.
- Vgl. die Hinweise auf die Beziehungen Heigelin - Landauer - Hölderlin bei Reinhard Breymayer: Zwischen Prinzessin Antonia von Württemberg und Kleists Käthchen von Heilbronn. Neues zum Magnet- und Spannungsfeld des Prälaten Friedrich Christoph Oetinger. Heck, Dußlingen (2010), S. 84; ferner Jürg Arnold: Beiträge (2012), S. 182 und S. 214–216 mit Anm. 32-43; vgl. zu Hölderlin auch S. 170.
- Vgl. Breymayer, ebd., S. 84; Jürg Arnold: Beiträge, S. 214–216.