Altes Waisenhaus (Stuttgart)
Das Alte Waisenhaus ist eine Immobilie der Stadt Stuttgart. Sie liegt an der Nordwestseite des Charlottenplatzes im Stadtbezirk Mitte der Landeshauptstadt, im Norden umgrenzt vom Karlsplatz, im Westen vom Hotel Silber.
Bei dem Bauwerk handelt es sich um einen asymmetrisch-viereckigen, langgestreckten Bau mit Innenhof, der in seiner über 300-jährigen Geschichte mehrfach verändert und erweitert wurde. Ursprünglich erstreckte sich das Bauwerk über ein lediglich halb so großes Terrain, das vormals für Tanz- und Spielereignisse genutzt wurde. Später entstand an der Stelle ein herrschaftlicher Hofplatz, der vor der Stadtmauer, am seinerzeit oberirdisch fließenden Nesenbach lag.[1]
Geschichte
Baugeschichte
Geplant war ursprünglich der Bau einer Kaserne für die berittene königliche Leibgarde. Beauftragt hierfür waren der Architekt P. J. Jenisch und Baumeister Johann Ulrich Heim, die im Jahr 1705 mit dem Bau einer Reiterkaserne begannen. 1710 wurden die Residenz und Leibgarde nach Ludwigsburg verlegt, weshalb der noch nicht fertiggestellte Bau umgewidmet werden musste. Die Stadt Stuttgart einigte sich auf ein „Waisen-, Zucht- und Arbeitshaus“. Waisenkinder sowie (unverschuldet) in Armut geratene Personen sollten hier aufgenommen und erzogen und vom Betteln abgehalten werden. Die Eigenschaft als Zucht- und Arbeitshaus sollte der Läuterung betroffener Vaganten, Trunkenbolde, Spieler, boshafter Eheleute, Schwärmer und Fanatiker dienen. Die angedachte Kaserne wurde als Waisenhaus zu Ende gebaut. Ab 1712 beherbergte der barocke Bau vorgenannte Personenkreise.[2] Ende des 18. Jahrhunderts wurde der Hauskomplex umgebaut und erweitert.[3]
Disziplinierungsanstalt
Der Tagesablauf der Insassen sah Wecken um sechs Uhr mit Gebet vor, Verrichtung der Morgenwäsche am Brunnen im Hof, Frühstück von Wassersuppe und die Morgenandacht. Es folgten zwei Stunden Schulunterricht: Religion, Lesen, Schreiben, Rechnen; die Mädchen wurden in Stricken, Nähen und Flicken unterrichtet. Nach dem Unterricht stand die tägliche Handarbeit an, Weben, Spinnen und Gerben. Zum Mittag gab es Gemüse oder Suppe, zweimal in der Woche Fleisch, viermal Wein. Danach wurde ein Spaziergang absolviert, gefolgt von einer Betstunde und weiterem Schulunterricht mit anschließender Arbeit. Der Tag klang mit Nachtessen und Andacht aus.[1] Uniformiert und mit geschultertem Holzgewehr exerzierten die Waisen im Hof unter Trommelwirbel und marschierten singend durch die Straßen.
Um- und Teilneubau
In der Folgezeit mauserte sich die Anstalt zu einer angesehenen Schule. Diese wurde 1922 nach Ellwangen verlegt und das Bauwerk sollte einem neuen Rathaus weichen. Tatsächlich erfolgte in der Zeit von 1922 bis 1924 lediglich ein Teilabriss. Neu- wie Umbaumaßnahmen leitete der Architekt Paul Schmitthenner. Der neue Mauerwerksbau wies fortan lange, gleichförmige und dreigeschossige Flügel auf. Charakteristisch ist das erhaltene Walmdach, das mittels hochgezogener Dacherker gegliedert wird. Den Zugang bilden zwei Portale, die mit plastischem Schmuck ausgestattet sind und in einen baumbestandenen weitläufigen Innenhof führen.
Spätere Widmungszwecke
Nach Fertigstellung zog im Jahr 1925 das 1917 gegründete, heutige „Institut für Auslandsbeziehungen e.V. (ifa)“ ein. Das Gebäude hieß nun Haus des Deutschtums.[4] Daneben bezog die Süddeutsche Rundfunk AG (Sürag) Quartier. Beide Einrichtungen waren vom Stuttgarter Unternehmer und Wirtschaftsförderer Theodor Wanner begründet worden. Der Produktionsbetrieb der Sürag wurde Ende 1942 wieder eingestellt.[4]
Nach dem Zweiten Weltkrieg wurden Kriegszerstörungen beseitigt und der Bau wiederhergestellt. Ämter, Büros, Vertriebenenverbände und die KPD Baden-Württembergs zogen ein, bis letztere 1956 verboten wurde; zudem einige Läden, ein Café, eine Gaststätte mit Biergarten und das Planie-Kino.[4]
Heutige Nutzung
Bis heute ist das „Institut für Auslandsbeziehungen (ifa)“ Eigentümer des Gebäudes. Der NABU Stuttgart und weitere Institutionen, wie das Deutsch-Amerikanische Zentrum und die SKS Russ unterhalten in dem Bau ihre Geschäftsstellen. Weiterhin sind im Bau ein weitläufiges Restaurant, das Amadeus und das Speiselokal Grand Café Planie ansässig.[5] Im Innenhof wird vom Amadeus ein beliebter Biergarten, der an Sommerabenden für kulturelle Freiluftveranstaltungen genutzt wird, unterhalten.[6] Dem Grand Café Planie wurde Mitte Oktober 2020 überraschend per Gewerbeuntersagung die Konzession entzogen.[7]
Literatur
- Das Waisenhaus. In: Eugen Dolmetsch: Aus Stuttgarts vergangenen Tagen (Zweiter Band von „Bilder aus Alt-Stuttgart“). Selbsterlebtes und Nacherzähltes. Stuttgart 1931, Seite 98–103.
- Hartmut Ellrich: Das historische Stuttgart. Michael Imhof Verlag, Petersberg 2009, Seite 71–72, ISBN 978-3-86568-381-6.
- Festschrift zum Jubiläum des 250-jährigen Bestehens der Württembergischen Waisenpflege 1710–1960. Esslingen am Neckar : Bechtle, um 1960.
- Eduard Lempp: Geschichte des Stuttgarter Waisenhauses 1710–1910. Stuttgart : Verlag der Evangelischen Gesellschaft, 1910.
- Martin Wörner, Gilbert Lupfer und Ute Schulz, Architekturführer Stuttgart, Dietrich Reimer-Verlag Berlin, 2005, Seite 60, ISBN 3-496-01290-0.
Einzelnachweise
- Das Alte Waisenhaus zu Stuttgart (Memento vom 1. Januar 2009 im Internet Archive)
- Bild der Anlage
- Architekturführer Stuttgart, S. 60
- Ellrich, S. 42–44 (s. Lit.)
- MarcoPolo: Das Amadeus. (Nicht mehr online verfügbar.) Ehemals im Original; abgerufen am 21. Juli 2020. (Seite nicht mehr abrufbar, Suche in Webarchiven)
- ifa-Galerie Stuttgart im Alten Waisenhaus Abgerufen am 11. Oktober 2015.
- Uwe Bogen: Grand Café Planie verliert die Konzession. In: Stuttgarter Nachrichten. Band 75, Nr. 244, 21. Oktober 2020 (online).