Lisette Kornacher
Elisabetha („Lisette“) Gottliebin Kornacher (* 4. November 1773 in Heilbronn; † 13. Mai 1858 ebenda) galt lange Zeit als Vorlage für die Figur des Käthchens von Heilbronn aus Heinrich von Kleists gleichnamigem Schauspiel.
Leben
Lisette Kornacher war die dritte von fünf Töchtern des Heilbronner Bürgermeisters Georg Christoph Kornacher und der Katharina Uhl sowie Enkelin des damaligen Heilbronner Rosenwirts Johann Georg Uhl (1718–1790), der selbst von einer „Madame Tschiffeli“, nämlich der Schweizer Agronomenwitwe Margarethe Tschiffeli, geb. Steck,[1] mittels animalischem Magnetismus erfolgreich behandelt worden war und seine an Entzündungen der Arm- und Beingelenke erkrankte Enkelin 1787 dem Heilbronner Arzt Eberhard Gmelin anvertraute, der ebenfalls „tierischen Magnetismus“ propagierte, wie schon früher Christian Friedrich Reuß, seit 1773 Schwiegersohn von Gmelins 1772 verstorbenem Tübinger Medizinprofessor Ferdinand Christoph Oetinger.[2] Gmelin scheint bei der Behandlung ihrer Beschwerden, die 1970 von Dr. Hermann Imhof als „Pubertätsneurose mit spastischen Bronchialbeschwerden und einer hypochondrischen Angst, schon im Jugendalter sterben zu müssen“ beurteilt wurden, erfolgreich gewesen zu sein. In einer Schrift mit dem Titel Materialien für die Anthropologie von 1793 veröffentlichte Gmelin die Krankengeschichte.
Verheiratung
Lisette Kornacher heiratete am 1. Mai 1796 einen Neffen Gmelins,[3] den damaligen Gräflich-Erbachischen Leibarzt und späteren Heilbronner Oberamtsarzt Christian Johann Klett (1770–1823). Der Ehe entstammten neun Kinder, darunter der spätere Heilbronner Stadtschultheiß August Klett (1799–1869) und der Heilbronner Stadtarzt Georg Klett (1797–1855) sowie die Tochter Wilhelmine, die mit dem Arzt Philipp Sicherer einen Cousin heiratete. Lisette Kornacher verstarb 1858 und ist auf dem Alten Friedhof in Heilbronn neben ihren Schwestern Margaretha und Wilhelmine (Frau von Georg Friedrich Scharffenstein) begraben.
Beziehung zu den Familien Oetinger und Dertinger
Die mit der Familie Oetinger verschwägerte Kaufmannstochter Charlotte Elisabethe Zobel (1774–1806), fast gleichaltrig wie Lisette Kornacher, die ebenfalls als ein mögliches Käthchen-Urbild diskutiert wurde, war mit dieser befreundet und wohnte sogar einmal einer heilmagnetischen Schlafbehandlung der Freundin durch Dr. Eberhard Gmelin bei. Diese Sitzung fand am 21. September 1789 statt. Als Zeugen standen in der 49. Sitzung am 29. September 1789 bemerkenswerterweise Mitglieder der mit dem Prälaten Friedrich Christoph Oetinger und mit seinem bereits erwähnten Bruder, Eberhard Gmelins Medizinprofessor Ferdinand Christoph Oetinger, verwandten Familie Dertinger am Krankenbett der Lisette Kornacher: eine Nichte der Brüder Oetinger, Rosina Dorothea Knör, verwitwete Schmidlin, geb. Dertinger (1733–1809), und ein Großneffe der Brüder Oetinger: Christoph Friedrich Dertinger (1756–1799).
Dertinger heiratete 1793 Friederike Charlotte, geb. Aff.[4] Eberhard Gmelin berichtete über die merkwürdige Antipathie, die Charlotte Aff am 3. September 1789 in der vierundvierzigsten Sitzung der Magnetisierungstherapie durch ihre Annäherung an ihre kranke Cousine und Freundin Lisette Kornacher auslöste.[5]
Vermeintliche Käthchen-Vorlage
Kleist schrieb im Sommer 1811 in einem Brief an Marie von Kleist über sein Käthchen-Drama: „Es war von Anfang herein eine ganz treffliche Erfindung.“ „Erfindung“ ist hier nicht alternativlos als Fiktion zu verstehen, da der Begriff für den vor allem bei dem Berliner Prediger, Katecheten und Gräzisten Samuel Heinrich Catel (1758–1838) altsprachlich geschulten Dichter auch ein Äquivalent für den Terminus Heuresis in der Rhetorik des Aristoteles oder Inventio in Ciceros Rhetorik sein kann, wo damit Findung des Stoffes und der Argumentation gemeint ist.[6] So sahen zahlreiche Forscher trotz der offenen Problematik genügend Freiraum für die Suche nach einem „Ur-Käthchen“.
Dieses glaubte Karl Eduard von Bülow in seiner Kleist-Biographie von 1848 in der Dresdnerin Julie Kunze zu sehen.[7]
Der Heilbronner Rektor und Chronist Friedrich Dürr stieß 1897 auf Lisette Kornacher, deren Krankengeschichte Kleist 1807 beim Studium in Dresden zu Ohren gekommen sein könnte. Die Holunderstrauchszene des Kleist-Stücks gab Anlass zu Vergleichen mit einer unter Hypnose verlaufenden „heilmagnetischen Befragung“. Zwar wurde diese Zuschreibung bereits 1938 von Otto Kienzle widerlegt, der dies mit dem knappen zeitlichen Abstand zwischen dem Vortrag der Kornacher-Krankengeschichte in Dresden und der wenig später erfolgten Drucklegung des Schauspiels begründete, doch fand Lisette Kornacher weiterhin Eingang in verschiedene Publikationen und gilt als „liebgewordene historische Legende“.[3]
Forschungsliteratur
- Werner von Froreich: Eberhard Gmelin – zwischen Kerner und Kleist. In: Nachrichtenblatt für die Stadt Weinsberg, 19. Januar 1973, 26. Januar 1973 und 9. Februar 1973. [Darin die Zobel-These.]
- Werner von Froreich: Eberhard Gmelin – ein großer Arzt. In: Schwaben und Franken. Heimatgeschichtliche Blätter der Heilbronner Stimme 20 (1974), 5, S. 1–2.
- Uwe Jacobi: Käthchen von Heilbronn. Legende und Wirklichkeit. In: Heilbronn. Sie machten Geschichte. Zwölf Porträts aus dem Leben und Wirken berühmter Heilbronner. Druckerei und Verlagsanstalt Heilbronn, Heilbronn 1977 (Reihe über Heilbronn, 7). S. 35–42.
- Uwe Jacobi: Neue These zum Urkäthchen : Dr. C. Schrenk: Wenn, dann Zobel. In: Schwaben und Franken 40 (1994), 5, S. 4. [Betrifft Elisabetha ("Lisette") Gottliebin Klett, geb. Kornacher, und Charlotte Elisabethe Zobel.]
- Christhard Schrenk: Alte Neuigkeiten über das Käthchen. Charlotte Elisabethe Zobel contra Lisette Kornacher. In: Schwaben und Franken. Heimatgeschichtliche Blätter der Heilbronner Stimme. Heilbronn, Oktober 1992, S. I – IV.
- Christhard Schrenk: Das Käthchen von Heilbronn. Einige Überlegungen zu Kleists Ritterschauspiel. In: Jahrbuch des Historischen Vereins Heilbronn, Band 33 (1994), S. 5–43.
- – [Wiederabdruck in anderer Form] in:
- Christhard Schrenk: Das Käthchen von Heilbronn. Einige Überlegungen zu kleists Ritterschauspiel (1994). (Heilbronn 2005). (Käthchen in Heilbronn. Im Auftrag der Stadt Heilbronn. Hrsg. von Günther Emig), S. 22–43.
- Christhard Schrenk: Heilbronner Urkäthchen? Lisette Kornacher (1773–1858) und Charlotte Elisabethe Zobel (1774–1806), in: Christhard Schrenk (Hrsg.), Heilbronner Köpfe, Band 5. Lebensbilder aus fünf Jahrhunderten, Stadtarchiv Heilbronn 2009 (Kleine Schriftenreihe des Stadtarchivs Heilbronn, 56), ISBN 978-3-940646-05-7, S. 89–100.
- Stadtarchiv Heilbronn [Direktor: Christhard Schrenk] [Korporativer Verfasser]: Das Käthchen von Heilbronn; Internetadresse: https://stadtarchiv.heilbronn.de/stadtgeschichte/geschichte-a-z/k/kaethchen-von-heilbronn.html. [Lisette Kornacher wird nicht namentlich genannt; doch wird auf sie wegen ihrer Präsenz in der Wirkungsgeschichte auf sie angespielt – ihr galt die sich im Jahr 1789 abspielende erste von "zwei der von Gmelin publizierten Krankengeschichten (1789 bzw. 1791)". Die mögliche Deutung von Kleists Begriff "Erfindung" als rhetorischer Terminus für "inventio" wird noch nicht erwogen.]
Einzelnachweise
- Vgl. Friedrich August Weber: Beschreibung der Krankheitsgeschichte der Madame [Margarethe] von Tschiffeli [, geb. Steck]. In: Archiv für Magnetismus und Somnambulismus. Sechstes Stück. Herausgegeben vom Hr. [Herrn] Hofrath Boeckmann [Johann Lorenz Böckmann], Professor zu Carlsruhe [Karlsruhe in Baden]. Strasburg [Straßburg im Elsass], in der akademischen Buchhandlung. 1787. – Diese Therapeutin war Tochter von Johann Friedrich Steck (Landvogt von Trachselwald) und Witwe des Berner Agronomen und Chorgerichtsschreibers (Schreibers des Obern Ehegerichts) Johann Rudolf Tschiffeli des Jüngeren (1716–1780)
- Der Tübinger Arzt Christian Friedrich (von) Reuß (1745–1813) hat 1778 zwei Bücher veröffentlicht, in denen er sorgfältig die Verbreitung der Magnetkuren von Maximilian Hell, SJ., und Franz Anton Mesmer dokumentiert. Vgl. [Christian Friedrich Reuß:] Sammlung der neuesten gedruckten und geschriebenen Nachrichten von Magnet-Curen, vorzüglich der Mesmerischen. Leipzig, bei Christian Gottlob Hilschern [Hilscher], 1778. – [Ausgabe A:] [3] Bl, 194 S.; [Ausgabe B:] [2] Bl., 309 S., [2] gefaltete Bl. Siehe den Hinweis darauf bei Reinhard Breymayer: Anzeigenteil [...]. In: Johann Friedrich Jüdler, Friedrich Christoph Oetinger, Erhard Weigel: Realvorteile zum Informieren. [...] Wiederentdeckt und hrsg. von Reinhard Breymayer. Heck, Dußlingen 2014, S. 163–172, hier S. 167. C. F. Reuß war ein Vetter von Jakob Gottlieb Reuß (1753–1839), dieser seit 1780 Archivar beim Ritterkanton Kraichgau des Ritterkreises Schwaben der Reichsritterschaft in Heilbronn, seit 1795 dort Konsulent (Rechtsberater), 1807–1822 Königlich Württembergischer Oberregierungsrat in Stuttgart.
- Helmut Schmolz, Hubert Weckbach: Heilbronn. Geschichte und Leben einer Stadt. 2. Auflage. Konrad, Weißenhorn 1973, ISBN 3-87437-062-3. S. 89
- geb. Heilbronn am Neckar 3. Juli 1774, gest. Esslingen am Neckar 11. Juli 1850 eine Tochter von Georg Christoph Kornachers Berufskollegen Philipp Gottlob Daniel Aff (1748–1791), Archivar und seit 1781 Senator, also Ratsherr, in Heilbronn. Über dessen Ehefrau, Maria Friederike, geb. Uhl, war Charlotte Aff wie Lisette Kornacher eine Enkelin des Rosenwirts Johann Georg Uhl. Vgl. Reinhard Breymayer: Zwischen Prinzessin Antonia von Württemberg und Kleists Käthchen von Heilbronn. Neues zum Magnet- und Spannungsfeld des Prälaten Friedrich Christoph Oetinger. Heck, Dußlingen (2010), S. 52–56.
- Vgl. Breymayer, ebd., S. 55.
- Vgl. die Hinweise in der Diskussion zum Wikipedia-Artikel Charlotte Elisabethe Zobel unter Diskussion:Charlotte Elisabethe Zobel.
- Emma Juliane (Julie) von Einsiedel Erbfrau auf Gnandstein, geb. Kunze (1786–1849), war seit Dezember 1808 Ehefrau von Alexander August von Einsiedel, Erbherrn auf Gnandstein (1780–1840). Als Gutsherr war dieser Erbherr des Ritterguts Gnandstein. Gnandstein ist seit 1996 Dorf der Gemeinde Kohren-Sahlis, Landkreis Leipzig. Grundsätzlich ist es nicht unmöglich, dass auch Kleists unerwiderte Neigung zu der jungen Dresdnerin Kunze irgendwo das Ritterschauspiel des Dichters beeinflusst hat. Jedenfalls wurde die einstige Pflegetochter von Schillers Freund Christian Gottfried Körner (1756–1831) und Pflegeschwester von dessen Sohn Carl Theodor Körner (1791–1813) anscheinend in ihrem Bekanntenkreis als ein Vorbild für die Gestalt des Käthchens angesehen.