Speyer (Unternehmerfamilie)
Speyer ist der Familienname einer bekannten askenasisch-jüdischen Bankiersfamilie deutscher Herkunft. Sie gründete im Verlauf des 19. Jahrhunderts die drei geschäftlich eng miteinander verbundenen Banken Lazard Speyer-Ellissen in Frankfurt am Main, Speyer & Co. in New York und Speyer Brothers in London. Die letzte der Banken wurde 1939 liquidiert. Ein Nachkomme der Familie, Jerry I. Speyer (geboren am 23. Juni 1940 in Milwaukee, Wisconsin), war 1978 Mitbegründer der New Yorker Immobiliengesellschaft Tishman Speyer Properties.[1]
Geschichte
Die Bankiersfamilie Speyer kann auf Michael Isaac Speyer (gestorben 1692) zurückgeführt werden, der sich am 5. November 1644 in Frankfurt am Main niederließ und 1691 Vorsteher der jüdischen Gemeinde wurde.[1] In der Frankfurter Judengasse bewohnte er das Haus Goldener Hirsch.[2] Wie der Familienname nahelegt, stammte die Familie ursprünglich aus der pfälzischen Stadt Speyer.[3][4] Sein Sohn Joseph Michael Speyer war Vorsteher der jüdischen Gemeinde und Unterrabbiner. Der Enkel Michael Joseph Speyer (gestorben 1765) war Vertreter des Hofjuden und war für Munitionslieferungen zuständig.
Aus der Ehe zwischen Joseph Michael Speyer und Güttle Oppenheim gingen zwei Söhne hervor. Isaak Michael Speyer (1745–1807) kam im späten 18. Jahrhundert als Bankier und kaiserlicher Munitionslieferant zu großem Reichtum. 1787 wurde er für seine Verdienste zum kaiserlichen Hoffaktor ernannt.[1] 1792 brachte der französische General Adam-Philippe de Custine ihn und zwei weitere prominente Bürger als Geisel nach Mainz, um von der Stadt Frankfurt Kriegssteuern zu erpressen.[5] Um 1800 hatten die Speyers ein Vermögen von 420.000 Gulden. Sie waren damit die reichste jüdische Familie in Frankfurt und übertrafen für lange Zeit sogar die Rothschilds. Seit 1804 führten Isaaks drei Söhne sein Unternehmen. Dieser Zweig des Unternehmens erlosch 1841 mit dem Tod von Isaak Michaels zweitem Sohn, Joseph Isaak Speyer (1774–1841). Der zweite Sohn, Karl Speyer konvertierte zum Christentum und wurde als Komponist und Wechselmakler bekannt.
Der dritte Sohn, Lazarus Hirsch Michael Speyer (gestorben 1789) war mit seiner Cousine Hanna Speyer verheiratet. Sein Sohn Joseph Lazard Speyer (1783–1846) heiratete 1800 in die Bankiersfamilie Ellissen ein. Seine Frau Jette Ellissen, die aus der seit mindestens 1550 in Frankfurt ansässigen Familie stammte, hatte das Bankhaus Gumperz Isaak Ellissen von ihrem 1818 verstorbenen Vater geerbt. Lazarus Speyer benannte es daraufhin in J. L. Speyer-Elissen um und führte es ab dem 14. Januar 1818 weiter. Er erwarb im Laufe seines Lebens ein Vermögen von 118.000 Gulden. Lazarus Joseph Speyer (1810–1876), der Sohn von Lazarus Hirsch Speyer gründete 1838 das Manufakturwaren- und Speditionsgeschäft Lazard Speyer-Ellissen.[6]
Lazard Josephs Bruder, Philipp Speyer (1815–1876), wanderte 1837 nach New York aus und gründete dort 1845 die Bank „Philipp Speyer & Co.“, die nach Philipps Tod in „Speyer & Co.“ umbenannt wurde. Auch Gumperz (Gustav) Speyer (1825–1883), der dritte Sohn von Joseph Lazarus, beteiligte sich an der Errichtung der New Yorker Bank, gründete aber 1861 in London das Bankhaus “Speyer Brothers”.[7] Er war der Vater von James Speyer und Nachdem die Familie frühzeitig das wirtschaftliche Potenzial Nordamerikas erkannt hatte, war sie um 1870 bereits einer der fünf führenden Verkäufer von Wertpapieren US-amerikanischer und mexikanischer Eisenbahngesellschaften. Ihre nächsten Konkurrenten waren Kuhn, Loeb & Co. und J.P. Morgan.[8]
Nach Georg Speyers Tod 1902, wurde das Bankhaus “Lazard Speyer-Ellissen” von Eduard Beit (1860–1933) fortgeführt, einem Schwager von Gustav Speyer. Beit wurde 1910 mit dem Prädikat „von Speyer“ in den erblichen Adelsstand erhoben, um den Fortbestand des Familiennamens “Speyer” in Frankfurt am Main zu sichern.[9] Sein Vermögen betrug 1908 76 Millionen Goldmark, was ihn zu einem der reichsten Bürgern des Deutschen Kaiserreichs machte.[10] Bis zum Ausbruch des Ersten Weltkriegs 1914 wurden die drei Banken der Familie Speyer “Speyer & Co.” (New York), „Speyer Brothers“ (London) und “Lazard Speyer-Ellissen” (Frankfurt am Main) von Eduard Beit von Speyer und seinen beiden Schwägern James Speyer (New York) und Sir Edgar Speyer (London) gemeinschaftlich geführt. Nach dem Ende des Ersten Weltkriegs nahm “Lazard Speyer-Ellissen” die unterbrochenen Geschäftsbeziehungen zum Finanzplatz New York wieder auf und vertiefte diese durch die Beteiligung von Eduard Beit von Speyer und seines Sohns Herbert (* 1899) an „Speyer & Co.“[11]
Wiederholte öffentliche Vorwürfe während des Ersten Weltkriegs nicht loyal zu Großbritannien gestanden zu haben, veranlassten Gustavs Sohn, Edgar Speyer (1862–1932), Großbritannien 1922 zu verlassen und in die USA auszuwandern[12] und das Londoner Bankhaus „Speyer Brothers“ zu liquidieren.[13] In Folge des Ausbruchs der Weltwirtschaftskrise 1929 erlitt „Lazard Speyer-Ellissen“ mit Krediten an Industrieunternehmen große Verluste und musste Anfang der 1930er Jahre von „Speyer & Co.“ finanziell umfangreich gestützt werden. Nach dem Tod von Edgar Speyer 1932 und Eduard Beit von Speyer ein Jahr später, sah sich “Speyer & Co.” schließlich gezwungen 1934 der stillen Liquidation seines ehemaligen Frankfurter Mutterhauses zuzustimmen.[14] Diese Entscheidung stand in keinem direkten kausalen Zusammenhang mit der Machtergreifung der NSDAP 1933 und deren „Judenpolitik“.[15] Letzteres dürfte aber indirekt James Speyer in seiner Entscheidung bestärkt haben, kein weiteres Geld in „Lazard Speyer-Ellissen“ zu investieren.[16]
Herbert Beit von Speyer, der letzte männliche Vertreter seiner Familie in Deutschland, sah sich 1934 gezwungen mit seiner Familie in die Schweiz zu emigrieren. Von dort ging die Flucht über Frankreich, Spanien und Portugal in die USA.[17] Der Frankfurter Wohnsitz der Familie Speyer, die bekannte „Villa Speyer“ (heute „Villa Kennedy“), wurde 1938 von den Nationalsozialisten enteignet.[18] Ebenfalls 1938 setzte sich James Speyer (1861–1941) zur Ruhe und entschied sich lieber „Speyer & Co.“ in New York zu schließen als die Bank mit seinem Namen Geschäftspartnern zu überlassen. Dementsprechend wurde die letzte der drei Banken der Familie Speyer 1939 liquidiert.[19]
Ein Nachkomme der Familie ist Jerry Speyer (* 1940), der 1978 mit Robert Tishman das New Yorker Immobilienunternehmen Tishman Speyer Properties gründete. 1985 bis 1991 errichtete das Unternehmen am alten Familiensitz in Frankfurt den Messeturm, das damals höchste Gebäude Europas.
Philanthropie
Georg und seine Frau Franziska Speyer (geb. Gumbert, 1844–1909) gehörten zu den führenden Wohltätern der Stadt Frankfurt am Main, beispielsweise im Wohnungsbau als Mitbegründer der Aktienbaugesellschaft für kleine Wohnungen, und gründeten bedeutende Stiftungen zu Gunsten der Wissenschaften und der wissenschaftlichen Erziehung. Unter anderem stiftete Georg Speyer 1901 aus seinem Vermögen die damals gewaltige Summe von einer Million Goldmark und legte damit den finanziellen Grundstein für die Georg und Franziska Speyer’sche Studienstiftung zur „Pflege der Wissenschaft und des höheren wissenschaftlichen Unterrichts“. Aus dieser Stiftung gingen später wesentliche Teile der Universität Frankfurt hervor. Nach Georg Speyers Tod stiftete seine Witwe Franziska 1904 eine weitere Million Goldmark zur Gründung des Chemotherapeutischen Forschungsinstituts Georg-Speyer-Haus, welches nach einigen Verzögerungen am 3. September 1906 feierlich eröffnet und seinem ersten Direktor, Paul Ehrlich, übergeben wurde.
Stammbaum der Familie Speyer
Londoner Linie | Michael Isaac Speyer 1644–1692 | ||||||||||||||||||||||||||||||||||||||||||||||||||||||||
New Yorker Linie | Joseph Michael Speyer | ||||||||||||||||||||||||||||||||||||||||||||||||||||||||
Michael Joseph Speyer gestorben 1765 | Güttle Oppenheim | ||||||||||||||||||||||||||||||||||||||||||||||||||||||||
Isaak Michael Speyer 1745–1807 | |||||||||||||||||||||||||||||||||||||||||||||||||||||||||
Georg Daniel Speyer | Joseph Isaak Speyer gestorben 1841 | Hanna Speyer | Lazarus Hirsch Michael Speyer gestorben 1789 | Gumperz Isaak Ellissen | |||||||||||||||||||||||||||||||||||||||||||||||||||||
Karl Wilhelm Wolfgang Speyer 1790–1878 | Joseph Lazarus Speyer 1783–1846 | Jeanette Ellissen 1780–1828 | |||||||||||||||||||||||||||||||||||||||||||||||||||||||
Gumperz (Gustavus) Speyer 1825–1883 | Charlotte Stern | Philipp Speyer 1815–1896 | Lazarus Joseph Speyer 1810–1876 | Therese Ellissen geboren 1808 | |||||||||||||||||||||||||||||||||||||||||||||||||||||
Arthur von Gwinner 1856–1931 | Anne Emilie Speyer 1861–1940 | Helene Therese Speyer 1857–1898 | Franziska Gumbert 1844–1909 | Gustav (Georg) Speyer 1835–1902 | Jaque Robert Speyer 1837–1876 | Henriette Speyer geboren 1833 | |||||||||||||||||||||||||||||||||||||||||||||||||||
Alfred Julius Speyer 1871–1927 | |||||||||||||||||||||||||||||||||||||||||||||||||||||||||
Ellin Prince Speyer 1849–1921 | James Speyer 1861–1941 | Leonora von Stosch 1872–1956 | Edgar Speyer 1862–1939 | Hanna Lucie Speyer 1870–1918 | Eduard Beit 1860–1933 | ||||||||||||||||||||||||||||||||||||||||||||||||||||
Hedwig von Speyer 1896–1966 | Erwin von Speyer 1893–1914 | Ellin von Speyer 1903–1983 | Herbert Beit von Speyer 1899–1961 | Elisabeth de Neufville 1902–1989 | |||||||||||||||||||||||||||||||||||||||||||||||||||||
Literatur
- Stephen Birmingham: Our Crowd: The Great Jewish Families of New York. Syracuse University Press, Syracuse (New York) 1996, ISBN 0815604114.
- Ulrich Eisenbach: Speyer (seit 1792 auch Speier). In: Neue Deutsche Biographie (NDB). Band 24, Duncker & Humblot, Berlin 2010, ISBN 978-3-428-11205-0, S. 674–676 (Digitalisat).
- Wolfgang Klötzer (Hrsg.): Frankfurter Biographie. Personengeschichtliches Lexikon. Zweiter Band. M–Z (= Veröffentlichungen der Frankfurter Historischen Kommission. Band XIX, Nr. 2). Waldemar Kramer, Frankfurt am Main 1996, ISBN 3-7829-0459-1, S. 403–406.
- Hans-Otto Schembs: Georg und Franziska Speyer – Stifter und Mäzene für Frankfurt a. M. Kramer, Frankfurt am Main 2001, ISBN 3-7829-0526-1.
- Michael Jurk: Die anderen Rothschilds: Frankfurter Privatbankiers im 18. und 19. Jahrhundert. In: Georg Heuberger: Die Rothschilds – Beiträge zur Geschichte einer europäischen Familie. Thorbecke, Frankfurt am Main 1995, ISBN 3-7995-1202-0, S. 46ff.
- Paul H. Emden: Money Powers of Europe in the Nineteenth and Twentieth Centuries. Appleton-Century, New York 1938, S. 274–277.
- Morten Reitmayer: Bankiers im Kaiserreich – Sozialprofil und Habitus der deutschen Hochfinanz (Kritische Studien zur Geschichtswissenschaft), Band 136. Vandenhoeck & Ruprecht, Göttingen 1999, ISBN 3-525-35799-0.
Weblinks
- Ulrich Eisenbach: Speyer. In: Neue Deutsche Biographie (NDB). Band 24, Duncker & Humblot, Berlin 2010, ISBN 978-3-428-11205-0, S. 674–676 (Digitalisat).
- Artikel über die Familie Speyer auf der Webseite des Jüdischen Museums Frankfurt
- Marc Straßenburg: Bundesarchiv - Zentrale Datenbank Nachlässe. In: nachlassdatenbank.de. Abgerufen am 29. August 2016 (Informationen über den Nachlass der Familie Speyer im Institut für Stadtgeschichte Frankfurt).
Einzelnachweise und Anmerkungen
- Familienartikel auf der Webseite des Museums Judengasse
- Information zum Haus Goldener Hirsch
- Prominent Families of New York, The Historical company, New York, 1897
- Michael Jurk: Die anderen Rothschilds: Frankfurter Privatbankiers im 18. und 19. Jahrhundert. S. 46 ff., erschienen in: Georg Heuberger: Die Rothschilds - Beiträge zur Geschichte einer europäischen Familie. Jan Thorbecke Verlag, Frankfurt am Main 1995.
- Prominent Families of New York, The Historical company, New York, 1897
- Ulrich Eisenbach: Speyer (seit 1792 auch Speier). In: Neue Deutsche Biographie (NDB). Band 24, Duncker & Humblot, Berlin 2010, ISBN 978-3-428-11205-0, S. 674–676 (Digitalisat).
- Mira Wilkins: „The History of Foreign Investment in the United States to 1914“, Harvard University Press, London 1989, S. 99, ISBN 978-0674396661
- Leanne Langley: Banker, Baronet, Saviour, ‘Spy’: Sir Edgar Speyer and the Queen’s Hall Proms, 1902-14
- Ulrich Eisenbach: Speyer (seit 1792 auch Speier). In: Neue Deutsche Biographie (NDB). Band 24, Duncker & Humblot, Berlin 2010, ISBN 978-3-428-11205-0, S. 674–676 (Digitalisat).
- Morten Reitmayer: Bankiers im Kaiserreich - Sozialprofil und Habitus der deutschen Hochfinanz (Kritische Studien zur Geschichtswissenschaft), Band 136. Vandenhoeck & Ruprecht, Göttingen 1999, ISBN 3-525-35799-0, S. 113.
- Ingo Köhler: Wirtschaftsbürger und Unternehmer - Zum Heiratsverhalten deutscher Privatbankiers im Übergang zum 20. Jahrhundert, S. 133, in: Dieter Ziegler (Hrsg.): Großbürgertum und Unternehmer. Die deutsche Wirtschaftselite im 20. Jahrhundert, Bürgertum Band 17, Vandenhoeck und Ruprecht, Göttingen 2000, ISBN 3-525-35682-X
- Paul H. Emden: Money Powers of Europe in the Nineteenth and Twentieth Centuries, D. Appleton-Century Company, New York 1938, S. 275
- The London Gazette, 4. April 1922, S. 2763
- Paul H. Emden: Money Powers of Europe in the Nineteenth and Twentieth Centuries, D. Appleton-Century Company, New York 1938, S. 276f.
- Ingo Köhler: Die „Arisierung“ der Privatbanken im Dritten Reich, erschienen in der Schriftenreihe zur Zeitschrift für Unternehmensgeschichte, Band 14, Verlag C.H. Beck, München 2005, S. 400, ISBN 3-406-53200-4
- Paul H. Emden: Money Powers of Europe in the Nineteenth and Twentieth Centuries, D. Appleton-Century Company, New York 1938, S. 277
- Claims Resolution Tribunal: Case No. CV96-4849
- Geschichte der Villa Speyer in Frankfurt
- Susie J. Pak: Gentleman Bankers - The world of J.P. Morgan, Harvard Studies in Business History (Book 51) 2013, ISBN 978-0-674-07303-6 online