Zauberspruch
Ein Zauberspruch ist ein Beschwörungstext, der eine bestimmte magische Wirkung hervorbringen soll. Zaubersprüche sind der Verbalmagie zuzuordnen. Eine exakte Abgrenzung des Zauberspruchs zum Segen ist nicht möglich.[1] Zaubersprüche gehören zu den ältesten Zeugnissen in der deutschen Literatur, beispielsweise die Merseburger Zaubersprüche (wahrscheinlich im 8. Jahrhundert entstanden) und die „Höllenzwänge“, die in Grimoires enthalten sind. Aus der Antike sind Zaubersprüche unter anderem bei Marcellus Empiricus, Pelagonius und Plinius dem Älteren erhalten.
Geschichte des Zauberspruches
In der vorchristlichen, heidnisch-germanischen Frühzeit dienten Zaubersprüche dazu, „durch die Macht des gebundenen Wortes die magischen Kräfte, die sich der Mensch dienstbar machen will, nutzbar zu machen“.[2] Bei Krankheiten etwa, denen eine dämonische Ursache zugrundegelegt wurde, kamen Zaubersprüche zum Einsatz, um den jeweiligen Dämon zum Verlassen des Erkrankten zu bewegen.[3] Die im Mittelalter aufgezeichneten Zaubersprüche stammen zumindest konzeptionell aus antik-römischen, germanischen und von Mönchen und Mönchsärzten aufgetanen Quellen und sind meist christlich geprägt oder beeinflusst.
Für diese mittelalterlichen Zaubertexte wurde eine Klassifikation nach formalen, inhaltlichen und funktionalen Kriterien in Beschwörungen und magischen Heilsegen erarbeitet. Die wesentlichen Strategien von a) Befehl an Dämonen, b) Analogie zwischen Welterschaffung, Wunder, hervorragendem historischen Ereignis und dem Heilungsversprechen für den Kranken sowie c) einer den Kranken fesselnden Erzählung (Historiola) bieten einen Überblick auf die Variabilität der Texte.[4] Mit Rückgriff auf die umfangreichste deutsche Zauberspruchsammlung – das Corpus der deutschen Segen- und Beschwörungsformeln (CSB) mit etwa 28000 Texten – am Institut für Sächsische Geschichte und Volkskunde Dresden entstand zunächst 1958 eine motivorientierte,[5] später im Jahre 2000 eine auf die mythisch-archaischen Ursprünge und strukturalistischen Fragen im Sinne von Claude Lévi-Strauss eingehende Bearbeitung.[6] Eine Untersuchung nach Kriterien der Sprechakttheorie an hochmittelalterlichen Sprüchen aus Trier, Bonn und Paris orientiert sich an den illokutionären Strategien.[7] Da die meisten mittelalterlichen Zaubersprüche als verbale Therapie von Mönchsärzten und Ärzten als Begleitung zu einer pragmatisch-medizinischen Maßnahme dienten, waren sie Teil einer frühen Ganzheitsmedizin. Auf dieser Grundlage und unter Berücksichtigung auch ihrer neurobiologischen Wirkfaktoren in limbischen und präfrontalen Gebieten, wurden die prägnantesten Texte aus ärztlich-psychotherapeutischer Sichtweise untersucht.[8]
In der modernen, darstellenden Zauberkunst dienen Zaubersprüche hauptsächlich zur Ablenkung des Publikums.
Berühmte Zaubersprüche
- Der Lorscher Bienensegen gehört zu den ältesten gereimten Dichtungen in deutscher Sprache. Der Spruch wurde im 10. Jahrhundert in althochdeutscher Sprache kopfüber an den Rand einer Seite der apokryphen Visio St. Pauli aus dem frühen 9. Jahrhundert geschrieben (heute Bibliotheca Vaticana: Pal. lat. 220, fol. 58r). Das Manuskript stammte ursprünglich aus dem Kloster Lorsch.
- Die im Kloster Tegernsee gefundene Wurmbannung des 10. Jahrhunderts in der Münchner Bibliothek (Clm 18524b) von einer Salzburger Hand geschrieben, mit einer Parallele in der Wiener Bibliothek, vertreibt den Wurm (z. B. eine tiefe Entzündung) an die Oberfläche: „Geh heraus, Nesso, mit neun kleinen Nesslein, aus dem Mark in die Ader, von der Ader in das Fleisch, vom Fleisch in das Fell …“. In altindischen Zaubertexten (Atharvaveda) fanden sich dazu Parallelen, sodass eine indogermanische Verwandtschaft vermutet wird. (siehe auch: Wikisource: Althochdeutsche Zaubersprüche)
- Die Herkunft der Merseburger Zaubersprüche, die im 9. – 10. Jahrhundert gefunden wurden, ist unbekannt. Sie entstammen einer theologischen Sammelhandschrift aus Merseburg, daher ihr Name. Inhaltlich geht es in den Sprüchen um die Befreiung eines Gefangenen und die Heilung einer Beinverletzung.[9]
Berühmte Zauberformeln
- Simsalabim: Der Duden gibt an, dass die Herkunft des Spruches ungeklärt ist, möglicherweise aber auf das lateinische similia similibus (Gleiches mit Gleichem[10] (heilen), siehe auch Analogiezauber und Homöopathie) zurückzuführen ist. Nach anderer Meinung propagierte Kalanag ihn als seine Kreation, während andere Historiker dem dänisch-amerikanischen Zauberkünstler Dante die Idee zuschreiben.
- Für die Herkunft von Hokuspokus gibt es verschiedene Theorien:
- In den Einsetzungsworten der christlichen Liturgien (auch Wandlung von Brot und Wein in Leib und Blut Christi genannt) heißt es „Hoc est enim corpus meum“ (Das ist mein Leib). Man vermutet, dass das Latein des Priesters nicht verstanden wurde und so eine volkstümliche Verballhornung entstand: „Jetzt macht er wieder seinen Hokuspokus.“
- Ein Taschenspieler wurde im England des 17. Jahrhunderts nach einem oft verwendeten (und nichts bedeutenden) Zauberspruch aus dem 16. Jahrhundert hax pax max deus adimax „Hocos pokos“ genannt. Die Herkunft dieses Zauberspruchs ist aber wahrscheinlich wieder auf die Einsetzungsworte zurückzuführen.
- Abrakadabra erinnert an Abraxas und ist ein bereits aus dem 3. Jahrhundert bekanntes Zauberwort, das Unglück und Krankheit abwehren und gute Geister herbeirufen soll. Hebräisch bedeutet abra ke dabra „ich werde erschaffen, wie ich sprechen werde“.
- ABRAHADABRA ist nach Aleister Crowley das letzte Wort des Äons in der Thelema.
- Marcellus Empiricus gab in seiner Schrift De medicamentis als Zauberspruch gegen Bauchkneifen an: ADAM BEDAM ALAM BETUR ALAM BOTUM.[11]
- sator arepo tenet opera rotas ist ein Palindrom, untereinander geschrieben bildet es ein Magisches Quadrat.
- Der Satz ata gibor le-olam adonai ist sehr häufig als Abkürzung AGLA eingearbeitet. Hebräisch heißt es „Du Gott bist allmächtig“ und stammt aus dem jüdischen Achtzehnbittengebet.
- Ciáralo-Báralo, italienisch klingend, ist eine in Kroatien bekannte Zauberformel, die vielleicht früher magische Bedeutung hatte, heute aber in Kindergeschichten und Märchen vorkommt. Auffallend ist die Lautähnlichkeit mit dem deutschen Wort „zaubern“.
- Liliths Schem Hammeforasch, der geheime Name des Herren, Zauberformel.
- mutabor, lateinisch „ich werde verwandelt werden“, ist das zentrale Zauberwort im Märchen Die Geschichte von Kalif Storch von Wilhelm Hauff.
- Bibbidi-Bobbidi-Boo, wurde von der guten Fee in Cinderella (1950) verwendet.
- Bibi Blocksberg hext mit eene meene (neben seltener Aberakadabera und einmal am dam dei) und der Schlussformel hex hex.
- Salmei, Dalmei, Adomei und Schampampurasch lauteten die Zaubersprüche von Catweazle, der Titelfigur einer populären Fernsehserie der 1970er Jahre.
- Sesam, öffne Dich ist ein Zauberspruch aus der Geschichte Ali Baba und die vierzig Räuber.
Die Wirkung von Zaubersprüchen
Wirkungsfragen über historisch angewendete Zaubersprüche werden oft mit großer Skepsis oder geradezu mit Enthusiasmus behandelt. Deshalb sind die Bedingungen von Form und Inhalt des Textes und von der Situation, in der ein Zauberspruch – hier Heilzauberspruch und Beschwörung – angewandt wurde, jeweils genauer zu analysieren. Empirische Beobachtungen haben schlagkräftige Argumente für Kreislauf- und Gefäßwirkungen erbracht; Extremsituationen sind Voodoo- Bedingungen mit Todesfällen.[12] Im Rahmen der Überlieferung im europäischen Raum wurden die Texte seit über 1000 Jahren teilweise geheim als wertvoller Tradierungsschatz betrachtet und im Hochmittelalter nachweislich auch von Ärzten herangezogen.[13]
Seit 10–15 Jahren sind aufgrund bildgebender Verfahren (Magnetresonanztomographie MRT) und auf der Basis des EEGs (Elektroenzephalogramm) mit ereigniskorrelierten Potentialen (EKP) Kriterien erarbeitet worden, die auch für Gehirne vor 1000 Jahren postuliert werden müssen. Voraussetzung für exakte Folgerungen sind allerdings die Annahme einer Notfallsituation des Kranken mit hormonell gegebenem Erwartungsdruck zur Aufnahme der psychoperformativen Imagination und eine kulturkonforme Textgestaltung evtl. mit hypnoseartigen Praktiken durch Schamanen, Mönchsarzt oder Mediziner.[14]
Als evidente Hirngewebsreaktionen liegen folgende Ergebnisse vor:
a) Die Metaphorik der Benennung eines Übels als Dämon, z. B. bei der Beschwörung des Albtraums, wandelt Horror, Angst und Spannung in verhandelbare greifbare Elemente, indem sie per „Labeling Emotions“ das limbische System entlastet und das kognitiv arbeitende Stirnhirn rechts erregt.[15]
b) Die in Zaubersprüche eingebauten Holzwegformeln (z. B. Adynata: „Gegen Kolik: Es steht ein Baum in Meeresmitte und da hängt ein Gefäß voll Gedärme, drei Jungfrauen gehen herum, zwei binden an, eine löst auf“ oder „Ich beschwöre euch, Dämonen, ihr sollt Steine fressen!“) lassen sich als Inkongruenzeffekt, d. h. als kognitives Überraschungspotential N400 mit EEG abgreifen.[16]
c) Mit der Inszenierung therapeutischer Bilder und Wortfiguren, Regressionen und Erzählungen können zugleich kognitive und emotionale innere ‚Bibliotheken‘ zur Mobilisierung von Ressourcen angeregt werden. Dies ist in modernen symbolbezogenen Psychotherapien (Hypnotherapie, Katathymes Bilderleben, Psychodrama u. a.) als erfolgreich getestet.[17]
d) Die Induzierung von Leidens- und Erlösungsformeln, besonders in mittelalterlichen Gebetsbeschwörungen, kann zu einer introversiven Katharsis mit Erregung der mittleren Gehirnstrukturen und zu Kreislaufveränderungen mit Wirkung auf das homöostatische Gleichgewicht ebenso beitragen wie die extroversive Katharsis mit befehlenden Dämonenbannungen für Erregung lateraler und frontaler Hirngebiete.[18]
Mit den hirnorganischen Evidenznachweisen, die neurolinguistisch eine Reaktion von Hirngewebe zeigen, kann allerdings eine jeweils wirklich nachhaltige therapeutische Wirkung für historische Spruchvermittlung immer nur als möglich, nicht als gesichert gelten.
Siehe auch
Literatur
Quellen, Ausgaben
- Alf Önnerfors (Hrsg.): Antike Zaubersprüche Zweisprachig. Reclam, Stuttgart 1991, ISBN 3-15-008686-8 (altgriechisch, Latein, deutsch).
- Gerhard Eis: Altdeutsche Zaubersprüche. Berlin 1964.
- Irmgard Hampp: Beschwörung – Segen – Gebet. Untersuchungen zum Zauberspruch aus dem Bereich der Volksheilkunde. Stuttgart 1961 (= Veröffentlichungen des staatlichen Amtes für Denkmalpflege Stuttgart. C, 1).
- Otto Schell: Bergische Zauberformeln. In: Zeitschrift des Vereins für Volkskunde 16, 1904, S. 170–176.
- Elias von Steinmeyer: Die kleineren althochdeutschen Sprachdenkmäler. Weidmannsche Buchhandlung, Berlin 1916.
- Gustav Storms: Anglo-Saxon Magic. The Hague 1948.
Forschungsliterartur
- Wolfgang Beck: Zauberspruch. In: Gert Ueding (Hrsg.): Historisches Wörterbuch der Rhetorik Band 9 St–Z. Max Niemeyer Verlag, Tübingen 2009, Sp. 1483–1486 (kostenpflichtig Historisches Wörterbuch der Rhetorik Online bei de Gruyter).
- Christian Braun (Hrsg.): Sprache und Geheimnis. Sondersprachenforschung im Spannungsfeld zwischen Arkanem und Profanem. (= Lingua Historica Germanica 4). Akademie Verlag, Berlin 2012, ISBN 978-3-05-005962-4 (kostenpflichtig bei de Gruyter).
- Wolfgang Ernst: Beschwörungen und Segen. Angewandte Psychotherapie im Mittelalter. Böhlau Verlag, Köln/Weimar/Wien 2011, ISBN 978-3-412-20752-6.
- Friedrich Hälsig: Der Zauberspruch bei den Germanen bis um die Mitte des XVI. Jahrhunderts. Philosophische Dissertation Leipzig 1910.
- Achim Masser: Zaubersprüche und Segen. In: Reallexikon der deutschen Literaturgeschichte. Band 4, 1984, S. 957–965.
- Jonathan Roper: Zauberspruch. In: Rolf Brednich (Hrsg.) et al.: Enzyklopädie des Märchens. Handwörterbuch zur historischen und vergleichenden Erzählforschung. Band 14. de Gruyter, Berlin/Boston 2015, ISBN 978-3-11-040829-4, Sp. 1197–1201.
- Rudolf Simek: Zauberspruch und Zauberdichtung. In: Reallexikon der Germanischen Altertumskunde. Band 34. de Gruyter, Berlin / New York 2007, ISBN 978-3-11-018389-4, S. 441–446.
Einzelnachweise
- Wolfgang Wegner: Zauberspruch. In: Werner E. Gerabek, Bernhard D. Haage, Gundolf Keil und Wolfgang Wegner (Hrsg.): Enzyklopädie Medizingeschichte. Walter de Gruyter, Berlin / New York 2005, S. 1524–1526.
- Rudolf Simek: Lexikon der germanischen Mythologie. 2., erg. Auflage. Kröner, Stuttgart 1995, ISBN 3-520-36802-1.
- Wolfgang Wegner: Zaubersprüche. In: Werner E. Gerabek, Bernhard D. Haage, Gundolf Keil, Wolfgang Wegner (Hrsg.): Enzyklopädie Medizingeschichte. De Gruyter, Berlin/ New York 2005, ISBN 3-11-015714-4, S. 1524–1526; hier: S. 1524 f.
- Irmgard Hampp: Beschwörung Segen Gebet. Stuttgart 1961.
- Adolf Spamer: Romanusbüchlein. Historisch-philologischer Kommentar zu einem deutschen Zauberbuch. Deutsche Akademie der Wissenschaften, Berlin 1958 (Aus seinem Nachlass, bearbeitet von Johanna Nickel.).
- Monika Schulz: Magie oder die Wiederherstellung der Ordnung. Frankfurt 2000.
- Christa Haeseli: Magische Performativität. Königshausen & Neumann, Würzburg 2011.
- Wolfgang Ernst: Beschwörungen und Segen. Angewandte Psychotherapie im Mittelalter. Böhlau Verlag, Köln / Weimar / Wien 2011.; zum Ansatz vgl. die Rezension des Mediävisten Albrecht Classen in: Mediaevistik. Internationale Zeitschrift für interdisziplinäre Mittelalterforschung. Band 25, 2012, S. 202 f. (aclassen.faculty.arizona.edu PDF).
- merseburg.de
- Vgl. Carl Werner Müller: Gleiches zu Gleichem. Ein Prinzip frühgriechischen Denkens. Wiesbaden 1965.
- Jutta Kollesch, Diethard Nickel: Antike Heilkunst. Ausgewählte Texte aus den medizinischen Schriften der Griechen und Römer. Philipp Reclam jun., Leipzig 1979 (= Reclams Universal-Bibliothek. Band 771); 6. Auflage ebenda 1989, ISBN 3-379-00411-1, S. 168 f. (Marcellus: Über Heilmittel, Kap. 28, 72–74).
- Lévi-Strauss: Strukturale Anthropologie. I, Paris 1985, (dt.:) Frankfurt/M. 1981², S. 183.
- Joachim Telle: Petrus Hispanus in der altdeutschen Medizinliteratur. Heidelberg 1972, S. 169–171, 367.
- Wolfgang Ernst:Gehirn und Zauberspruch. Archaische und mittelalterliche psychoperfor-mative Heilspruchtexte und ihre natürlichen Wirkkomponenten, Frankfurt/M. Bern Bruxelles New York Oxford u. a. 2013, S. 46–55.
- Lieberman, Matthew D. et al. (2011) Subjective responses to emotional stimuli during labeling, reappraisal and distraction, in: Emotion 11, 468–488.
- vgl. Friederici, Angela D., Menschliche Sprachverarbeitung und ihre neuronalen Grund-lagen, in: Meier, H. u. D. Ploog (Hg.:) Der Mensch und s. Gehirn, München 1998, S. 137–156.
- vgl. z. B. für die Hypnotherapie: Halsband, Ulrike: Neurobiologie der Hypnose, in Revenstorf, Dirk und Peter, Burkhard: Hypnose, Heidelberg 2009, S. 809f.
- Wolfgang Ernst: Gehirn und Zauberspruch, Frankfurt/M. u. a. 2013, S. 131–174.