Apostoloff
Apostoloff ist ein Roman von Sibylle Lewitscharoff, der 2009 in Frankfurt am Main erschien.
Der Sofioter Fahrer Rumen Apostoloff kutschiert in seinem bescheidenen Daihatsu zwei schwäbische Damen quer durch Bulgarien. In der jüngeren der beiden Schwestern mittleren Alters – das ist die unablässig spöttelnde Ich-Erzählerin – erkennt Volker Hage in seiner Besprechung vom 16. März 2009 im Spiegel das Alter Ego der Autorin.
Inhalt
Ein Blick in das Inhaltsverzeichnis des Werks lässt aus einigen Kapitelnamen – Schumen, Varna, Nessebar und Sofia[A 1] – auf die Niederschrift der Reiseerlebnisse einer Bulgarien-Touristin schließen. Diese Vermutung stößt aber nur auf die erste der mindestens drei Erzählebenen des Romans. Ebenen zwei und drei beinhalten die Vorgeschichte der kleinen Bulgarienrundfahrt – eine Trauerreise – sowie einen Rückblick auf Ereignisse in Degerloch, Wurmlingerstraße 14 so um die 1960er und 1970er Jahre. Tiefenpsychologisch gedacht ist die letztgenannte die bedeutungstragende Ebene vorliegenden Werks: Der Suizid des Vaters der reisenden Damen wird durch die Ich-Erzählerin verarbeitet. Der Vater, ein Nietzsche-Verehrer, war Frauenarzt gewesen.
Es scheint dem Leser zwar so, als werde er durch Fragen bei der Stange gehalten, doch die Antworten erweisen sich letzten Endes als keine richtigen. Fragen werden nicht direkt ausgesprochen, sondern kommen im Leserhirn über der Lektüre Schritt für Schritt hoch und verfestigen sich auf heimliche Art. Gleich zu Romananfang wundert sich der Leser: Was sollen die Hasstiraden der Ich-Erzählerin gegen den eigenen Vater Kristo und sein Heimatland Bulgarien? Antwort: Die Schwestern waren noch Schulmädchen, als sich der 43-jährige Vater erhängte. Die zwei Schwestern verbindet auch noch zur Erzählzeit die Feindschaft zu dem Vater. Eine der verschlungenen Assoziationsketten – jene, die sich um den Suizid des Vaters windet – sei aufgeführt. Während ihrer Bulgarienrundreise liest die Ich-Erzählerin nachts im Hotelzimmer Martin Amis´ „Koba der Schreckliche. Die zwanzig Millionen und das Gelächter“. Des Weiteren vermuten die Bulgaren, Hitler habe ihren König Boris III. im Sommer 1943 vergiften lassen. Die Ich-Erzählerin will den unlogischen Kram nicht glauben und wendet sich verärgert wiederum der Lektüre vom Gelächter Kobas zu. Sibylle Lewitscharoff kommt im Plot ein paar Seiten später auf ihre Assoziation zurück. Den Sofioter Verwandten sei nicht auszureden, so die Ich-Erzählerin, der Vater sei entweder vom bulgarischen Geheimdienst oder von seinem schwäbischen Eheweib ins Jenseits befördert worden. Letztere kann sich nicht mehr gegen den Verdacht wehren. Die Schwestern haben längst keine Eltern mehr.
Warum ist der Roman mit dem Familiennamen einer Nebenfigur betitelt? So lautet eine der nächsten Fragen. Hierzu wird nicht gleich Antwort gegeben. Dem Leser wurde zwar das diesbezügliche Wundern abgewöhnt, doch immerhin kommt bereits im neunten der 23 Kapitel eine Teilantwort. Der Selbstmörder stammt aus Sofia. Seine und Apostoloffs Familie waren zu Rumen Apostoloffs Kinderzeit dort Nachbarn. Bereits als Neunjährige hatte die Ich-Erzählerin die Sofioter Großeltern zusammen mit ihrem Vater aufgesucht. Nun, auf der mehrtägigen Rundreise zu dritt kreuz und quer durch das schöne Bulgarien, hält die Ich-Erzählerin ein vielblättriges Geschenk in den Händen. Es sind eng beschriebene Manuskriptseiten aus der Feder Rumens – Übersetzungen der voluminösen Aufzeichnungen des Sofioter Großvaters der reisenden Schwestern ins Deutsche. Die Relativierung folgt auf dem Fuße. Die Schriften haben nämlich keinen Menschen interessiert; höchstens ihren Verfasser. Übrigens, Rumen und die Schwester[A 2] der Ich-Erzählerin verlieben sich im letzten Romandrittel ineinander. Der Tenor des Erzählerin-Kommentars: das wurde aber auch Zeit.
Verzwickt wird die Antwort auf eine Frage bezüglich der Erzählebene zwei, also jener oben erwähnten Trauerreise. Diese Anreise wird von der Ich-Erzählerin in kunterbunter Reihenfolge immer einmal während ihres Bulgarien-Tourismus ein Stück nacherzählt. Was treibt eigentlich den agilen Alexander Iwailo Tabakoff nach Sofia?[A 3] In Stuttgart gibt es seit etwa 1944 eine Gemeinde bulgarischer Emigranten. Deren Oberhäupter waren allesamt nach ihrem Ableben auf Stuttgarter Friedhöfen beerdigt worden. Tabakoff, ein steinreicher Amerikaner, ehemals Mitglied jener schwäbischen Exilanten-Gemeinschaft, seinerzeit wohnhaft in Sillenbuch, hat also überlebt, landet in Germany und zieht dort ein ehrgeiziges Projekt durch. Die sterblichen Überreste genannter neunzehn Bulgaren waren kurz vor Beginn der Romanzeit (Ebene eins) exhumiert, in einem Korso aus dreizehn Nobellimousinen auf den Balkan überführt und dort in Sofioter Heimaterde auf dem Zentralfriedhof – zuvor kryotechnisch mumifiziert – zur Letzten Ruhe gebettet worden. Die geschäftstüchtige um die zwei Jahre ältere Schwester der Ich-Erzählerin hatte Tabakoff die Genehmigung der Schwestern zu der Überführung für ein Entgelt von 70 000 € gegeben. Tabakoff hatte auf dem Korso Belgrad gemieden und seiner phanariotischen Abstammung wegen des Umwegs über Griechenland via Zürich, Mailand genommen. Kurz vor der Abfahrt in Stuttgart hatten sich die Zankoff-Zwillinge – die Herren Marco und Wolfi – in die geräumige Limousine der Schwestern gedrängt. Man kennt sich seit Schulzeiten und hat sich zwischendurch aus den Augen verloren. Die Ich-Erzählerin gibt ein Gespräch mit Wolfi zum Besten, in dem sie Neuigkeiten erfährt. Das Gespräch hatte auf der Adria-Fähre stattgefunden und hatte die Väter betroffen. Der Stuttgarter Bordellbesitzer Zankoff hatte 1946 – also nach dem Einmarsch der Roten Armee – mit dem Arzt in einem Sofioter Gefängnis gesessen. Der Vater der Ich-Erzählerin hatte seine Verwandten besucht und war wegen Spionageverdachts inhaftiert worden. Immerhin hatte er seit 1943 in Tübingen, also im Deutschen Reich, gelebt. Zankoff, der Gefangene mit den besseren „Verbindungen“, hatte die Freilassung der zwei erwirkt. Allerdings hatten sich beide schriftlich zur Mitarbeit im bulgarischen Geheimdienst verpflichten müssen. Die sonst gesprächige Ich-Erzählerin schweigt sich zu diesen Fakten in den restlichen drei Kapiteln des Buches aus. Bezeichnenderweise trägt das letzte den lakonischen Titel „Alles Weitere bleibt geheim“. Darin ergreift sie für den toten Vater das Wort und legt ihm „Ihr könnt mich mal kreuzweise“[1] in den Mund. Sonderbar: sowohl der Bordellbesitzer als auch der Arzt sterben als Mittvierziger in der BRD eines gewaltsamen Todes. Zankoff verunglückt in seinem Karmann-Ghia.
Die Beweggründe Tabakoffs zu dem aufwändigen Leichenzug nach Sofia können nur erraten werden. Entweder ist er ein bulgarischer Patriot oder er hat sich im Sofioter Bestattungsgewerbe etabliert oder aber beides trifft zu.
Form
Der Roman hat zwei Formschwächen: Erstens verteufelt die Ich-Erzählerin anfangs den Vater und sein Vaterland mit bitterböser Tirade und in der zweiten Hälfte verzeiht sie ihm alles in einer versöhnlichen Suada als streckenweise peinlich anrührende Familienerinnerung verpackt. Kleine Rückfälle in den zu Romananfang angeschlagenen Ton, wie zum Beispiel „alkoholisierte Rauchkanaille“[2] für die leibliche Mutter, können gegen Romanende darüber nicht hinwegtäuschen. Zweitens, bei den unablässigen Sprüngen der Ich-Erzählerin zwischen den drei oben genannten Ebenen wird stellenweise flüssiges Lesen erschwert. Der Leser muss mitunter innehalten und sich fragen: Wo waren wir gleich? Sind wir nun auf der Bulgarienrundfahrt, auf dem Leichenkorso nach Bulgarien oder in der Stuttgarter Küche der Spätzle-Großmutter[A 4]?
Zur Unterhaltung des werten Lesers zündet Sibylle Lewitscharoff ein Feuerwerk Heiterkeit erregender Ausdrücke. Da waren die Bulgaren einmal „sowjetische Kriechlinge“[3]. Zuvor, in der Nazizeit, hatten die Deutschen die verbündeten Bulgaren unter den Slawen als „arisch versetztes Hybridvolk“[4] aufgewertet. Das baldige Verlöschen solcher Knüller betrübt den Leser. Der Rest erscheint meistenteils als erzwungener Spaß. Vergnügt bleibt der Ton allemal. Der Vater hatte vor dem erfolgreichen Suizid zwei Versuche im Bad unternommen. Infolge der dort veranstalteten „Blutsauerei“ hatten die Schwestern ein Bad-Putz-Syndrom bekommen und haben es behalten. Beide, in zwei weit auseinanderliegenden deutschen Großstädten wohnend, hatten – unabhängig voneinander – jede eine tüchtige polnische Putzfrau unter Vertrag gehabt. Die Polinnen kannten sich überhaupt nicht. Beide endeten unabhängig voneinander durch Suizid. Langer Rede kurzer Sinn – die Geschwister hatten, sobald die immer sehr werktätigen Polinnen zu Lebzeiten endlich aus dem Bad heraus waren, jedes Mal die Örtlichkeit noch einmal so richtig gründlich nachgewienert.[5] Die Ich-Erzählerin kommt auf diesen ihren Tick beim Erzählen zurück. Im Sofioter Hotelbadezimmer stellt sie als erstes „soldatische Ordnung“ her.
Bei all dem Charivari kommt der Leser summa summarum auf seine Kosten. Manche Eingeständnisse der Ich-Erzählerin sind umwerfend bis grundehrlich („Die meisten Männer meiden mich“[6] oder „mein radikales Desinteresse an Kindern“[7]). Bereits als Jugendliche habe sie LSD probiert.
Rezeption
- 24. Februar 2009 Ursula März bei Deutschlandradio Kultur: Abrechnung mit Bulgarien.
- 2. März 2009 Maike Albath in der Frankfurter Rundschau: Apostoloff. Bitte mich zu entbehren
- 4. März 2009 Die Berliner Literaturkritik: Bulgarische Heimholung. „Apostoloff“ – Sibylle Lewitscharoffs preisgekrönter Roman
- 12. März 2009 Richard Kämmerlings in der Frankfurter Allgemeinen: Die Ideenlehre des Schafskäses
- 12. März 2009 Eberhard Falcke in der Zeit: Das Unglück, mal ganz fidel.
- 16. März 2009 Volker Hage im Spiegel: Den Vater im Genick
- März 2009 Peter Mohr in literaturkritik.de: Ästhetik des Hasses.
- Autorenlesung am 26. Mai 2009 Moderator: Joachim Dicks (NDR Kultur) auf der Literaturetage im Künstlerhaus Hannover: Sibylle Lewitscharoff „Apostoloff“
- 15. Juni 2009 Wolfram Schütte bei lyrikwelt.de: Die Wut über den verlorenen Glauben.
- 7. Juni 2013 Georg Diez bei spiegel.de: S.P.O.N. - Der Kritiker: Die Kleinbürgerin, die die Gegenwart bekämpft
Auszeichnungen
- 2009: Preis der Leipziger Buchmesse (Kategorie: Belletristik)
Literatur
Erstausgabe
- Sibylle Lewitscharoff: Apostoloff. Roman. Suhrkamp, Frankfurt am Main 2009, ISBN 978-3-518-42061-4 (verwendete Ausgabe)
Anmerkungen
- Der Zarensitz Veliko Tarnovo, das Frauenkloster bei Arbanassi (engl. Arbanasi), das Dorf Madara (bulg. Madara) und Plovdiv werden auch noch aufgesucht und teilweise beschrieben.
- Die Schwester der Ich-Erzählerin, „dieser liebenswürdige Buchmensch“ (verwendete Ausgabe, S. 192, 6. Z.v.u.), hat mit einem Perser – das ist „ein durch Salatöl gezogener Sky Dumont“ (verwendete Ausgabe, S. 190, 1. Z.v.u.) – zwei Kinder.
- Die Ich-Erzählerin meint, Tabakoff habe sich von den entsprechenden Leichenzügen Philipp II. zum Escorial oder Görings von Schweden nach Carinhall inspirieren lassen.
- Die Spätzle-Großmutter, „Sorgobesen“ (verwendete Ausgabe, S. 118, 5. Z.v.u.) genannt, ist die schwäbische Großmutter der Ich-Erzählerin mütterlicherseits. Diese gute Köchin hatte nur gute Charaktereigenschaften gehabt und war kurz nach ihrem Schwiegersohn gestorben. Die bulgarischen Großeltern heißen Nadja und Lubomir. Sie wurden 95 beziehungsweise 98 Jahre alt. Das waren heterogenere Charakterköpfe als der Sorgobesen gewesen. Übrigens war Lubomir, aus Pasardschik stammend, einer der Paten des Titel spendenden Rumen Apostoloff gewesen.
Einzelnachweise
- Verwendete Ausgabe, S. 246, 4. Z.v.u.
- Verwendete Ausgabe, S. 187, 5. Z.v.o.
- Verwendete Ausgabe, S. 14, 6. Z.v.u.
- Verwendete Ausgabe, S. 27, 4. Z.v.u.
- Verwendete Ausgabe, S. 102 unten bis S. 103
- Verwendete Ausgabe, S. 114, 20. Z.v.u.
- Verwendete Ausgabe, S. 191, 7. Z.v.u.