9K76 Temp-S
Die 9K76 Temp-S war eine in der Sowjetunion entwickelte ballistische Kurzstreckenrakete (nach heutiger Definition Mittelstreckenrakete). Der Systemindex der Sowjetarmee lautete TR-1 und die Rakete wurde als 9M76 bezeichnet. Der NATO-Codename lautete SS-12 Scaleboard und SS-22 Scaleboard.
9K76 Temp-S | |
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Allgemeine Angaben | |
Typ | Kurzstreckenrakete |
Heimische Bezeichnung | 9K76 Temp-S, TR-1, OTR-22 |
NATO-Bezeichnung | SS-12 Scaleboard, SS-22 |
Herkunftsland | Sowjetunion |
Hersteller | Konstruktionsbüro Nadiradse |
Entwicklung | 1962 |
Indienststellung | 1967 |
Einsatzzeit | 1967–1987 |
Technische Daten | |
Länge | 12,38 m |
Durchmesser | 1.100 mm |
Gefechtsgewicht | 9.300 kg |
Antrieb Erste Stufe Zweite Stufe |
Feststoffraketentriebwerk Feststoffraketentriebwerk |
Reichweite | 900–950 km |
Ausstattung | |
Lenkung | Inertiales Navigationssystem |
Gefechtskopf | Nukleargefechtskopf oder Gefechtskopf für chemischen Kampfstoffe |
Zünder | Programmierter Zünder |
Waffenplattformen | MAZ-543-Lkw |
Listen zum Thema |
Entwicklung
Die Temp-S wurde als ergänzendes Raketensystem zur 9K72 Elbrus (NATO-Codename: SS-1c Scud-B) konzipiert. Die neue Rakete sollte auf Stufe Front zum Einsatz kommen. Die 9K76 Temp-S basiert auf dem Entwurf der 9K71 Temp, welcher nicht über das Prototypenstadium hinauskam. Im Jahr 1962 begann die Systementwicklung der Temp-S im Konstruktionsbüro Nadiradse. Der erste Teststart einer 9M76-Rakete erfolgte am 14. März 1964 auf dem Testgelände Kapustin Jar. Dabei flog die Rakete 580 km weit. Beim fünften Testflug wurde eine Schussweite von 850 km und ein Streukreisradius von rund 3 km erzielt. Von den ersten fünf Raketenflügen verliefen drei erfolgreich. Nach weiteren Tests wurden Ende Dezember 1965 die ersten Temp-S für Truppenerprobung an die Sowjetarmee ausgeliefert. Anfang Februar 1966 wurde in der Maschinenbaufabrik Wotkinsk, in der Republik Udmurtien mit der Serienproduktion begonnen. Während der Truppenerprobung wurden 29 Raketenstarts durchgeführt. Nach der Truppenerprobung wurden im Jahr 1967 die ersten Temp-S-Regimenter offiziell in Dienst gestellt. Die Temp-S wurde am 7. November 1967 bei einer Militärparade auf dem Roter Roten Platz in Moskau erstmals der Öffentlichkeit vorgestellt. Bis zum Jahr 1987 wurden in Wotkinsk rund 1200 9M76-Raketen produziert. Die Temp-S war die erste taktische ballistische Rakete der Sowjetunion mit Feststoffantrieb.[1][2][3]
Varianten
- 9K71 Temp: Vorläuferversion, nur Prototyp.
- mit Rakete 9M71 mit einer Reichweite von 460 km.
- 9K76 Temp-S: 1. Serienversion 1967. NATO-Codename: SS-12 Scaleboard-A
- mit Rakete 9M76 mit einer Reichweite von 700 bis 850 km.
- 9K76 Temp-S: 2. Serienversion ab 1979. NATO-Codename: SS-22 Scaleboard-B
- mit Rakete 9M76B mit einer Reichweite von 950 km.
- 9K76M Temp-SM: Nur Projekt. NATO-Codename: SS-22 Scaleboard-B
- mit Rakete 9M76B1 mit einer Reichweite von 1100–1500 km.
Technik
Start- und Transportfahrzeuge
Die Raketen waren war auf einem geländegängigen MAZ-543-Lkw und wurde ab diesem gestartet. Der Systemindex der russischen Streitkräfte für das Start- und Transportfahrzeug lautet 9P120. Jedes Fahrzeug war mit einer Rakete bestückt. Die Rakete wurde in einem beheizten 9Ja230-Schutzbehälter transportiert, der die Rakete vor unpassenden Umwelteinflüssen und Beschädigung schützte. Im Inneren des Behälters war eine elektrische Heizung installiert, welche für eine optimale Temperatur zwischen 15 und 20 °C sorgte.[3] Das 9P120-Fahrzeug hat eine Besatzung von vier Mann und wog unbeladen 30,6 Tonnen. Angetrieben wurde es von einem 12-Zylinder-Dieselmotor D12A-525 mit einer Leistung von 386 kW (525 PS). Das Fahrzeug war 3,05 m breit und hatte eine Länge von 11,49 m (ohne Rakete). Auf der Straße wird eine maximale Fahrgeschwindigkeit von 60 km/h erreicht. Die minimale Zeit für die Startvorbereitung lag bei 20 bis 35 Minuten. Nach dem Raketenstart konnte das Fahrzeug mit einer neuen Rakete beladen werden. Dafür standen die Fahrzeuge 9T35 und 9T215 zur Verfügung.[1][4]
Rakete
Die Temp-S verwendete die Rakete vom Typ 9M76. Dies war eine zweistufige Kurzstreckenrakete mit Feststoffantrieb.[5] Die erste Stufe wog 4.160 kg und die zweite Stufe 4.640 kg. Beide Stufen hatten am Heck vier rotierende Düsen.[4] Als Treibstoff kam in der 9M76 der Treibstoff PES 7FG auf der Basis von Polyurethan und Butylkautschuk zum Einsatz. Die erste Stufe entwickelte am Boden einen Startschub von 166,1 kN.[1] Auf der Raketenoberfläche verlief über die nahezu gesamte Rumpflänge ein Kabelkanal. Am Heck der zweiten Stufe befanden sich vier wabenförmige Gitterflossen. Durch diese Bauweise konnte die Lenkwirkung gegenüber konventionellen Steuerflächen deutlich erhöht werden. Allerdings erzeugte diese Konstruktion auch einen erheblich größeren Luftwiderstand, wodurch sich die Reichweite gegenüber Raketen mit normalen Kontrollflächen zwangsläufig verringerte. Für den Raketenstart wurde der 9Ja230-Schutzbehälter entfernt und die Rakete über das Fahrzeugheck in einem Winkel von 90° aufgestellt. Danach wurde sie auf einen Starttisch abgesenkt. Auf dem Starttisch wurde die Rakete dann auf das nötige Azimut gedreht und das Steuersystem aktiviert.[2] Der Raketenstart erfolgte durch eine kabelgebundene Bedienkonsole aus sicherer Entfernung. Die zwei Antriebsstufen waren übereinander angebracht und zündeten nacheinander. Nach dem Ausbrennen der ersten Stufe wurde die zweite Stufe gezündet und die erste Stufe abgesprengt. Während der Beschleunigungsphase (engl. boost phase) ermittelte die Trägheitsnavigationsplattform mit dem Steuersystem die Kurskorrekturen und übermittelte diese an vier Schwenkdüsen sowie vier wabenförmige Gitterflossen, welche ihren Anstellwinkel entsprechend veränderten. Das Analog-Steuersystem hatte ein Gewicht von rund 200 kg.[1] Nach der Beschleunigungsphase erfolgte eine Schubterminierung. Zu diesem Zweck waren an der zweiten Raketenstufe kopfseitig vier Öffnungen angebracht, die zum gewünschten Zeitpunkt aufgesprengt wurden, wobei sich der Innendruck in der Treibstoffkammer schlagartig reduzierte. Nach der Schubterminierung wurde der Gefechtskopf mit vier Bremstriebwerken von der Rakete abgetrennt. Der Weiterflug des Gefechtskopfes erfolgte nun steuer- und antriebslos auf der Flugbahn einer Wurfparabel. Die maximale Schussdistanz lag bei 950 km, die minimale bei 300 km.[5] Die 9M76-Rakete hatte einen Streukreisradius (CEP) 730 bis 2.000 m (je nach Einsatzdistanz). Die weiterentwickelte 9M76M-Rakete war mit einer verbesserten Steuersystem ausgerüstet und erzielte je nach Einsatzdistanz einen Streukreisradius von 200 bis 400 m.[1]
Die 9M76-Rakete hatte eine Nutzlast von 528 kg und es existierten die folgenden Sprengköpfe:[1]
- Nuklearsprengkopf 906B (AA-81) mit 500 kT (in den Jahren 1984 bis 1988)
- Nuklearsprengkopf 910 (AA-19) mit 300 kT (in den Jahren 1965 bis 1986)
- Nuklearsprengkopf 906V mit einer selektierbaren Sprengleistung von 300, 600, 990 oder 1.500 kT (nur Projekt)
- Sprengkopf Tuman-2 für den chemischen Kampfstoff VR-55.[6]
- Sprengkopf Fog-2 für den chemischen Kampfstoff VX.
Einsatz und Stationierung
Die Temp-S-Raketenregimenter waren den Strategischen Raketentruppen der Sowjetunion unterstellt. Die Einzelnen Raketenregimenter waren anfänglich in Divisionen und später auch in Brigaden gegliedert. Ein Temp-S-Raketenregiment bestand neben weiteren Truppenkörpern, aus zwei bis drei Raketenbatterien. Jede dieser Batterien war mit zwei 9P120-Startfahrzeugen ausgerüstet. In Einzelfällen konnte eine einzelne Batterie mit bis zu fünf Startfahrzeugen ausgerüstet werden.[1][3]
In den 1960er und 1970er-Jahren waren die Temp-S-Regimenter in den Baltischen Sowjetrepubliken, Weißrussland auf der Krim und in der Grenzregion zur Volksrepublik China stationiert. Sie sollten auf Frontebene gegen taktische und strategische Ziele auf einem europäischen und asiatischen Gefechtsfeld eingesetzt werden.[2][5]
Anfangs der 1980er-Jahre wurde die Temp-S auch außerhalb von der Sowjetunion stationiert. Die Verlegung von Temp-S-Raketenbrigaden erfolgte als Reaktion auf die Stationierung von U.S. MGM-31 Pershing II-Mittelstreckenraketen und BGM-109G Gryphon-Marschflugkörpern in Westeuropa. Während der 1980er-Jahre war die Temp-S bei den Truppenkontingenten der Sowjetarmee in der Gruppe der Sowjetischen Streitkräfte in Deutschland (DDR) sowie in der ČSSR stationiert. Stationierungsorte in der DDR waren die Operationsbasen in Königsbrück, Bischofswerda, Waren und Wokuhl. Im Jahr 1987 waren in der DDR 34 9P120-Startfahrzeuge und 54 Raketen stationiert.[7] In der ČSSR waren die Temp-S in Hranice na Moravě auf dem Truppenübungsplatz Libava stationiert.[3] Dort waren 24 9P120-Startfahrzeuge und 39 Raketen stationiert.[7] U.S.- und NATO-Experten sahen die Temp-S als eine effektive Zweitschlagswaffe, mit der aber auch ein erfolgreicher Erstschlag geführt werden konnte.[5]
Abrüstung
Während den Verhandlungen zum INF-Abrüstungsabkommen im Jahr 1987 deklarierte die Sowjetunion 135 9P120-Startfahrzeuge sowie 506 9M76/B-Raketen.[7] Davon befanden sich 115 Startfahrzeuge und 220 Raketen bei der Truppe; der Rest war in Depots eingelagert. Zur Umsetzung des INF-Vertrages wurden alle Temp-S in die Sowjetunion zurücktransportiert. Dort wurden die Raketen entweder gestartet, gesprengt oder verschrottet. Die Vernichtung der Temp-S fand in Saryozek (Kasachstan), Stankawa (Weißrussland) und in Kapustin Jar statt. Die letzte Rakete wurde am 25. Juli 1989 auf der Raketenbasis Saryozek in gesprengt.[7]
Verbreitung
In den 1980er-Jahren bekundeten der Irak, Syrien, Kuba und Libyen Interesse an der 9K76 Temp-S. In allen Fällen verweigerte aber die Sowjetunion einen Export von diesem Raketentyp. Die Temp-S kam nur innerhalb der Sowjetunion zum Einsatz und wurde nie exportiert.[4][5]
Weblinks
- Globalsecurity.org
- www.dtig.org (Memento vom 29. Oktober 2013 im Internet Archive) Übersicht ballistischer Lenkwaffen aus russischer Produktion (deutsch)
Einzelnachweise
- Militaryrussia.ru: Комплекс 9К76 Темп-С, ракета 9М76 - SS-12 / SS-22 SCALEBOARD
- Zadocs.ru: Ракетный комплекс Темп-С
- Blisty.cz: Raketový systém kratšího doletu Temp-S v Československu
- Missilery.info: Оперативно-тактический ракетный комплекс 9К76 Темп-С
- Duncan Lennox: Jane’s Strategic Weapon Systems. Jane’s Information Group, 2005, ISBN 0-7106-0880-2.
- Сайт Федорова Льва Александровича: Химическое разоружение по-русски (russisch)
- Joseph P. Harahan: On-Site Inspections Under The INF Treaty – A History of the On-Site Inspection Agency and Treaty Implementation, 1988-1991. Library of Congress – U.S. Government Printing Office, 1993, ISBN 0-16-041719-8.