Ukrainische Avantgarde
Die ukrainische Avantgarde bezeichnet eine künstlerische Epoche in der Ukraine zwischen den 1910er und 1930er Jahren.
Zum Begriff
Die früheste Verwendung des Begriffs der ukrainischen Avantgarde entstand während einer künstlerischen Diskussion anlässlich der vom Pariser Kunsthistoriker Andréi Nakov kuratierten Ausstellung Tatlins Traum in London im Jahr 1973. In dieser Ausstellung wurden unter anderem Werke von Wassili Jermilow und Alexander Bogomazow gezeigt.
Die ukrainischen Künstler leisteten einen wichtigen Beitrag für die internationale Avantgarde, wobei nicht unbedingt von einer spezifisch ukrainischen Avantgarde, sondern vielmehr von einer Avantgarde in der Ukraine die Rede sein muss. Das liegt daran, dass viele Künstler nicht unbedingt ethnisch mit der Ukraine verbunden waren, sondern vielmehr in dem Land ihrer künstlerischen Karriere nachgingen. Die avantgardistischen Künstler sind daher mehr als Teil einer europäischen Avantgarde zu verstehen, was auch deren Netzwerke und institutionellen Verbindungen bekräftigen.[1] In der Avantgarde in der Ukraine ist somit eine deutliche Internationalisierung der Kunst zu spüren, die sich dort weitaus stärker äußerte als etwa in der deutschen oder russischen Avantgarde.[2]
Wesen
Die ukrainische Avantgarde ist durch eine Synthese der Traditionen der ukrainischen Volkskunst mit der europäischen Moderne gekennzeichnet. Sie umfasst die Bereiche der Bildhauerei, Malerei, Literatur, Kino, Theater, Bühnenbild, Grafik, Musik und Architektur. Ein prägnantes Merkmal war die Orientierung nach Westeuropa und die Abkehr von Russland.[2] Zu den Avantgardisten zählen unter anderem die futuristische Strömungen, darunter die Kverofuturisten, die Panfuturisten und die Nova Generacija. Außerhalb dieser Gruppen wirkten zudem die ukrainischen Expressionisten und Imaginisten.
Zu den bekanntesten Künstlern zählen Kasimir Malewitsch, Alexander Archipenko, Wladimir Tatlin, Sonia Delaunay-Terk, Wassili Jermilow, Alexander Bogomazov, Aleksandra Ekster, David Burliuk, Vadym Meller und Anatol Petrytsky. Sie alle waren entweder durch Herkunft, Ausbildung, Sprache, nationale Tradition oder Identität mit der Ukraine verbunden, vor allem mit den Städten Kiew, Charkiw, Lemberg und Odessa.
Ein aktives und innovatives Zentrum der ukrainischen Avantgarde in den 1920er Jahren war die damalige Hauptstadt Charkiw, die international allerdings wenig Beachtung fand.[2] Dort entwickelten sich vor allem die Entwicklungen des Bauhauses zu einem Höhepunkt, welche in Deutschland durch die Politik immer mehr Restriktionen unterlag.
Literatur
Die ukrainische Literatur der Avantgarde zeichnet sich durch die Verwendung der eigenen Sprache, den Rückgriff auf ukrainische Traditionen und den Einbezug einer nationalen Komponente aus. Diese Merkmale demonstrierten eine Zugehörigkeit zu einem kulturell europäischen Kontinuum, wobei sich auch ein ambivalenter Umgang mit dem Zeitgeist des Westens wiederfindet, welcher oftmals in polemischen Diskursen geführt wurde.[2] Wichtiger literarische Vertreter sind Mychajl' Semenko, Geo Škurupij, Valer'jan Poliščuk und Majk Jogansen.
Bildende Kunst
In der bildenden Kunst der ukrainischen Avantgarde stieß die künstlerische Moderne aus Deutschland auf starke Resonanz. In der Fotografie wurden vor allem Lázló Moholy-Nagy und Walter Peterhans rezipiert, welche beide in der Fotografie-Abteilung des Bauhaus tätig waren. Die ukrainischen Künstler interessierten sich allen voran für das Konzept des Neuen Sehens, für experimentelle und neue Blickwinkel und Perspektiven. Wichtige Vertreter sind unter anderem Dan Sotnyk und Leonid Skrypnyk.
Literatur
- Myroslav Shkandrij: Avant-Garde Art in Ukraine, 1910–1930: Contested Memory, Academic Studies Press: Boston 2019, ISBN 978-1-61811-975-9.
- Vera Faber: Die Ukrainische Avantgarde zwischen Ost und West. Intertextualität, Intermedialität und Polemik im ukrainischen Futurismus und Konstruktivismus der späten 1920er-Jahre, transcript: Bielefeld 2019, ISBN 978-3-8376-4606-1.
- Valentin Belentschikow: Zu einigen Besonderheiten der ukrainischen literarischen Avantgarde, in: Zeitschrift für Slawistik, Bd. 44, Nr. 2, 1999, S. 181–197.
- M. Dmitrieva: Ukrainische Avantgarde-Zeitschriften im internationalen Kontext, in: Dre’ky, Pál / Ke’kesi, Zoltán / Kelemen, Pál (Hrsg.): Mitteleuropäische Avantgarden. Intermedialität und Interregionalität im 20. Jahrhundert, Peter Lang: Frankfurt am Main u. a. 2006, S. 67–86, ISBN 978-3-631-55138-7.
Weblinks
Einzelnachweise
- Myroslav Shkandrij: Avant-garde art in Ukraine, 1910–1930: contested memory. Boston 2019, ISBN 978-1-61811-976-6, S. xi.
- Vera Faber: Die Rezeption der deutschen Moderne in der ukrainischen Avantgarde. In: Zeitschrift für Slawistik. Band 60, Nr. 2, 1. Juli 2015, ISSN 2196-7016, S. 228–241, doi:10.1515/slaw-2015-0017.