Stettiner Tunnel
Der Stettiner Tunnel (auch Fußgängertunnel Schwartzkopffstraße genannt) ist ein teilweise zugeschütteter Fußgängertunnel unter dem Park auf dem Nordbahnhof, dem Gelände des ehemaligen Stettiner Bahnhofs, in Berlin. Als erster Fußgängertunnel Berlins 1896 eröffnet, diente er seinerzeit mangels anderer Querverbindungen als Verbindungsglied zwischen der Schwartzkopffstraße in der Oranienburger Vorstadt und der Gartenstraße im Ortsteil Gesundbrunnen.
Geschichte
Im Laufe der Jahre siedelten sich immer mehr Anwohner um den Stettiner Bahnhof an, einen der größten Berliner Kopfbahnhöfe. Zunächst genügte ein einfacher Fußgängerüberweg als Verlängerung der Schwartzkopffstraße über die Gleisanlagen des Fernbahnhofs als Querverbindung zwischen den dicht besiedelten Mietskasernen in der Gartenstraße und den Maschinenbau-Fabriken entlang der Chausseestraße.
Als jedoch 1895 die königliche Eisenbahndirektion die Umgestaltung und Höherlegung des Stettiner Bahnhofs beschlossen hatte, wurden auch die Bedingungen für einen Fußgängertunnel präzisiert, den die städtische Baudeputation bereits 1891 mit einer Entwurfsskizze gefordert hatte. Unter den Voraussetzungen, dass der Tunnel in seiner ganzen Länge gewölbt gebaut wird, sich keine Licht- und Luftschächte zwischen den Gleisen befinden und die Stadtgemeinde für alle entstehenden Kosten aufkommt, beauftragte Karl von Thielen, der damalige preußische Minister der öffentlichen Arbeiten, die königliche Eisenbahndirektion, Verhandlungen mit dem Magistrat aufzunehmen.
Da der Tunnel vor der Höherlegung des Stettiner Fernbahnhofs und dem Bahnhofsneubau für den Stettiner Vorortbahnhof fertiggestellt werden musste, wurde das Eisenbahnbetriebsamt, welches unter Beteiligung von Armin Wegner auch die Bahnhofsbauten erstellte, mit dem Bau des Tunnels beauftragt.
Der Tunnel wurde am 1. Oktober 1896 fertiggestellt und zwei Tage später „für den Fußgängerverkehr geöffnet“.[1] Am 12. Februar 1898 erhielt der Fußgängertunnel seinen Namen ‚Stettiner Tunnel‘; gleichzeitig wurde der vorher namenlose, sich hier aufweitende Straßenabschnitt von der Pflugstraße bis zur Zugangstreppe des Tunnels in die Schwartzkopffstraße eingegliedert.[2]
In den 1920er Jahren war der Tunnel häufig Schauplatz von Kämpfen zweier rivalisierender Jugendbanden, deren Mitglieder an den jeweiligen Ausgängen des Fußgängertunnels wohnten.[3]
Auf den Treppen des Ausgangs zur Schwartzkopffstraße kam es am 26. Mai 1932 zwischen Kommunisten und Nationalsozialisten zu Auseinandersetzungen, bei denen angeblich sogar zwei Schüsse gefallen sind.[4] Nationalsozialisten verteilten in der Gegend des Gartenplatzes die Gauzeitung Der Angriff und auf dem Weg zur Schwartzkopffstraße durch den Tunnel wurden sie von den Kommunisten verfolgt, wobei es zu ersten Schlägereien kam. Ein Hilfspförtner der Eisenbahn, der am Tunnel Dienst hatte, vernahm „zwei Schüsse bezw. Detonationen“.[5] Die polizeilichen Ermittlungen wurden im Juni 1932 eingestellt, da nicht festgestellt werden konnte, ob Schüsse getätigt wurden und wer mit der Schlägerei begann.[6]
Als 1934 die Bauarbeiten für den Nord-Süd-Tunnel mit dem Abschnitt Humboldthain–Unter den Linden begannen, konnte der Stettiner Tunnel nicht gänzlich unterfahren werden. So entschied man sich während der relativ kurzen Bauphase von Oktober 1934 bis Dezember desselben Jahres, den Fußgängertunnel zu unterbrechen und zunächst über die gesamte Breite der neuen S-Bahn-Trasse durch ein hölzernes Provisorium nach oben zu verlegen.
Aus Eisenbeton wurde letztendlich eine rund zehn Meter breite podestartige Überbauung über dem darunter liegenden Tunnel errichtet. Von der Gartenstraße aus gesehen verläuft die dazugehörige Treppe mit zwölf Stufen gerade bis zum Antritt mit Podest und führt nach circa drei Metern wieder gerade hinunter mit Zwischenpodest mit jeweils sieben Stufen. Dieses westliche Stück der Anhebung der Sohle ragt in das äußere Gleis der Südrichtung (S-Bahn in Richtung Friedrichstraße) kurz nach der Einfahrt in den Nord-Süd Tunnel und ist auch heute noch gut an der Tunneldecke erkennbar.
Bereits bei einem der ersten Luftangriffe der Royal Air Force auf Berlin wurde in der Nacht zum 2. November 1940[7] ein Teil der Tunneldecke zerstört. Dabei wurden 18 Menschen verschüttet, von denen nur 8 überlebten.[8] Der zerstörte Deckenbereich wurde von Januar bis März 1951 repariert und mit Beton ausgegossen.[9]
Der Kalte Krieg machte auch vor dem Tunnel keinen Halt. Wurde zunächst nur mit (heute noch erkennbaren) Pfeilen darauf hingewiesen, dass das Portal in der Gartenstraße, nun im französischen Sektor der geteilten Stadt, sich nicht mehr im Demokratischen Sektor befindet, wurde der Tunnel bereits am 18. September 1952 von den DDR-Behörden vermauert.[10] Dennoch entschlossen sich engagierte Eisenbahner 1955, aus der Ruine des alten S-Bahnbetriebswerks ein Kulturhaus für Eisenbahner zu schaffen.[11] Dieses war durch die Schließung des dazugehörigen Bahnhofs nur noch vom Fußgängertunnel aus zu erreichen. Wann allerdings der unter Beibehaltung der architektonischen Vorgaben erfolgte Einbau des Übergangs zum Betriebswerk angelegt wurde, ist nicht bekannt.
In den Bauakten des Fußgängertunnels lassen sich jedoch Anfang des Jahres 1900 unter anderem vom „Bezirksverein der Oranienburger Vorstadt“[12] oder der Allgemeinen Elektricitäts-Gesellschaft[13] Forderungen an die Städtische Bau-Deputation nach einem parallel zur Chausseestraße verlaufenden Stichtunnel vom Stettiner Tunnel finden.
Nach dem Mauerbau 1961 wurde im Tunnel zusätzliches Mauerwerk eingezogen; der Todesstreifen befand sich nun direkt oberhalb des Tunnels. Seit 1969 fand sich der Tunnel nicht mehr auf den Stadtplänen.[14]
Der Stettiner Tunnel geriet in Vergessenheit und wurde durch die Deutsche Bahn AG erstmals 2002 begangen, um den Zustand der Unterführung festzustellen. Es wurden mehrere „Substanzschäden“ und eine „Verbauung“ durch zwei kreuzende Gasrohre der Größe DN 600 festgestellt, die zu DDR-Zeiten eingebaut wurden.
Der Bebauungsplan I-52 a Nordbahnhof,[15] der zu zahlreichen Umbauten auf dem ehemaligen Gelände des Stettiner Bahnhofs führte, sieht ein Gehrecht gemäß § 9 Abs. 1 Nr. 21 BauGB von der Schwartzkopffstraße zur Feldstraße vor.
Deshalb wurde im Mai 2005 der Tunnelbereich am bereits zu DDR-Zeiten abgetragenen Eingang Schwartzkopffstraße bei Straßenbauarbeiten freigelegt[16] und der Tunnel anschließend mit Betonplatten versiegelt, um die verlängerte Schwartzkopffstraße mit der am 18. November 2005 eröffneten Caroline-Michaelis-Straße zu verbinden.
Entlang der Caroline-Michaelis-Straße sollte zunächst eine S-Bahn-Abstellanlage entstehen, die durch die Wiedereröffnung des Nordrings benötigt wird. Dadurch sollte der provisorische ebenerdige Zugang von der Schwartzkopffstraße zum Park auf dem Nordbahnhof und damit zur Gartenstraße wieder unterbrochen werden. Doch eine Nachfolge des vor dem Kalten Krieg vorhandenen Fußgängertunnels, den die Deutsche Bahn als „sehr eng“ bezeichnet, wird es; anders als zunächst im Bebauungsplan vorgesehen, nicht geben. Grund hierfür ist die zu enge Bebauung entlang der Caroline-Michaelis-Straße. Stattdessen wurde zwischen den Bahnhöfen Tempelhof und Südkreuz auf dem Gelände des ehemaligen S-Bw Papestraße die Zugbildungsanlage Tempelhof errichtet.
Im November 2007 wurde das 1952 verschlossene Portal in der Gartenstraße geöffnet und zum Schutz vor Vandalismus zunächst nur mit einer Holzwand verschlossen, bevor ein Eisengitter Mitte Dezember des gleichen Jahres angebracht wurde.[17] Aus Anlass des Tages des offenen Denkmals im September 2008 wurde der Tunnel erstmals seit über 50 Jahren[18] der Öffentlichkeit zugänglich gemacht. Im Jahr 2017 bietet die Gedenkstätte Berliner Mauer weitere geführte Besichtigungen des Tunnels an.[19]
Verwaltet wird der Fußgängertunnel und der Park auf dem Nordbahnhof von der Grün Berlin GmbH.
Aufbau
Der mit einem Stichgewölbe überspannte Fußgängertunnel hatte bei seiner Eröffnung eine Länge von 176,65 Meter, eine Breite von 4 Meter und eine Höhe im Scheitel des Gewölbes von 2,8 Meter. Vom Bürgersteig der Gartenstraße (gegenüber der Feldstraße) ist der Tunnel gut sichtbar durch sein heute noch auffälliges Portal begehbar, von dem aus gerade mal sieben Stufen hinabführen. Damit beträgt die Überschüttung des Tunnels circa 2,20 Meter, auf der Höhe des Podestes nur 1,50 Meter.[20]
Von der Schwartzkopffstraße aus schützte ein eisernes Vordach die Stufen des Tunnelmunds vor Witterungseinflüssen. Beleuchtet wurde dieser von einer Bogenlampe. Der Eingang Schwartzkopffstraße existiert allerdings nicht mehr.
Der gesamte Weg im Tunnel wurde wiederum von 21 elektrischen Glühlampen beleuchtet, die sich jeweils am Gewölbescheitel befanden. Der gesamte Fußgängertunnel besteht aus „lasierten Riemchenfliesen“[17] und wurde bei seinen Umbauten mit diesen angeglichen. Die Gesamtkosten des Tunnelbaus betrugen 186.434 Mark (kaufkraftbereinigt in heutiger Währung: rund 1.411.000 Euro).
- Noch heute sichtbare Sektorenmarkierung unter dem Portal an der Gartenstraße.
- Direkt über dieser Mauer stand auch die Berliner Mauer, Blick Richtung Westen (Gartenstraße).
- Treppe über dem Nord-Süd-Tunnel der S-Bahn (Blick Richtung Schwartzkopffstraße)
- Etwa über dieser Mauer steht bis heute noch ein Stück der Hinterlandmauer
- Gleich hinter der Mauer: ehemaliger Aufgang zum Kulturhaus.
- Nummerierung (Blick Gartenstraße)
- Heutiges Ende des Tunnels, kurz vor der Schwartzkopffstraße. Dahinter befindet sich ein Gasrohr.
- Trümmer vom Portal in der Gartenstraße verstreut im Park
Literatur
- Amtsblatt der Königlichen Regierung zu Potsdam und der Stadt Berlin. Potsdam 1898, S. 86.
- Annalen für Gewerbe & Bauwesen. Band 40. F. C. Glaser Verlag, Berlin 1897, S. 223–239 u. Abb. S. 236 f.
- Bericht über die Gemeinde-Verwaltung der Stadt Berlin in den Verwaltungs-Jahren 1895 bis 1900. Erster Teil. Carl Heymanns Verlag, Berlin 1904, S. 98 f.
- Unterfahrung des Stettiner Fernbahnhofs in Berlin, Polensky & Zöllner, Berlin um 1935, S. 9 ff.
- Kathrin Chod; Herbert Schwenk; Hainer Weißpflug: Berlin Mitte, Das Lexikon, Stapp, Berlin 2001, S. 579. ISBN 978-3-87776-111-3.
Weblinks
- Bild vom Tunnelportal der Gartenstraße aus dem Jahr 1897
- Eröffnung des Parks am Nordbahnhof beim Bezirksamt Mitte auf berlin.de
Einzelnachweise
- Vgl. Lokalanzeigen in: Vossische Zeitung, 3. Oktober 1886.
- Amtsblatt der Königlichen Regierung zu Potsdam und der Stadt Berlin. Potsdam 1898, S. 86
- Andreas R. Kuhrt Eine Reise durch die Ackerstraße. Berlin 1997 – Online
- Wieder politische Zusammenstöße – Mehrere Verletzte. In: Vossische Zeitung, Nr. 252 Abendausgabe des 26. Mai 1932
- Abschrift aus dem Tagebuch des 4. Polizei-Reviers vom 27. Mai 1932
- Schlussbericht des 4. Polizei-Reviers vom 18. Juni 1932
- Artikel: „Wieder Krankenhaus und Wohnviertel – Bomben aus großer Höhe auf Berlin“. In: Berliner Lokal-Anzeiger, Abendausgabe des 2. November 1940, Titelseite
- Bundesarchiv; Bestand Ordnungspolizei: R –19 / 803.
- Magistrat von Groß-Berlin Abt. Verkehr und Stä[d]tische Betriebe: Stettiner Fußgängertunnel, Beseitigung eines Geschoßdurchschlages am östlichen Tunnelende (Gartenstraßenseite), Berlin 9. Januar 1951.
- Vgl. unter Lokales Vermauert. In: Nacht-Depesche, Nr. 218/3, 19. September 1952
- Fahrt frei: die Wochenzeitung der deutschen Eisenbahner, Heft 4, Berlin, 24. Januar 1956, S. 11
- 20. Februar 1900
- 11. Januar 1900
- Stettiner Fußgängertunnel. In: Straßennamenlexikon des Luisenstädtischen Bildungsvereins
- Bebauungsplan I-52 a Nordbahnhof (Memento vom 7. Oktober 2013 im Internet Archive) (PDF; 505 kB)
- historyliveforum.de
- Jürgen Meyer-Kronthaler: Der Stettiner Tunnel. In: Berliner Verkehrsblätter. Nr. 3, Berlin März 2008, S. 39
- Chronik – Das Jahr 2008. Berliner Unterwelten e. V., abgerufen am 9. Juli 2017.
- Geisterbahnhöfe im geteilten Berlin – Führung mit Begehung eines ehemaligen Fußgängertunnels. (Nicht mehr online verfügbar.) Berlin.de, archiviert vom Original am 19. Juli 2017; abgerufen am 9. Juli 2017. Info: Der Archivlink wurde automatisch eingesetzt und noch nicht geprüft. Bitte prüfe Original- und Archivlink gemäß Anleitung und entferne dann diesen Hinweis.
- berliner-unterwelten.de (Memento des Originals vom 25. März 2010 im Internet Archive) Info: Der Archivlink wurde automatisch eingesetzt und noch nicht geprüft. Bitte prüfe Original- und Archivlink gemäß Anleitung und entferne dann diesen Hinweis.