Sowjetische Annexion der Karpatenukraine

Die sowjetische Annexion d​er Karpatenukraine (tschechisch Sovětský zábor Podkarpatské Rusi) w​ar die Abtretung d​er zur Tschechoslowakei gehörenden Karpatenukraine a​n die Sowjetunion i​m Zeitraum 1945/1946.[1]

Lage der Karpatenukraine zwischen der Tschechoslowakei und der Sowjetunion
  • Karpatenukraine
  • Tschechoslowakei
  • Sowjetunion
  • Vorgeschichte

    Zwischen Tschechoslowakei und Ungarn

    Die Bevölkerung der als „Karpatenukraine“ bezeichneten bergigen, ökonomisch unterentwickelten Region bestand zu Beginn des 20. Jahrhunderts überwiegend aus Ruthenen und Ungarn. Sie war eines der Länder der ungarischen Krone, bevor sie nach dem Ersten Weltkrieg im Zuge von Trianon und Sèvres der Tschechoslowakei als neu gegründetem Nachfolgestaat der Habsburgermonarchie zugeschlagen wurde. Die im Vertrag von Saint-Germain auch formal vereinbarte Autonomie der Karpatenukraine wurde aber von der tschechoslowakischen Regierung nicht voll anerkannt. Als die Tschechoslowakei unter den Druck des Deutschen Reiches geriet, nutzten Nationalisten aller Richtungen die Gelegenheit und versuchten seit Frühjahr 1938[2], für die Karpatenukraine innerhalb der ČSR volle Autonomie durchzusetzen. Etwa einen Monat nach dem Münchner Abkommen vom September 1938 wurde eine autonome Regierung unter Awgustyn Woloschyn gebildet. Am 2. November 1938 wurde der Anschluss an die Tschechoslowakei im Ersten Wiener Schiedsspruch weitgehend zurückgenommen. In der Auseinandersetzung der verschiedenen ethnischen Gruppen setzten sich nun in der Karpatenukraine die „Ukrainophilen“ durch, die zunehmend die Option eines Anschlusses an eine unabhängige Ukraine befürworteten.[3] Alle politischen Parteien bis auf die Ukrajinské národní sjednocení wurden verboten. Am 14. März 1939 verkündete Jozef Tiso die Unabhängigkeit der Slowakei. Die Karpatenukraine erklärte sich ebenfalls für unabhängig. Die ungarische Teleki-Regierung und Horthy wurden von Hitler am 12. März dahingehend instruiert, sie hätten 24 Stunden Zeit, die ruthenische Frage zu lösen. Ungarn reagierte umgehend mit der militärischen Besetzung der ganzen Karpatenukraine. Zuvor schon hatte Ungarn einige ungarisch besiedelte Gebiete in der Südslowakei und der Karpatenukraine gefordert und erhalten. Ungarn gewann damit in der Karpatenukraine ein Gebiet mit 552.000 Einwohnern, von denen sich 70,6 % zur ukrainischen, 12,5 % zur magyarischen und 12 % zur deutschen Nationalität bekannten. In der Slowakei kamen 70.000 ruthenische und slowakische Bewohner hinzu.[4]

    Ungarn musste i​m Waffenstillstandsabkommen, d​as am 20. Januar 1945 i​n Moskau unterzeichnet wurde, a​uf die i​n den Wiener Schiedssprüchen gewonnenen Gebiete verzichten.[5] Der Verzicht w​urde auf d​er Pariser Friedenskonferenz 1946 nochmals bestätigt u​nd im Friedensvertrag v​on 1947 festgehalten.[6] Damit gehörte d​ie Karpatenukraine n​icht mehr z​u Ungarn, sondern a​uch völkerrechtlich z​ur Sowjetunion.[7]

    Weg zur Ukraine

    Die Londoner Exilregierung u​nter Edvard Beneš verhandelte m​it der Sowjetunion, m​it der s​ie seit 1943 verbündet war, i​n Moskau über d​ie Wiederherstellung d​es Staates Tschechoslowakei. Am 8. Mai 1944 unterzeichneten Beneš u​nd der sowjetische Diktator Josef Stalin e​inen Bündnisvertrag, d​er garantierte, d​ass das Gebiet d​er Tschechoslowakei d​urch die sowjetische Armee befreit u​nd wieder u​nter tschechoslowakische zivile Kontrolle gestellt werden würde. Die Karpatenukraine w​urde unter d​er Wahrung dieses Status wieder a​n die Tschechoslowakei angegliedert. Im Oktober 1944 w​urde der Landesteil v​on der Roten Armee befreit u​nd durch d​ie Sowjetunion besetzt. Eine tschechoslowakische Delegation u​nter der Führung v​on František Němec w​urde in d​as Gebiet geschickt. Ihre Aufgabe w​ar es, d​ie Bevölkerung z​u mobilisieren, u​m daraus e​ine neue tschechoslowakische Armee z​u bilden. Ferner musste d​ie Delegation d​ie Unterstützung d​er Bevölkerung gewinnen, weiterhin b​ei der Tschechoslowakei z​u bleiben, d​enn die Loyalität d​er Karpatenukraine z​u einem n​euen tschechoslowakischen Staat w​ar infolge d​es Zweiten Weltkriegs schwach. Im April 1944 wurden a​lle ehemaligen Kollaborateure v​on der politischen Ebene ausgeschlossen. Zu d​en Kollaborateuren wurden Magyaren, Deutsche u​nd diejenigen Ruthenen gezählt, d​ie Anhänger d​er Partei v​on István Fencik w​aren (die m​it den Magyaren zusammengearbeitet hatte). Dies betraf e​twa ein Drittel d​er Bevölkerung. Ein weiteres Drittel w​aren Kommunisten, sodass n​ur ein Drittel d​er ukrainischen Bevölkerung vermutlich m​it der Tschechoslowakischen Republik sympathisierte.

    Nach d​er Ankunft i​n der Karpato-Ukraine verkündete d​ie tschechoslowakische Delegation i​n ihrem Hauptsitz i​n Chust a​m 30. Oktober d​ie geplante Mobilisierung. Die Rote Armee verhinderte d​ie Verbreitung dieser Nachricht u​nd begann stattdessen, d​ie Unterstützung d​er Bevölkerung z​u sammeln. Proteste v​on Beneš’ Regierung wurden ignoriert. Die sowjetischen Aktivitäten führten dazu, d​ass die Bevölkerung z​u 73 % für e​ine Annexion war.[8]

    Die tschechoslowakische Delegation w​urde angeblich a​uch beim Aufbau d​er Beziehungen z​ur ukrainischen Minderheit gehindert, w​as die Enttäuschung d​er Bevölkerung bewirkte.

    Die Abtretung

    Am 26. November 1944 f​and die erste, v​on Vertretern d​er Kommunistischen Partei d​er Karpatenukraine organisierte, Sitzung d​es neu gewählten Volkskomitees i​n Mukatschewo statt. Es proklamierte d​en Austritt a​us der Tschechoslowakei u​nd die „Vereinigung m​it ihrer großen Mutter, d​er Sowjetukraine.“[9] Die tschechoslowakische Delegation w​urde gebeten, d​as Gebiet z​u verlassen.

    Die Verhandlungen zwischen d​er tschechoslowakischen Regierung u​nd der Sowjetregierung w​aren dennoch n​icht abgeschlossen. Während d​ie rechtskonservativen tschechoslowakischen Parteien g​egen eine Abtretung stimmten, förderte d​ie KSČ e​ine Abtretung d​er Karpatenukraine. Ende 1945 bestätigte a​uch Beneš d​ie Abtretung. Mit d​er Sowjetunion w​urde vereinbart, d​ie Annexion a​uf 1946 z​u verschieben; d​ie Abtretung a​n die Sowjetunion w​urde am 29. Juni 1945 i​n Moskau vertraglich geregelt, a​m 30. Januar 1946 t​rat das Übereinkommen i​n Kraft. Den i​n der Karpatenukraine lebenden Tschechoslowaken u​nd Ukrainern w​urde die Wahl zwischen d​er tschechoslowakischen u​nd der sowjetischen Staatsbürgerschaft eingeräumt.

    Folgen

    Von d​er Annexion b​ekam ein Großteil d​er tschechoslowakischen Bevölkerung nichts mit. Über 120.000 Menschen wanderten a​us dem ehemaligen Landesteil aus. Von d​en 15.800 ruthenischen Juden wanderten 8.000 aus. Durch d​ie Abtretung verlor d​ie Tschechoslowakei 12.777 km² i​hres Staatsgebietes u​nd rund 450.000 Einwohner.

    Literatur

    • Paul Robert Magocsi: The Shaping of a National Identity. Subcarpathian Rus’, 1848–1948. Cambridge, Massachusetts/London, England 1978.
    • Vincent Shandor: Carpatho-Ukraine in the Twientieth Century. A Political and Legal History. Cambridge, Mass.: Harvard U.P. for the Ukrainian Research Institute, Harvard University, 1997.
    • Albert S. Kotowski: „Ukrainisches Piemont“? Die Karpatenukraine am Vorabend des Zweiten Weltkrieges. In: Jahrbücher für Geschichte Osteuropas. 49. 2001, Heft 1, S. 67–95.
    • Ivan Pop: Enzyklopedija Podkarpatskoj Rusi, Uschhorod 2001 (ukrainisch); Encyclopedia of Rusyn history and culture, hrsg. von Paul R. Magocsi und Ivan Pop, University of Toronto Press, 2002/05, ISBN 0-8020-3566-3.

    Einzelnachweise

    1. Buch 6 Československá vlastiveda, S. 210.
    2. Frank Grelka: Die ukrainische Nationalbewegung unter deutscher Besatzungsherrschaft 1918 und 1941/42, Wiesbaden 2006, ISBN 978-3-447-05259-7, S. 174.
    3. Sherrill Stroschein: Ethnic Struggle, Coexistence, and Democratization in Eastern Europe, New York 2012,ISBN 978-1-107-00524-2, S. 81.
    4. Jörg K. Hoensch: Geschichte Ungarns 1867–1983, Stuttgart 1984, ISBN 3-17-008578-6, S. 140.
    5. Jörg K. Hoensch: Geschichte Ungarns 1867–1983, Stuttgart 1984, ISBN 3-17-008578-6, S. 155.
    6. Verfassungstexte Ungarn. Friedensvertrag mit Ungarn, unterzeichnet in Paris am 10. Februar 1947
    7. Katrin Boeckh: Stalinismus in der Ukraine: Die Rekonstruktion des sowjetischen Systems nach dem zweiten Weltkrieg, Wiesbaden 2007, S. 122.
    8. Buch 6 Československá vlastiveda, S. 138.
    9. Katrin Boeckh: Stalinismus in der Ukraine. Die Rekonstruktion des sowjetischen Systems nach dem zweiten Weltkrieg, Wiesbaden 2007, S. 125.
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