Timosthenes von Rhodos
Timosthenes von Rhodos (altgriechisch Τιμοσθένης) war ein griechischer Seefahrer und Geograph des 3. Jahrhunderts v. Chr.
In ägyptischen Diensten
Als Timosthenes 270 v. Chr. von Ptolemaios II. nach Ägypten geholt und zum Oberbefehlshaber der Flotte ernannt wurde, hatte er sich bereits einen Namen gemacht und galt in Fragen, die den Wind und die Seefahrt betreffen als der führende Experte. Er hatte die Gewässer der gesamten europäischen Mittelmeerküste befahren, kannte alle Häfen am Roten Meer und an der nordafrikanischen Küste bis Gades (alter Name der Stadt Cádiz) und war vielleicht auch bis in den Atlantik vorgestoßen.[1] Seine Expeditionen wurden unter anderem auch dadurch begünstigt, dass er sie in relativ friedlichen Zeiten unternehmen konnte. Der Erste Syrische Krieg hatte 271 v. Chr. mit einem Sieg für Ägypten geendet und bis zum Zweiten Syrischen Krieg (260–253 v. Chr.) blieb noch Zeit. Die Stellung Ägyptens war unangefochten und die Beziehungen im Inneren und Äußeren können als gut und stabil angesehen werden.
Werke
- Sein Opus magnum hatte er in den Jahren 280 bis 270 v. Chr. mit der 10‑bändigen Schrift „Über die Häfen“ (griechisch Περὶ λιμένων) geschrieben und die damit beste Küstenbeschreibung seiner Zeit vorgelegt. Sie erlangte als „Periplus des Timosthenes“ Berühmtheit und blieb über Jahrhunderte ein oft zitiertes Werk.
- In der geografischen Abhandlung „Über die Inseln“ (Περί νήσων) beschrieb er Zypern, Thera, Sizilien, Kephallēnía und eine Vielzahl von Inseln zwischen Lesbos und der ionischen Küste.
- Seine Stadiasmoi (Σταδιασμοί) waren genaue Beschreibungen von Seerouten, die er zusammen mit Epitomen der 10 Bände seines Hauptwerks erstellte und mit Karten und Windtafeln auf Grundlage der „Meteorologica“ des Aristoteles vervollständigte.[2] Als Erster setzte er Rhodos ins Zentrum seiner Karten, was von seinen Nachfolgern als Reverenz an ihn fortgesetzt wurde.
All diese Schriften scheinen in der Spätantike verloren gegangen zu sein und liegen uns nur als Fragmente in den Werken anderer Autoren vor.
Fortentwicklung der Windrose
Von besonderer Bedeutung ist Timosthenes auch, da er vielleicht der erste der griechischen Geographen ist, der über die Behandlung der Winde als lediglich meteorologisches Phänomen hinausgeht und beginnt, sie richtig als Punkte geographischer Richtung zu betrachten. Dem griechisch-römischen Arzt und Geographen Agathemeros (blühte um 250 n. Chr.) ist es zu verdanken, dass die Windtafel des Timosthenes wenigstens als Fragment erhalten blieb. Ihm zufolge ordnet Timosthenes jedem der 12 Winde – relativ zu Rhodos – geographische Regionen und Völker zu.
Die folgende Liste basiert in erster Linie auf Agathemeros’ Überlieferung.[3]
- Aparctias (N), dieser Hauptwind steht für die ‚Skythen jenseits von Thrakien‘
- Der Nebenwind Boreas (NNO) entspricht dem ‚Pontus, Maeotis und die Sarmaten‘
- Der Nebenwind Caecias (NO) steht für das ‚Kaspische Meer und die Saken‘
- Apeliotes (O), der Hauptwind für die Himmelsrichtung 'Ost' steht für 'Baktrien‘
- Der Nebenwind Euros (SO) steht für den ‚Indus Fluss und die Inder‘
- Der Nebenwind Phoenicias bzw. Euronotos (SSO) entspricht dem ‚Roten Meer‘ und 'Aithiopia (wahrscheinlich Axum)‘
- Notos (S), dieser Hauptwind steht für die ‚Aithiopier jenseits von Ägypten entsprechend (Nubien)‘
- Der Nebenwind Leuconotos alias Libonotos (SSW) korrespondiert mit den ‚Garamanten jenseits der Großen Syrte‘
- Der Nebenwind Lips (SW) entspricht den ‚Äthiopiern im Westen jenseits der Mauroi (Numidien, Mauri)‘
- Zephyros (W), der Hauptwind für den ‚Westen' liegt an den ‚Säulen des Herakles, der Grenze von Afrika und Europa‘
- Der Nebenwind Argestes (NW) steht für ‚Iberien bzw. Hispanien‘
- Der Nebenwind Thrascias / Circius (NNW) entspricht den ‚Kelten‘.
In vielerlei Hinsicht ist Timosthenes’ Neuerung ein bedeutender Schritt bei der Entwicklung der Kompassrose. Es ist sehr wahrscheinlich, dass Timosthenes die Weiterentwicklung von Aristoteles 10‑strahliger Windrose zu einer 12‑strahligen Windrose zu verdanken ist. Er erreichte dies durch die Einführung eines Winds aus Süd‑Süd‑West (Leuconotos alias Libonotos), den Aristoteles und Theophrastos nicht berücksichtigt hatten, und ersetzt einen im aristotelischen Windsystem lediglich lokal auftretenden Wind durch Euronotos als nun allgemeingültigen Süd‑Süd‑Ost Wind.
Hypothese
Möglicherweise ist Timosthenes nicht nur als Navigator und Erneuerer der Windrose zu würdigen, sondern auch als Geograph, der seine Kenntnisse nutzte, um eine grundlegende Karte der europäischen Mittelmeerküste zu erstellen. In diesem Fall wäre er unmittelbarer Vordenker, wenn nicht Initiator der Weltkarte, die Eratosthenes zugeschrieben wird. Hierfür könnten folgende Belege sprechen:
- Seine (im Fragment erhaltene) Wind- und Völkertafel ist in Bezug auf die Seefahrt allein nur von eingeschränktem Nutzen.
- Timosthenes befuhr und vermaß den Persischen Golf nach Länge und Breite, gemessen in Segeltagen.[4]
- Er berechnete außerdem die Entfernungen zwischen verschiedenen Orten im Mittelmeerraum.[5]
- Die Teilung Südeuropas in drei Landzungen (ἄθξαη), kann ebenfalls auf Timosthenes zurückverfolgt werden. Es war schließlich für den Navigator nur allzu naheliegend in jedem der drei großen südlichen Küstenvorsprünge (Iberische Halbinsel, Italien, Griechenland) das wesentliche geografische Merkmal der jeweiligen Region zu sehen.
Rezeption
Spätere Geographen wie Strabon und Eratosthenes sowie der Naturforscher Plinius beriefen sich auf Timosthenes.[6] Artemidor von Ephesos (100 v. Chr.), der bedeutendste Fachgeograph zwischen Polybios und Strabon, ging sogar so weit, Eratosthenes Plagiat an Timosthenes vorzuwerfen, wie es aus dem Auszug des Epitomators Markianos von Herakleia (Marcianus Heracleensis) (blühte ca. 300 n. Chr.) hervorgeht.[7] Strabon berichtet dagegen nur: „Eratosthenes gibt Timosthenes vor jedem anderen Schriftsteller den Vorzug, obwohl er sich oftmals gegen ihn wendet“.[8]
Agathemeros gibt in seiner Schrift „Geographia“ die acht Hauptwinde an und beruft sich auf Timosthenes, von dem er sagt: „... er habe ein System von zwölf Winden durch Hinzufügen von vier zu den bis dahin gebräuchlichen acht Winden entwickelt“.[9] Agathemeros irrt hier - seit Aristoteles wurden zumindest zehn Winde berücksichtigt, und nicht acht.
Moderne Wissenschaftler vermuten, dass Timosthenes die Auflistung der Winde für die Epitome seiner Navigationshilfen genutzt haben könnte, was Agathemeros’ Eifer erklären würde, Timosthenes als den „Erfinder“, der 12‑strahligen Windrose zu rühmen.[10] Timosthenes’ geographische Liste ist in der Arbeit von Johannes von Damaskus im 8. Jahrhundert und einer Prager Handschrift aus dem frühen 14. Jahrhundert, fast wörtlich wiedergegeben.[11] In der pseudo-aristotelischen Schrift De Mundo (gewöhnlich einem anonymen Nachahmer von Poseidonios zugeschrieben, entstanden wahrscheinlich zwischen 50 und 140 n. Chr.)[12] sind die Namen der Winde nahezu identisch mit Timosthenes’ Bezeichnungen.
Trotz dieser Verdienste fällt Timosthenes’ Würdigung in der Neuzeit eher bescheiden aus und außer dem Mount Timosthenes in der Antarktis, der nach ihm benannt ist, erinnert wenig an ihn.[13]
Trivia
Einen weiteren Blick auf das Leben des Timosthenes gestattet Strabon, indem er berichtet, Timosthenes habe mit einer „pythischen Weise“ an den Pythien in Delphi teilgenommen. Wie stets bei der „pythischen Weise“, hat auch Timosthenes’ Lobgesang, begleitet von Flöte und Kithara, den Wettstreit zwischen Apollon und der Schlange Python gefeiert.[14] Der Bericht Strabons ist nicht gänzlich gesichert, da die entsprechende Stelle im Text wahrscheinlich eine Lücke aufweist und Timosthenes möglicherweise nicht als Komponist, sondern als Gewährsmann genannt wird.[15] So oder so ist es jedoch ein Beleg für die Stellung, die Timosthenes innehatte.
Literatur
- Friedrich Gisinger: Timosthenes 3. In: Paulys Realencyclopädie der classischen Altertumswissenschaft (RE). Band VI A,2, Stuttgart 1937, Sp. 1310–1322.
- Hans Hauben: Timosthène et les autres amiraux de nationalité rhodienne au service des Ptolémées. In: Proceedings of the International Scientific Symposium „Rhodes: 24 centuries“. 1.–5. Oktober 1992. Athen 1996, S. 220–242.
- Doris Meyer: Hellenistische Geographie zwischen Wissenschaft und Literatur. Timosthenes von Rhodos und der griechische Periplus. In: Wolfgang Kullmann, Jochen Althoff, Markus Asper (Hrsg.): Gattungen wissenschaftlicher Literatur in der Antike. (= ScriptOralia Band 95). Narr, Tübingen 1998, S. 193–215.
Einzelnachweise
- Plinius der Ältere, Naturgeschichte, 6, 35-36 (vgl. Hesperiæ = äußerster Westen).
- Hugo Berger: Die geographischen Fragmente des Eratosthenes Teubner. Leipzig 1880, S. 209 Anm. 3 (Volltext).
- Geographica antiqua S. 473. bzw. Geographi graeci minores S. 179–180.
- Plinius der Ältere, Naturgeschichte, 6, 33.
- Plinius, Naturgeschichte, Kapitel 5, 9 und Kapitel 5, 35.
- Beispiel für Zitate mit Hinweis auf Timosthenes.
- Schmid – Christ – Stählin, Geschichte der griechischen Literatur, S. 423.
- Strabon, Geographica, 2, 1, S. 353. (englisch).
- Geographi graeci minores S. 178. bzw. Geographica antiqua S. 472.
- D'Avezac, Aperçus historiques sur la rose des vents, 1874, S. 19. (französisch).
- Johannes von Damaskus, Orthodoxou Pisteos / De Fide Orthodoxa 2, 8 S. 899–902.
- Übersetzung von E. S. Forster, 1914, Works, vol. 3, S. 159 ff.
- Mount Timosthenes auf google.maps.
- Strabon, Geographica 9, 3, S. 363. (englisch).
- Ludwig Friedlaender: Darstellungen aus der Sittengeschichte Roms. 2. Band. 9. neu bearbeitete und vermehrte Auflage, besorgt von Georg Wissowa. Hirzel, Leipzig 1920, S. 168 Anm. 3 (Digitalisat); Hugo Riemann: Handbuch der Musikgeschichte. Band 1, 1. Zweite Auflage. Leipzig 1919, S. 63–65; Heinrich Guhrauer: Der pyhtische Nomos. In: Jahrbücher für klassische Philologie. Supplementum 8. 1875–1876, S. 311–351.