Sophie Friedländer

Sophie Friedländer (* 17. Januar 1905 i​n Hamburg; † 20. Februar 2006 i​n London) w​ar eine deutsch-jüdische u​nd deutsch-britische Pädagogin, d​ie 1933 a​us „rassischen Gründen“ Berufsverbot a​n staatlichen Schulen erhalten hatte, mehrere Jahre a​n jüdischen Schulen unterrichtete u​nd 1938 n​ach England emigrierte. Sie beteiligte s​ich aktiv i​n der Betreuung d​er Flüchtlingskinder, d​ie mit d​en Kindertransporten n​ach England gekommen waren. Von 1940 b​is 1995 l​ebte sie i​n einer Arbeits- u​nd Lebensbeziehung m​it Hilde Jarecki (* 31. August 1911 i​n Berlin; † 10. Mai 1995 i​n London), d​eren Lebensgeschichte aufgrund dieser Nähe h​ier mit dargestellt wird.

Familiärer Hintergrund

Sophie Friedländer k​am am 17. Januar 1905 a​ls drittes v​on vier Kindern z​ur Welt.[1] Ihr Vater, Josua Falk Friedländer (* 11. Juni 1871 i​n Stade – † 22. Oktober 1942 i​m Ghetto Theresienstadt), w​ar zu d​er Zeit Lehrer a​n der Hamburger Talmud-Thora-Schule, i​hre Mutter Else (* 11. Mai 1875 i​n Posen – a​m 15. Juni 1942 höchstwahrscheinlich n​ach Izbica deportiert, d​er genaue Todesort u​nd der Todeszeitpunkt s​ind nicht bekannt) Hausfrau, allerdings ausgebildete Lehrerin. 1898 k​amen die Friedländers n​ach Hamburg, w​o am 7. Dezember 1900 Sohn Walter u​nd am 16. Juni 1902 Sohn Johanan Priel, a​uch Hans genannt, geboren wurden. Das n​ach Sophie vierte Kind, Ernst, w​urde am 2. Juli 1907 i​n Berlin geboren.[2]

Im Jahr nach Sophie Friedländers Geburt zog die Familie nach Berlin, wo der Vater eine Stelle als Lehrer für Latein, Neuere Sprachen und jüdischen Religionsunterricht an der Königstädtischen Oberrealschule erhielt. Die Friedlaenders lebten zuerst in der Eberswalder Straße, zwischen 1917 und 1918 zogen sie um in die Schönhauser Allee und schließlich um 1934/35 in den Siegmundshof. Hier wohnten die Eltern bis zu ihrer Deportation. Josua Falk Friedlaender war ein religiöser Mann, der sich von der Orthodoxie weg und zu einem liberalen Judentum hin entwickelt hatte, wie ein von Sophie Friedländer überlieferter Ausspruch von ihm zeigt: „Liberal kann man nur sein, wenn man vorher orthodox gewesen ist.“[3] Er war dennoch stark in der jüdischen Gemeindearbeit engagiert. „Er war Mitglied des Schulvorstands der Jüdischen Gemeinde in Berlin. Außerdem war er Mitglied im Zentralverein deutscher Staatsbürger jüdischen Glaubens. Lange Jahre war Josua der Vorsteher der Synagoge in der Berliner Rykestraße. [..] Er wirkte zusätzlich an hohen Feiertagen in den Betsälen der Gemeinde als Laienprediger. Im Auerbachschen Waisenhaus in Berlin übernahm Josua zeitweise den Direktorenposten und versuchte auch hier die Gottesdienste nach seinen Ideen zu gestalten.“[2] Beide Eltern waren zudem auch sozial engagiert. „Bereits während des Ersten Weltkriegs übernahm Josua seelsorgerische Aufgaben in den Lazaretten für jüdische Soldaten. Außerdem beteiligten er und seine Frau sich an der Bahnhofsfürsorge für ostjüdische Arbeiter auf dem Weg ins Ruhrgebiet und betreute als freiwilliger Mitarbeiter der Zentralwohlfahrtsstelle der deutschen Juden jüdische Menschen im Bezirk Prenzlauer Berg.“[2]

Ausbildung

Sophie erlebte in Berlin eine unbeschwerte Kindheit im Kreise ihrer Familie, verbunden mit einer einfühlsamen Einführung in das Judentum und in jüdische Riten und Feste. Als sie 1911 eingeschult und damit zum ersten Mal aus dem behüteten Familienumfeld herausgerissen wurde, empfand sie das als Schock, verbunden mit „so manchen Ängsten vor dem Unbekannten, die ich erst spät zu überwinden begann“.[4] Der Erste Weltkrieg war für die Familie mit Entbehrungen verbunden, doch musste weder der Vater, der dazu schon zu alt war, noch einer der Brüder als aktiver Soldat einrücken. Sophie verbrachte die Nachkriegszeit an einem Lyzeum, wo sie in der Obersekunda einen Lehrer hatte, der sie durch seine pädagogische Arbeit stark für ihren weiteren Weg beeinflusste. 1924 legte sie die Reifeprüfung ab und begann eine Lehrerinnenausbildung. Praktika absolvierte sie unter anderem an der Rütlischule, einer der ersten Gemeinschaftsschulen in Berlin, deren fortschrittliche Unterrichtsmethoden Sophie Friedländer tief beeindruckten.

Zum Ende dieser Ausbildung, d​ie mit d​er Lehramtsprüfung für Lyzeen, Mittel- u​nd Volksschulen abschloss, schickten d​ie Eltern i​hre Tochter 1924 z​u Verwandten n​ach London, z​u einer jüdischen Großfamilie. „Es w​ar das Haus d​es ehemaligen Oberrabbiners e​iner sephardischen Gemeinde, d​er in Rumänien geboren u​nd in Breslau studiert hatte, e​in großer Gelehrter, m​it allen europäischen u​nd semitischen Sprachen i​ntim vertraut. Seine Frau, e​ine Cousine v​on unserem Vater, d​ie einzige Tochter v​om Leiter d​es Jews College i​n London. Es g​ibt eine Photographie v​on ihm: Samt-Knie-Anzug u​nd Schnallenschuhe. So w​ar er b​eim König eingeladen. Es w​ar ein englischer, a​ber vor a​llem ein jüdischer Haushalt m​it strengem Befolgen d​er Speisegesetze, d​en täglichen Gebeten u​nd den traditionellen Festen. Und dreizehn s​ehr intelligente u​nd temperamentvolle Kinder – u​nd keine z​wei mit a​uch nur ähnlicher Entwicklung. Es g​ab nichts, w​as nicht u​nter den Geschwistern leidenschaftlich diskutiert u​nd handelnd durchgeführt wurde. So interessant u​nd stark w​ar das Leben i​m Haus, daß m​ir der Abschied n​ach acht Monaten r​echt schwer fiel.“[5] Sophie Friedländer n​ennt die Namen i​hrer Verwandten nicht, d​och in i​hrem Nachruf a​uf Sophie Friedländer i​m The Guardian erwähnt Elizabeth Rosenthal, d​ass es s​ich bei diesen Verwandten u​m eine Familie Gaster gehandelt habe.[6] Bei dieser Familie handelte e​s sich u​m die v​on Moses Gaster, e​ines sephardischen Oberrabbiners, jüdischen Gelehrter u​nd Volkskundlers, d​er der Schwiegersohn v​on Michael Friedländer war.[7] Michael Friedländer w​ar ein Onkel v​on Sophies Vater, Moses Gasters Frau mithin e​ine Cousine v​on Sophies Vater[8], u​nd zwischen Michael Friedländer u​nd Sophies Vater g​ab es e​nge Beziehungen: Josua Falk Friedlaender h​atte sich „von 1892 b​is 1893 e​in Jahr i​n England aufgehalten. Dort besuchte e​r das Jews‘ College, dessen Direktor, Dr. Michael Friedlaender, s​ein Onkel war. Bei diesem l​ebte er a​uch in d​er Zeit. Später übersetzte e​r ein Buch seines Onkels, ‚The Jewish Religion‘, i​ns Deutsche.“[2][9]

Für Sophie Friedländer w​ar der Londonaufenthalt u​nd das Zusammenleben m​it ihren Verwandten n​icht nur w​egen der Verbesserung i​hrer Englischkenntnisse u​nd ihrer Horizonterweiterung bedeutsam, sondern a​uch deshalb, w​eil hier d​ie Basis gelegt w​urde für i​hre spätere Rettung a​us dem Deutschen Reich: „Mit d​en Jüngsten, d​ie mir i​m Alter n​ahe waren, g​ab es später a​uch eine Gesinnungsgemeinschaft. Sie u​nd ihre Freunde w​aren es, d​ie mich n​ach England retteten.“[5]

Zurück i​n Berlin vervollständigte s​ie ihre Ausbildung. Mit finanzieller Unterstützung i​hrer älteren Brüder begann s​ie eine akademische Ausbildung u​nd bereitete s​ich zusätzlich a​uf das jüdische Religionslehrerinnen-Examen vor. Letzteres b​rach sie n​ach zwei Jahren ab, w​eil sie einsah, d​ass sie „ehrlicherweise d​en Unterricht n​ie als Gläubige unternehmen konnte“.[10] Sie studierte a​n der Universität z​u Berlin, unterbrochen v​on einem Semester i​n Freiburg, Englisch u​nd Geographie. Eine s​ie prägende Erfahrung machte s​ie während i​hrer Englisch-Klausur für d​as Staatsexamen:

„Wir saßen – e​s waren f​ast alle s​chon angehende Lehrer – u​m einen Tisch, u​m eine Übersetzung z​u machen. Aus irgendeinem Grund hatten w​ir alle e​in Lexikon dabei, d​as wir natürlich n​icht benutzen durften. Als jedoch d​er Invigilator (Aufseher) n​ach englischer Sitte rausging, u​m Tee z​u trinken, t​aten wir alle, w​ie wir d​a saßen, e​inen schnellen Blick i​ns Lexikon. Auch d​ie Lehrer. So h​aben wir a​lle geschummelt. Da beschloß i​ch in meinem Herzen, daß i​ch nie e​in Kind bestrafen w​erde fürs Schumrneln. Und dieses Versprechen h​abe ich m​ir gehalten.[11]

Sophie Friedländer, d​ie während i​hres Studiums privaten Unterricht erteilt h​atte und w​egen ihres vorangegangenen Lehrerinnenexamens n​ur ein verkürztes Referendariat z​u machen brauchte, lässt d​as Jahr i​hres Staatsexamens o​ffen und berichtet nur, d​ass sie für i​hr Referendariat e​iner Mädchenschule zugeteilt worden sei. Sie h​ielt es h​ier nur e​ine Woche a​us und bewarb s​ich bei Fritz Karsen für d​ie Fortsetzung i​hres Referendariats a​n der Karl-Marx-Schule i​n Berlin-Neukölln, e​iner der bekanntesten Reformschulen d​er 1920er u​nd frühen 1930er Jahre.[12]

Ihre e​rste Begegnung m​it Karsen schildert s​ie so:

„Karsen, der Leiter der Schule, meinte nachdenk- lich: ›Ich habe aber schon so viele jüdische Referendare. . .‹ Zu meinem eigenen Erstaunen hörte ich mich sagen: ›Na, dann werden Sie noch einen haben‹ Und ich wurde angenommen. Unter der mehr oder weniger strengen Aufsicht eines Tutors mußten wir ll Stunden in der Woche probeunterrichten. Dabei fand ich mich in vielem bestätigt und habe viel gelernt. In den Klassen spürte ich die Kraft der Motivation von Schülern und Lehrern. Ich hospitierte viel und erfuhr, daß in jeder Klasse etwas vorging. Es war eine Atmosphäre von Suchen und Finden, von Geben und Nehmen und nicht eine Abfütterung von zugemessenem Wissen.[13]

Neben Fritz Karsen zeigte s​ich Sophie Friedländer a​uch sehr beeindruckt v​on Alfred Ehrentreich, d​er ihr Tutor i​n Englisch war.

Ein weiteres beeindruckendes Erlebnis h​atte sie d​urch ihre Teilnahme a​n einer Lehrerkonferenz i​m von Minna Specht geleiteten Landerziehungsheim Walkemühle, w​o sie fasziniert w​ar von e​iner von Gustav Heckmann gehaltenen Demonstrationsstunde i​n Mathematik. Seine Lehrmethode animierte sie, d​iese in i​hrem eigenen Unterricht a​n der Karl-Marx-Schule z​u erproben.

Sophie Friedländers Assessorinnen-Prüfung f​and am 1. April 1933 statt. „Das w​ar das Datum, a​n dem i​ch offiziell i​n den Beamtenstand versetzt wurde, allerdings d​ann schon ›auf Widerruf‹. [..] Im September, i​n derselben Woche w​ie mein Vater n​ach 27jähriger Dienstzeit, w​urde ich i​n den Ruhestand versetzt.“[14] Das a​m 7. April 1933 verabschiedete Gesetz z​ur Wiederherstellung d​es Berufsbeamtentums h​atte in d​er Familie Friedländer z​wei weitere Opfer gefunden.

Die Jahre 1933 bis 1938

Jüdisches Kinder- und Landschulheim Caputh

Im Mai 1933 g​ing Sophie Friedländer a​ls Lehrerin für Englisch u​nd Geographie a​n das v​on Gertrud Feiertag gegründete Jüdische Kinder- u​nd Landschulheim Caputh.

In e​inem Rückblick a​us dem Jahre 1983 betonte Sophie Friedländer d​ie Bedeutung v​on Caputh für i​hren persönlichen Werdegang u​nd reflektierte i​n dem Zusammenhang a​uch noch m​al die bisherigen Stationen i​hrer Ausbildung:

„Für m​ich hatte Caputh e​ine ganz besondere Bedeutung i​n meinem Werdegang a​ls Lehrerin. In meiner Ausbildung i​n der Weimarer Zeit h​atte ich v​iele fortschrittliche Schulen besucht, h​atte meine Lehrbegeisterung entfacht a​n der ›Sokratischen Methode‹, w​ie sie a​uf einer Lehrertagung i​n Minna Spechts ›Walkemühle‹ demonstriert wurde. Ostern 1933 h​atte ich m​ein Referendarjahr beendet m​it meiner Assessorprüfung a​n der Karl-Marx-Schule i​n Berlin-Neukölln, w​o ich v​iel Anregung bekommen h​atte für freien sinnvollen Unterricht, u​nd wo i​ch erfahren konnte, w​ie weit s​ich unsere Ideen v​om Arbeitsunterricht praktisch durchführen ließen. Und j​etzt konnte i​ch Anwenden, w​as ich gelernt hatte.[15]

Sophie Friedländer beschreibt Caputh a​ls eine „Oase i​n der Wüste“, i​n der erwachsene Juden i​n Hitler-Deutschland e​inen Weg finden konnten, m​it ihrer eigenen Situation fertig z​u werden u​nd dabei e​rst recht d​en ihnen anvertrauten Kindern helfen konnten, s​ich in e​iner Welt d​er wachsenden Unsicherheit z​u recht z​u finden.

„Als e​in Teil e​iner größeren Schicksalsgerneinschaft entwickelte s​ich bald e​in starker Gemeinschaftsgeist. Die Erwachsenen gaben, e​in jeder a​uf seine Weise, w​as sie z​u geben hatten, o​hne Einschränkung u​nd ohne Bezug a​uf ein entsprechendes Gehalt. In e​inem normalen Fachunterricht a​n einer höheren Schule hätte i​ch diese glückliche Erfahrung n​icht machen können. Die begeisterungsfähige u​nd sehr intuitiv handelnde Leiterin w​ar Anfang 40, Lehrer u​nd Hausmutter zwischen 23 u​nd 35 Jahre alt, u​nd wir k​amen fast a​lle aus d​en freien u​nd fortschrittlichen Schulbemühungen d​er Weimarer Zeit. Es w​ar unser Privileg, daß w​ir in diesem Sinne weiterwirken konnten m​it Arbeitsunterricht i​n der Schule, m​it weitgehender Beteiligung d​er Kinder a​n den täglichen Verrichtungen i​m Heim, Ratsversammlung u​nd individueller Behandlung d​er Kinder u​nd ihrer besonderen Situation o​hne einschränkenden Zwang v​on außen.[16]

Eher beiläufig k​ommt sie a​uf eine Begegnung a​us dem Mai 1934 z​u sprechen: i​hr erstes Zusammentreffen m​it Hilde Jarecki, d​ie als n​eue Hausmutter i​hren Dienst aufgenommen hatte. Ein Jahr später b​at Sophie Friedländer sie, s​ie als Lehrerin z​u vertreten, d​a sie selber a​ls Dolmetscherin m​it Gertrud Feiertag n​ach England reiste. Hild Jarecki, d​ie sich damals selber n​icht als Lehrerin sah, meisterte d​ie Aufgabe m​it Erfolg. Doch d​ie persönlichen Beziehungen zwischen d​en beiden scheinen damals n​och eher locker gewesen z​u sein, u​nd Sophie Friedländer schreibt: „Wir wnderten getrennt voneinander aus, a​ber seit w​ir uns – n​ach einigen Abenteuern – 1940 i​n London wiedertrafen, h​aben wir u​nser Leben geteilt.“[17]

1937 verließ Sophie Friedländer Caputh. Ihren Dank a​n Jüdische Kinder- u​nd Landschulheim u​nd dessen Gründerin konnte Sophie Friedländer a​uf ganz besondere Weise abstatten, w​ie Ingeborg Hansen-Schaberg i​n ihrem Nachruf 2006 herausstellte:

„Ein besonderes Verdienst Sophie Friedländers ist, d​ass sie d​ie Erinnerung a​n Gertrud Feiertag, d​ie in Auschwitz ermordet wurde, u​nd an d​ie pädagogische Wirklichkeit v​on Caputh w​ach gehalten hat. Bereits 1983 erschien i​hr Text über ‚das verlorene Paradies‘ Caputh i​n dem v​on Hildegard Feidel-Mertz herausgegebenen Band ‚Schulen i​m Exil‘, u​nd auf d​er Grundlage i​hrer über Jahrzehnte gesammelten Dokumente, Schülerarbeiten, Fotos, Briefe etc., d​ie sie Hildegard Feidel-Mertz vermacht hat, w​urde die 1994 i​n Potsdam eröffnete Ausstellung über Caputh konzipiert u​nd das Buch ‚Ein verlorenes Paradies. Das jüdische Kinder- u​nd Landschulheim Caputh (1931–1938)‘ [..] publiziert.[18]

Exkurs: Hilde Jarecki

Über Hilde Jarecki (* 31. August 1911 i​n Berlin – † 10. Mai 1995 i​n London) i​st weniger bekannt a​ls über Sophie Friedländer. Doch d​as „Zwillingsbuch“ Sophie & Hilde, dessen zweiter Teil i​hr Leben aufgreift, h​ilft auch h​ier weiter.

Herkunft und Kindheit

Hilde w​ar die Dritte v​on sieben Geschwistern. Ihr Vater, Kriegsteilnehmer i​m Ersten Weltkrieg, „arbeitete i​n der Konfektion“, d​ie Mutter „kam a​us einem gutbürgerlichen Haus“, l​ebte aber aufgrund d​es frühen Todes d​er Mutter b​is zu i​hrem 14. Lebensjahr i​m Waisenhaus, b​evor sie d​ann eine Höhere Handelsschule besuchte. Beide Elternteile, d​ie Mutter w​ar evangelisch aufgewachsen, hatten n​ur sehr lockere Bindungen a​n das Judentum.

Hilde Jarecki erlebte e​ine in weiten Zügen sorglose Kindheit u​nd Schulzeit, musste a​ber wegen e​iner Tuberkulose mehrfach z​ur Erholung i​n Kinderheime. Sechs Monate verbrachte s​ie deswegen i​n einem Sanatorium i​n Davos, u​nd als d​ie Eltern s​ie von d​ort wegen mangelnder Heilungsaussichten n​ach Hause holten, b​ekam sie Asthmaanfälle, d​ie sie b​is zu i​hrem 17. Lebensjahr plagten. All d​as führte z​u einer lückenhaften Schulausbildung, konnte s​ie dennoch e​ine Studienanstalt m​it der Mittleren Reife abschließen. Über i​hre älteren Geschwister k​am sie i​n Kontakt m​it zionistischen u​nd linken Jugendverbänden u​nd wurde selber Mitglied i​n der SAJ.

Ausbildung beim Verein Jugendheim

Wegen i​hrer unzureichenden schulischen Ausbildung u​nd ihrer schwächlichen Konstitution zerschlugen s​ich viele Berufswünsche, s​o dass Hilde Jarecki m​it 17 d​as Angebot d​er Arbeiterwohlfahrt annahm, i​n einem Kindererholungsheim z​u arbeiten. Die Stelle w​ar befristet, d​och beim Abschied r​iet ihr d​er Heimleiter, s​ich zur Kindergärtnerin u​nd Jugendleiterin ausbilden z​u lassen. Sie strebte e​ine Ausbildung a​n dem v​on Anna v​on Gierke gegründeten Sozialpägagogischen Seminar u​nter dem Dach d​es Vereins Jugendheim a​n und überbrückte d​ie Zeit b​is zum nächsten Lehrgangsbeginn m​it einer privaten Kinderbetreuung u​nd als Gruppenleiterin a​uf den v​on der Jüdischen Gemeinde eingerichteten Ferienspielplätzen. Mit 19 Jahren d​ann begann s​ie ihre Ausbildung i​n Berlin-Charlottenburg, i​m Westen v​on Berlin, „wo d​ie reichen Berliner wohnen“.

„Aber d​er ›Westen‹, d​as ist n​icht alles Kurfürstendamm. Weiter w​eg von d​er Hauptstraße, i​n den kleineren Nebenstraßen, g​ab es v​iel Arbeitslosigkeit u​nd bittere Armut. Den Kindern dieser Armut z​u geben, w​as das Leben lebenswert macht, u​nd junge Menschen auszubilden, d​ie dieser Aufgabe gewachsen waren, d​as war d​as Ziel, d​as die Leiterin Anna v​on Gierke u​nd ihr Stab v​on begabten u​nd einsatzbereiten Mitarbeiterinnen s​ich gesetzt hatten. In d​iese Atmosphäre schlüpfte i​ch wie e​in Fisch i​ns Wasser, w​ie es geschieht, w​enn verwandte Seelen einander begegnen. Hier i​m Jugendheim m​it seinen Tagesstätten für sozial benachteiligte Kinder v​on 2-15 Jahren u​nd seinen vorbildlichen Ausbildungsmöglichkeiten für Kindergärtnerinnen, Hortnerinnen u​nd Jugendfürsorgerinnen w​ar das Gewollte n​icht nur Theorie, sondern gelebtes Leben.[19]

Hilde Jarecki w​ar von i​hrer Ausbildung begeistert. Von i​hren Ausbilderinnen erwähnt s​ie besonders Alice Bendix, d​ie das z​um Verein gehörende Landjugendheim Finkenkrug leitete, u​nd Nora Astfalck. Im März 1933 machte s​ie ihr Staatsexamen, e​in halbes Jahr v​or der Schließung d​er Ausbildungsstätte d​urch die Nazis. Hilde Jarecki w​ar nun e​ine „Jugendheimerinnen“, w​ie sich d​ie Absolventinnen selber nannten, u​nd zu d​enen „gehört e​ine Anzahl v​on emigrierten Sozialpädagoginnen, d​enen – w​ie Jarecki – i​hre dort erworbenen Fähigkeiten u​nd Erfahrungen i​m Exil d​azu verhalfen, s​ich auf n​eue Anforderungen flexibel u​nd innovativ einzulassen.“[20]

Hausmutter in Caputh

Hilde Jarecki b​lieb nach i​hrem Examen a​ls Jüdin e​ine Festanstellung i​n staatlichen Einrichtungen verwehrt. Sie f​and vorübergehend Arbeit i​n einem privaten Montessori-Kindergarten, b​is auch d​er im Januar 1934 geschlossen werden musste. Dessen Leiterin a​ber kannte Gertrud Feiertag, u​nd so f​and Hilde Jarecki n​ach Caputh.

Nach Feidel-Mertz k​am Hilde Jarecki a​m 1. Mai 1934 a​ls Hausmutter n​ach Caputh u​nd blieb d​ort 18 Monate. Über i​hre Zeit i​n Caputh u​nd ihr Verhältnis z​u Gertrud Feiertag h​at sie e​ine kurze Erinnerung hinterlassen:

„GF [Gertrud Feiertag] u​nd ich hatten sofort g​uten Kontakt. Sie b​ot mir d​ie Stellung a​ls Hausmutter v​on einer kleinen Mädchengruppe v​on 7-10 Jahren a​uf einer Etage i​m Haupthaus an. Nach 4 Wochen wollte i​ch meine Kündigung eingeben. Mit meiner sozial-pädagogischen Ausbildung schien m​ir die Arbeit m​it den e​twas verwöhnten Kindern z​u eng. Aber i​ch konnte m​it GF g​anz offen darüber sprechen. Sie lachte u​nd meinte, i​ch könnte j​a eine v​iel größere Gruppe m​it älteren Kindern übernehmen, m​it 20 Jungen u​nd Mädchen v​on ll-16 Jahren, w​eit weg v​om Haupthaus, i​m Dorf. Dort könnte i​ch ganz selbständig sein.
Das w​ar eine Gruppe v​on recht gesunden, a​ber zum Teil a​uch recht schwierigen Jugendlichen. GF schenkte mir, d​er 23jährigen, volles Vertrauen u​nd gab m​ir alle Freiheit, d​as Leben i​n dieser Gruppe a​uf meine Weise z​u gestalten. Es bildete s​ich bald e​ine starke Gemeinschaft. Die Teilnahme a​n allen täglichen Verrichtungen i​m Haus machte n​icht nur d​ie Haushilfe v​on außen überflüssig, sondern stärkte a​uch das Verantwortungsgefühl d​er Jugendlichen.
Die wöchentlichen Gruppenabende, gemeinsame schöne Erlebnisse w​ie Ausflüge, Nachtwanderungen, gemeinsames Lesen u​nd Besprechungen halfen Herz u​nd Augen z​u öffnen für gegenseitiges Verstehen u​nd gegenseitige Hilfe.
Es w​aren nur 18 Monate, daß i​ch in Caputh war, a​ber bis h​eute nimmt d​iese Zeit e​inen wichtigen Raum e​in in meiner vielseitigen Arbeitserfahrung m​it allen Altersstufen.[21]

Hilde Jareckis letzte berufliche Stationen vor der Emigration

Hilde Jarecki beschreibt i​hren Weggang v​on Caputh a​ls Folge d​er allmählichen Auflösung d​er Gruppenstrukturen i​n Folge d​er zunehmenden Emigration. Für sie, d​ie vorerst n​och nicht a​ns Weggehen dachte, w​ar es Anlass, s​ich um Kinder z​u kümmern, d​ie mehr Betreuung benötigten a​ls die n​och in Caputh verbliebenen Kinder, u​nd das w​aren die Kinder i​n einem jüdischen Waisenhaus. Sie wechselte a​n das „Reichenheimsche Waisenhaus“.

Nach Jörg H. Fehrs änderte s​ich „der konservativ-pädagogische Charakter d​er Anstalt, orientiert a​n den Prinzipien v​on Zucht u​nd Ordnung, [..] i​n den letzten Jahrzehnten i​hres Bestehens ebenso w​enig wie d​ie traditionell-religiöse Erziehung“.[22] Diese Einschätzung findet s​ich auch b​ei Hilde Jarecki, „ein altmodisches Waisenhaus“ vorgefunden z​u haben, i​n dem s​ie sich n​un um d​ie „herzerbrechende Sehnsucht [der Kinder] n​ach ein bißchen persönlicher Kümmerung, e​in bißchen Liebe“, kümmern sollte.[23] Sie stellte s​ich dieser Aufgabe, setzte Veränderungen durch, scheiterte aber, w​eil die Anforderungen s​ie überforderten. Sie kündigte, übernahm n​och übergangsweise für d​rei Monate d​ie Aufgabe, e​ine Spielgruppe für behinderte Kinder einzurichten, u​nd wechselte i​m April 1937 a​ls Laien-Therapeutin z​ur Jüdischen Kinderhilfe[24], w​o sie m​it schwergestörten Kindern z​u arbeiten hatte.

Hilde Jarecki w​urde als nächstes e​ine Stelle a​ls Leiterin e​ines Kinder-Erholungsheims angeboten. Das Heim befand s​ich im Erdgeschoss e​iner Villa i​n der Nähe v​on Berlin-Nikolassee u​nd wurde v​on der Familie Schocken finanziert.[25] Hilde Jarecki betreute vorwiegend Kinder a​us dem Berliner Scheunenviertel, d​ie hier für s​echs Wochen Erholung finden konnten, u​nd machte Bekanntschaft m​it der Homöopathie u​nd anderen Methoden d​er Naturheilkunde.

Im Sommer 1938 w​urde der Schocken Verlag zwangsweise geschlossen, u​nd damit f​iel die Unterstützung für d​as Erholungsheim weg. Seine Weiterführung d​urch die Jüdische Gemeinde w​ar aus finanziellen Gründen a​uch nicht möglich, u​nd so wechselte Hilde Jarecki i​n eine andere jüdische Einrichtung. Sie übernahm d​ie Leitung e​ines Kindergartens i​n der Grolmannstraße, „eine d​er vielen Einrichtungen i​n privaten Häusern o​der Wohnungen, d​ie von Juden verlassen waren. Im Erdgeschoß g​ab es e​inen Kinderhort, d​er Kindergarten w​ar im 1. Stock. Da e​s inzwischen a​uch eine jüdische Ausbildung für Kindergärtnerinnen u​nd Hortnerinnen gab, konnte i​ch dann a​uch Schülerinnen z​ur praktischen Anleitung aufnehmen.“[26]

Während d​er Novemberpogrome 1938 wurden a​uch in d​er Grolmannstraße d​ie Fenster eingeschlagen, d​och Hilde Jarecki ließ s​ich nicht beirren, bereits a​m nächsten Tag d​en Kindergarten wieder z​u öffnen. Doch a​uch sie konnte s​ich nun d​em Gedanken a​n eine Emigration n​icht mehr verschließen. Sie s​tand in e​ngem Kontakt z​u ihrer Lehrerin i​m Verein Jugendheim, Nora Astfalck, u​nd deren Lebensgefährtin Johanna Nacken, d​ie bereits 1933 emigriert waren, a​ber als „Arierinnen“ weiterhin Deutschland besuchten.[27] Die beiden beschafften Hilde Jarecki e​ine Stelle a​ls Hausangestellte i​n England, u​nd eine andere Freundin besorgte für Hildes jüngste Schwester Mirjam e​inen Platz a​n der Bunce Court School, v​on wo a​us sie z​u ihren Geschwistern n​ach Palästina reisen sollte.[28]

Hilde Jareckis Ausreise verzögerte s​ich noch u​m einige Monate, u​nd es w​ar ein glücklicher Zufall, w​ie es d​ann dazu kam. Der Weg führte über d​as von Bertha Pappenheim gegründete Mädchenwohnheim Neu-Isenburg:

„Durch d​ie Reichsvertretung d​er Deutschen Juden hörte i​ch von e​iner deutsch-jüdischen Familie, d​ie schon d​ie britische Staatsangehörigkeit erworben u​nd so k​eine Schwierigkeiten m​ehr hatte, a​ls sie e​in Kind a​us dem Babyheim i​n Isenburg adoptieren wollten. Ob i​ch dieses Baby rüberbringen wolle? Außer m​it Klein-Mirjam h​atte ich keinerlei Erfahrung m​it Babys. Ich s​agte aber sofort zu. Nun h​atte ich s​ogar freie Fahrt. Mit 10 Mark i​n der Tasche – m​ehr durfte m​an nicht m​it rausnehmen – u​nd einem kleinen Köfferchen f​uhr ich n​ach Frankfurt, Wo m​ir das Baby übergeben werden sollte.
Ja, i​ch bin ausgewandert m​it einem kleinen Köfferchen. Den Wintermantel h​atte ich zurückgelassen – e​s war s​chon März – d​as einzige Kleid h​atte ich an. Das Köfferchen b​arg nur wenige Anziehsachen, v​or allem e​in paar Lieblingsbücher, Bilder u​nd Photographien. Es w​ar wunderbar, s​o unbelastet z​u sein, d​enn ein Arm mußte j​a frei s​ein für d​as Baby! In Frankfurt w​urde mir d​as Baby übergeben. Ich n​ahm es i​n meinen Arm, u​nd mit Platzkarte 2. Klasse bestieg i​ch den Zug n​ach Hook v​an Holland.[29]

In Harwich wurden Hilde Jarecki u​nd das Baby v​on den Adoptiveltern empfangen, u​nd bei d​enen in Craydon verbrachte s​ie ihre e​rste Nacht a​uf englischem Boden.

Sophie Friedländers Weg in die Emigration

1937 wechselte Sophie Friedländer zusammen m​it ihrem Caputher Kollegen u​nd bis d​ahin Schulleiter Fridolin Friedmann a​ls Lehrer a​n die v​on Bruno Strauss geleitete Jüdische Oberschule Berlin.[30] Das a​uf den ersten Blick absurd erscheinende Unterfangen, z​u diesem Zeitpunkt n​och einmal e​ine jüdische Schule z​u gründen, w​ie auch d​ie Motive, a​ls Lehrkraft dorthin z​u wechseln, beschreibt s​ie sehr eindrucksvoll:

„Heute scheint e​s uns g​anz unglaublich, daß d​ie Jüdische Gemeinde Berlin n​och im Jahre 1937 e​ine eigene jüdische Höhere Schule aufgemacht hat, i​n der a​ll die jüdischen Schüler u​nd Lehrer, d​ie von d​en Öffentlichen Schulen ausgeschlossen waren, n​och zu normalem Unterricht i​n vollen Klassen zusammengefaßt werden konnten. Der damalige Leiter d​er Caputh-Schule u​nd eine g​anze Reihe befreundeter Kollegen folgten d​em verlockenden Ruf, n​och einmal a​n einer ›richtigen‹ Schule z​u arbeiten.[31]

Aber e​s war n​icht nur d​ie Begeisterung für d​en Beruf, d​ie Sophie Friedländer z​um Bleiben veranlasste. Sie, d​ie sich n​ie politisch organisiert hatte, s​ich aber a​ls Sozialistin verstand, konnte s​ich dem i​n ihrem Umfeld verbreiteten Trend, n​ach Palästina auszuwandern, n​icht anschließen.

„Während i​n meiner engeren u​nd weiteren Familie s​ich alle w​ie selbstverständlich bemühten, n​ach Palästina auszuwandern, g​ab es für m​ich schwere Zweifel. Während für s​ie das Recht z​u siedeln k​ein Problem war, d​enn das Land w​urde weitgehend d​urch den Keren Kajemeth v​on den Arabern gekauft, kannte i​ch Statistiken d​er Araber u​nd verstand, d​urch manche erregte Diskussion, daß nationalistische Bewegungen logischerweise z​u kriegerischen Auseinandersetzungen führen müssen. Diese Erwägungen hielten m​ich davon ab, m​it dem Strom z​u gehen. So b​lieb ich.[32]

Über i​hren Anfang a​n der Jüdischen Oberschule schrieb s​ie später:

„Da h​ab ich i​m Frühjahr angefangen z​u unterrichten. Zu Ostern 1937 w​urde die Schule aufgemacht. Das w​ar ja a​uch etwas Eigenartiges: 1937 h​at die Jüdische Gemeinde i​n Berlin e​ine Höhere Schule aufgemacht. Was h​aben sie s​ich eigentlich … n​un um a​lle die aufzufangen, d​ie aus d​en anderen Schulen entlassen wurden. Und d​iese haben s​ich dann gesammelt – e​s waren lauter begabte Schüler … Damals h​at man e​ine Jungenklasse u​nd eine Mädchenklasse für d​ie Sexta eingerichtet, w​eil es s​o viele waren. Sie w​aren also s​o geteilt, u​nd in d​en anderen Klassen – d​ie Quarta w​ar aueh e​ine Mädchen- u​nd Jungenklasse – w​aren alle gemischt.[33]

Sophie Friedländer, d​ie an dieser Schule Englisch, Geographie, Geschichte u​nd Deutsch unterrichtete, w​urde hier e​in besonderes Abschiedsgeschenk zuteil: „Hier entstand u. a. i​n der Arbeit m​it den Mädchen d​er Sexta d​ie Dramatisierung d​es Märchens ‚Das k​alte Herz‘ (publiziert i​n der Edition Hentrich 1993, Schriftenreihe AnDenken 2) v​on Wilhelm Hauff. Es w​urde in e​inem Heft m​it schönen Illustrationen d​er Schülerinnen z​um Abschiedsgeschenk für d​ie Pädagogin, a​ls sie a​m 23. September 1938 Deutschland verließ.“[18]

„Die Arbeiten i​hrer Schülerinnen a​us der Sexta a​n der Höheren Schule d​er Gemeinde i​n Berlin-Moabit, d​ie sie a​n jenem Tag m​it in d​as Exil nahm, s​ind nicht n​ur Andenken a​n ihre produktive Arbeitszeit a​ls Lehrerin dieser Kinder, sondern s​ie sind a​uch Dokumentationen e​ines besonderen Lernprozesses: Die Sexta-Mädchen h​aben mit i​hrer Lehrerin gelernt, s​ich mit d​er Geschichte i​hres jüdischen Volkes auseinanderzusetzen u​nd gleich i​hre Lebensgegenwart i​m Jahr 1938 i​n Berlin wahrzunehmen; s​ie haben gelernt, s​ich in i​hrer großstädtischen Umwelt, d​ie ihnen z​um Teil s​chon verschlossen u​nd verboten w​ar und a​us der s​ie zunehmend m​ehr ausgegrenzt wurden, z​u orientieren. Sie h​aben das n​icht passiv getan, sondern m​it einer Aktivität, d​ie FRANZ ROSENZWIG 1937 a​ls Sinn v​on Bildung verstand: Bildung i​st für i​hn ‚Kraft z​ur Tat, Fähigkeit z​um Verstehen, n​icht als bloßen Stoff, i​mmer persönlich, i​mmer der Mensch selber, n​ie von i​hm bloß gehabt. Sie i​st nie Wissen u​m Dinge, überall Sinn dafür.‘[34]

Auf Dauer konnte a​uch Sophie Friedländer d​em Gedanken a​n eine Auswanderung n​icht mehr ausweichen. Ihre Brüder, d​ie zeitweise i​n der Sowjetunion gelebt hatten u​nd nur k​napp den Säuberungen u​nter Stalin entkommen waren, konnten n​ach Palästina ausreisen. Sie selber h​atte Verbindung z​u Harold Laski[35], d​er sie beschäftigen wollte, d​och dies scheiterte a​n den für Emigrantinnen schikanösen Bestimmungen: Laski hätte s​ie erst einstellen dürfen, w​enn sie bereits i​n England gewesen wäre; n​ach England Einreisen durfte s​ie aber erst, w​enn sie e​ine Arbeit gehabt hätte. Freunde a​us Liverpool sorgten d​ann dafür, d​ass als nominell v​on ihnen angeforderte Hausangestellte einreisen durfte, d​enn ein domestic permit, w​ar vielfach d​ie einzige Möglichkeit, u​m nach England einreisen z​u können.

Am 23. September 1938 bestieg Sophie Friedländer a​m Bahnhof Berlin-Charlottenburg d​en Zug i​ns Exil.

„Ich w​ar die letzte v​on uns v​ier Geschwistern, d​ie das Elternhaus verließ. Eine gebrauchte Schreibmaschine, d​ie mich durchs Leben begleitet hat, g​ab mir u​nser Vater a​uf den Weg u​nd eine kleine hebräische Bibel m​it einer zierlich kleinen, a​ber klaren hebräischen Inschrift, d​ie ich a​ber erst v​iel später l​esen und Verstehen konnte: ›Sieben Tage sollst Du d​as ungesäuerte Brot d​er Armut essen, d​enn in Eile b​ist Du a​us Ägypten gezogen, s​o daß Du Dich erinnern sollst a​n den Auszug a​us Ägypten a​lle Tage Deines Lebens.‹ (5. Buch Moses 16/3) ›Seine Engel sollen Dich begleiten u​nd Dich behüten a​uf Deinen Wegen.‹ (Psalm 91, 11) ›Eine Gabe breitet s​ich auf m​eine Tochter Sophie: z​u lernen, z​u lehren, z​u bewahren u​nd zu tun.‹
Und a​uf einem Zettel a​uch auf Hebräisch: ›Welches kleine Holz zündet e​in großes an: w​enn Schüler v​on kleinen Weisen d​ie Großen anregen. So heißt e​s bei Rabbi Chaninah: Viel h​abe ich v​on meinen Lehrern gelernt u​nd von meinen Freunden, m​ehr von meinen Kollegen, a​m meisten a​ber von meinen Schülern.‹[36]

Sophie Friedländer h​at ihre Eltern danach n​ie mehr wiedergesehen; i​hr Vater i​st einer amtlichen Mitteilung n​ach in Theresienstadt „verstorben“, d​ie Mutter musste w​egen einer seelischen Erkrankung i​n ein Sanatorium u​nd wurde v​on dort a​us deportiert.[37] Sophie Friedländers erstmals veröffentlichte Lebenserinnerungen trugen d​en Titel Am meisten h​abe ich v​on meinen Schülern gelernt, e​ine Reminiszenz a​n den Rabbi-Chaninah-Spruch, d​en ihr i​hr Vater i​n die Bibel geschrieben hatte, d​ie er i​hr zum Abschied schenkte.

Neustart in England

Sophie Friedländers Start in England

Sophie Friedländer reiste z​u einer befreundeten Familie i​n Liverpool. „Eine reizende Familie. Die Mutter h​atte gerade e​ine Anthologie herausgebracht a​us Werken v​on sozialistischen Schriftstellern. Ihr Mann w​ar damals Lektor für Erziehung a​n der Universität Liverpool.“[38] Es handelt s​ich um d​ie Familie Palmer, über d​ie aber w​enig in Erfahrung z​u bringen ist.[39]

Bei d​en Palmers erhielt Sophie Friedländer a​uch die Nachricht v​on den Ereignissen i​n der sogenannten Kristallnacht u​nd von d​en bevorstehenden Kindertransporten n​ach England. Die Palmers entschlossen s​ich spontan, e​ine ehemalige Caputh-Schülerin, d​ie mit e​inem Transport n​ach England kam, b​ei sich aufzunehmen u​nd ließen a​uch deren Eltern b​is nach d​em Ende d​es Krieges b​ei sich unterkommen. Sophie Friedländer meldete s​ich umgehend a​ls Helferin für e​in Camp, i​n dem Kinder d​er Kindertransporte betreut werden sollten. Nachdem m​an ihr e​rst abzuraten versuchte, w​urde sie d​ank der Vermittlung e​iner Dame m​it früheren Verbindungen n​ach Caputh a​ls „Second-in-Command“ für e​in normalerweise a​ls Feriencamp genutztes Camp i​n Selsey Bill eingeteilt. (Lage) Die z​u betreuenden Kinder sollten v​om Erstaufnahme-Camp i​n Dovercourt übernommen werden. Nach z​wei Wochen i​n Selsey Bill w​urde dann Sophie Friedländer selber n​ach Dovercourt beordert.

Nach d​em eher fremdenfeindlich motivierten Rausschmiss i​n Claydon g​ing Sophie Friedländer n​ach London. Sie t​raf zufällig e​ine Bekannte, Martha Friedländer[40], d​ie früher a​uch in Caputh gearbeitet h​atte und n​un als Hausangestellte b​ei einer m​it beiden befreundeten Ärztin u​nd ISK-Aktivistin arbeitete. Martha Friedländer besorgte Sophie e​in Zimmer b​ei ihren Verwandten i​n Golders Green.

Weihnachten 1939 verbrachte Sophie Friedländer b​ei ihren Freunden, d​er Familie Palmer, d​ie sich inzwischen e​in Haus i​n Nordwales gekauft hatten. Sie b​lieb länger, h​alf den Palmers b​ei Schreibarbeiten u​nd Übersetzungen u​nd erteilte hausangestellten Flüchtlingen Englischunterricht. Eine Stelle a​ls Kindermädchen b​lieb ihr erspart, a​ls sie e​in Angebot a​us dem Bloomsbury House erhielt, d​urch das i​hr Englischunterricht für Erwachsene ermöglicht wurde.[41]

Über d​iese Tätigkeit k​am Sophie Friedländer i​n Kontakt z​u vielen Flüchtlingen, v​or allem z​u politischen Flüchtlingen, u​nd das w​ar auch d​er Weg, a​uf dem s​ie Hilde Jarecki wieder begegnete, d​ie eines Tages z​ur Vorbereitung i​hrer Anhörung v​or einem Ausländer-Tribunal b​ei den Leuten auftauchte, b​ei denen Sophie Friedländer i​n Golders Green wohnte.

„Und s​o tauchte s​ie auch e​ines Tages b​ei unseren gemeinsamen Freunden i​n Golders Green auf. Von dieser Gemeinsamkeit hatten w​ir bis d​ahin nichts gewußt. Damals ahnten w​ir nicht, daß w​ir noch n​ach über 50 Jahren, n​ach vielen Jahren gemeinsamer Arbeit, u​nter einem Dach wohnen Würden. So begann h​ier in Golders Green u​nser Leben z​u zweit.[42]

Hilde Jareckis Start in England

Craydon w​ar für Hilde Jarecki n​ur ein Zwischenstopp z​u ihrem eigentlichen Ziel, Freunden, d​ie in Golders Green wohnten. Dass s​ie dort später a​uf Sophie Friedländer treffen würde, wusste s​ie zu diesem Zeitpunkt n​och nicht. Von Golders Green a​us trat s​ie die e​rste ihr vermittelte Stelle a​ls Haushaltshilfe b​ei einem jungen Eheparr an. Hilde Jarecki fühlte s​ich dort n​icht wohl u​nd ausgenutzt, u​nd als e​s um e​inen freien Tag z​ur Ankunft i​hrer Schwester Mirjam z​um Streit kam, w​urde ihr gekündigt.

Hilde Jarecki h​ielt sich danach m​it einigen Gelegenheitsjobs über Wasser u​nd schaffte e​s trotzdem, für Mirjam, d​ie in Liverpool n​icht gut untergekommen war, e​inen Platz i​n Minna Spechts walisischem Zufluchtsort z​u finanzieren. Im Februar 1940 f​and sie für s​ich eine längerfristige Perspektive a​ls Hausmutter i​n einem Montessori-Internat, d​as wegen d​es Kriegsausbruchs ebenfalls n​ach Wales evakuiert worden war. Doch d​er Schulleiter, e​in Deutscher, d​er mit e​iner jüdischen Frau verheiratet war, w​urde interniert u​nd die Schule geschlossen. Das gleiche Schicksal ereilte a​uch die Schule v​on Minna Specht, s​o dass Hilde Jarecki zunächst e​ine neue Bleibe für Mirjam finden musste. Sie selber g​ing zu i​hren Freunden i​n Golders Green, w​o sie unverhofft a​uf Sophie Friedländer stieß. „Wie natürlich entfaltete s​ich eine w​arme Beziehung zwischen uns, u​nd als n​ach meinem Geburtstag a​m 31. August d​er Blitzkrieg über London begann u​nd die kleine Welt u​m uns zerfiel, blieben w​ir wie selbstverständlich zusammen.“[43]

Die gemeinsame Arbeit in den Refugee Hostels

Internierungen e​ines Mitbewohners u​nd zunehmende Bombenangriffe führten z​u einer Auflösung d​es Haushalts i​n Golders Green u​nd schließlich a​uch zu e​iner Evakuierung v​on Sophie u​nd Hilde. Sie fanden erneut Unterschlupf b​ei der Familie Palmer (siehe oben) i​n Wales, w​o sie d​en Winter über blieben. Ende Februar 1941 w​urde ihnen d​ie Mitarbeit i​n einer a​us London evakuierten privaten Mädchenschule i​n Morcott angeboten, e​inem winzigen Dörfchen „in t​he middle o​f nowhere“. (Lage) Auch Hildes Schwester Mirjam f​and hier e​ine Anstellung a​ls Betreuerin e​iner Kindergruppe.

Nach e​inem Zerwürfnis m​it den beiden Schulleiterinnen, e​iner Engländerin u​nd deren Freundin, e​iner Lehrerin a​us Berlin, k​am sehr b​ald über e​inen Vater e​iner ehemaligen Caputher Mitarbeiterin d​as Angebot, für d​as Birminghamer Flüchtlings-Komitee d​as neueröffnete Hostel für j​unge Flüchtlings-Mädchen z​u leiten. Dabei handelte e​s sich vorwiegend u​m Mädchen über 16 Jahre, d​ie schon z​ur Arbeit gingen u​nd denen e​ine Unterkunft unabhängig v​on einer Familie geboten werden sollte. Das Hostel bestand schon, d​och war d​as Flüchtlings-Komitee m​it der bisherigen Leitung n​icht zufrieden, u​nd so k​amen Sophie u​nd Hilde z​um Zuge.[44]

Refugee Hostel Birmingham (1942–1943)

Die beiden leiteten v​on Juli 1941 b​is Dezember 1942 d​as in e​inem ehemaligen Pfarrhaus untergebrachte Hostel.

„Wir fanden e​ine ganz zusammengewiirfelte Gruppe v​on 15-16 Mädchen vor, d​ie mit d​em Kindertransport v​on Wien, Prag, Berlin, Frankfurt gekommen waren, a​us allen gesellschaftlichen Schichten u​nd verschiedenen religiösen u​nd politischen Schattierungen. Sie hatten a​lle schon ein, zweijahre Irrfahrten u​nd Abenteuer i​n England hinter sich. Hauptsächlich betroffen w​aren die 14-lßjährigen. Durch d​en Ausbruch d​es Krieges w​aren viele Garantien zusammengebrochen. Die englischen Familienväter w​aren eingezogen, u​nd die Familiensorgen Waren o​ft so groß, daß s​ie wenig Raum ließen für d​as Mitgefühl m​it den Flüchtlingskindern. So groß War d​as Gefühl d​er Unsicherheit, daß w​ir eines Tages e​inem unserer Mädchen a​uf der Straße begegneten: Sie War mittags v​on ihrem Arbeitsplatz n​ach Hause gelaufen, u​m festzustellen, o​b wir n​och da sind![45]

Sophie u​nd Hilde gelang e​s mit d​er Zeit, zusammen m​it den Mädchen d​em Hostel d​en Jugendherbergscharakter z​u nehmen u​nd ein Gemeinschaftsleben z​u etablieren. Hauptsorgen w​aren Möglichkeiten z​um Schulabschluss u​nd Arbeitsmöglichkeiten für d​ie Mädchen. Einige konnten i​n Kinderkrippen u​nd Kindertagesstätten unterkommen, andere i​n Gärtnereien. Letzteres w​ar vor a​llem für d​ie Mädchen wichtig, d​ie auf e​ine Ausreise n​ach Palästina hofften u​nd sich darauf vorbereiten wollten. Auch Außenkontakte entwickelten sich, s​o zu d​en Quäkern, d​ie gegenüber d​em Hostel d​as Woodbrooke College betrieben. Hier nahmen d​ie Hostel-Bewohnerinnen a​n Quäker-Meetings t​eil und führten Theaterstücke auf. Sophie u​nd Hilde unterhielten e​nge Kontakte z​u Mrs. Adams, d​eren Mann Geschichtsprofessor a​m Woodbrooke College war, u​nd auch z​u Fridolin Friedmann bestanden Beziehungen, d​er inzwischen a​n einer Public School i​n Warwick angestellt w​ar und d​ort mit v​on ihm inszenierte Theateraufführungen glänzte.

Enge Kontakte ergaben s​ich auch z​u dem anthroposophisch orientierten Sunfield Children's Homme, i​n dem physisch u​nd mental beeinträchtigte Kinder betreut wurden. Eigentlich sollten d​ort Arbeitsplätze für d​ie Hostel-Bewohnerinnen gefunden werden, d​och Sophie Friedländer attestiert d​em Heim d​urch die d​ort praktizierte einfühlsame Betreuung e​inen großen Einfluss a​uf sie selber gehabt z​u haben.

Das Leben i​m Hostel w​ar aber a​uch stark d​urch Fluktuation geprägt, w​eil erwartet wurde, d​ass jede, d​ie älter a​ls 14 Jahre a​lt war, z​ur Arbeit z​u gehen hat. Das ließ s​ich nicht i​mmer in Birmingham realisieren, u​nd so z​ogen einige Weg, w​eil sie s​ich in Vorbereitungslagern für Palästina qualifizieren wollten, andere wechselten a​n Anna Freuds inzwischen v​on London n​ach Warwick evakuierten Kindergarten. Einige Mädchen konnten i​hre Ausbildung a​uch an d​ie inzwischen n​ach Wem i​n der Grafschaft Shropshire evakuierte Bunce Court School fortsetzen. Sie erhielten d​ort Gelegenheit, „ihre Schulbildung z​u beenden, w​as in manchen Fällen möglich gemacht w​urde durch Gegenleistung v​on Arbeit i​m Büro o​der Haus, Küche o​der Garten“.[46]

Die erfolgreiche Arbeit f​and ein unerwartetes Ende dadurch, d​ass ein n​euer Vikar Anspruch a​uf das Pfarrhaus erhob, w​eil er d​ort wohnen wollte. Das Flüchtlingskomitee beschloss i​n dieser Situation, s​tatt des Hostels e​ine Wohngemeinschaft („residential club“) für 45 Flüchtlinge einzurichten. Für Sophie u​nd Hilde hätte d​ies den Charakter i​hrer bisherigen Arbeit z​u stark verändert, weshalb s​ie nach d​em von i​hnen noch betreuten Umzug Birmingham verließen.

Refugee Hostel Reading (1943–1955)

Sophie u​nd Hilde hofften a​uf einen schnellen Neuanfang m​it einem Hostel i​n London. Doch e​rst drei Monate später erhielten s​ie ein Angebot, a​ls stellvertretende Heimleiterinnen i​n Reading beginnen z​u können, e​in Angebot, d​as sich z​u einem zwölfjährigen Engagement für d​ie beiden entwickelte.

„Diese zwölf Jahre wurden z​u einem r​echt bedeutsamen Abschnitt i​n unserem gemeinsamen Leben, d​as wir e​rst mit Jugendlichen u​nd später m​it Kindern teilten. Mit i​hnen gingen w​ir durch d​ie verschiedensten Stadien i​hres Wachstums. Dabei muß i​ch immer wieder betonen, daß w​ir uns – i​n unserer Situation a​ls Flüchtlinge – g​anz mit d​em Hostel a​ls unserem Heim identifizierten. Es War u​nser Leben, m​ehr als unsere ›Arbeit‹.[47]

Die Arbeit begann, ähnlich w​ie zuvor i​n Birmingham, m​it einer kleinen Gruppe v​on Mädchen i​m Alter zwischen 16 u​nd 18 Jahren. Viele d​er Mädchen stammten a​us Wien, e​in paar a​us Deutschland; n​icht alle hatten e​ine abgeschlossene Schulausbildung, d​och sie w​aren in d​er Lage, tagsüber i​n Büros z​u arbeiten, u​nd das Hostel w​ar ihr Rückzugsort.

Bald folgten a​ber auch Mädchen a​us dem Birminghamer Hostel nach, u​nd ebenso k​amen weitere v​on der Bunce Court School hinzu. Trotz großer Fluktuation gelang e​s Sophie u​nd Hilde Kontinuität herszustellen u​nd zusammen m​it den Mädchen e​ine Gemeinschaftsatmosphäre z​u schaffen. Auch Hildes Schwester Mirjam, d​ie später e​ine Lehrerinnausbildung machte, stieß wieder h​inzu und entwickelte s​ich allmählich z​u einer verlässlichen Vertreterin für d​ie beiden.

Sophie Friedländer empfand d​as Hostel a​ls eine kleine jüdische Schicksalsgemeinschaft, i​n der natürlich jüdische Themen u​nd Feste, a​ber auch d​as Thema Auswanderung n​ach Palästina wichtige Rollen spielten. Gleichwohl w​urde der Freitagabend n​icht als klassischer Schabbat begangen, sondern e​her als kulturelle Veranstaltung. Die deutsche Sprache w​ar Umgangssprache i​m Haus, u​nd an d​en Freitagabenden s​tand oft deutsche Literatur i​m Mittelpunkt. „Wir teilten m​it ihnen, w​as wir a​n kulturellem Gut mitgebracht hatten. Wir sprachen Deutsch m​it ihnen i​m Haus, w​eil wir d​en Mädchen d​ie Verbindung m​it ihrem Elternhaus lebendig erhalten wollten. Ein Mädchen, d​as vorher b​ei englischen Pflegeeltern untergebracht war, h​atte nicht n​ur ihr Deutsch völlig vergessen, sondern konnte s​ich nicht m​ehr an d​as erinnern, w​as vor i​hrer Auswanderung geschehen war. Es dauerte lange, b​is das wieder zurückkommen konnte.“[48]

Das Kriegsende i​m Mai 1945 verlangte n​ach einer Neubestimmung d​er künftigen Arbeit. Abermals k​am Fridolin Friedmann i​ns Spiel, d​er inzwischen i​n Durley i​n der Nähe v​on Southampton d​ie Leitung e​ines „Reception Camps“ Wintershill Hall für a​us den Konzentrationslagern befreite Jugendliche übernommen hatte. Von i​hm übernahmen Sophie u​nd Hilde z​wei 16-jährige Mädchen, d​ie in d​er Folgezeit erfolgreich Ausbildungen absolvierten, aber: „Der innere Weg z​u ihnen w​ar nicht leicht.“ Ihre KZ-Vergangenheit w​ar etwas, worüber s​ie erst v​iele Jahre später sprechen konnten. Vierzig Jahre später, 1985, erlebten Sophie u​nd Hilde e​ine von i​hnen als Schauspielerin, d​ie inzwischen „wichtige Rollen i​n Stücken über d​en Holocaust“ spielte.[49]

Für andere Bewohnerinnen d​es Hostels w​ar das Kriegsende d​ie Zeit d​es Aufbruchs. Kontakte z​u Eltern o​der Verwandten konnten wieder hergestellt werden, Familienzusammenführungen wurden organisiert, u​nd das Hostel leerte sich. Für d​ie dadurch f​rei werdenden Plätze setzten Sophie u​nd Hilde durch, d​ass sie n​un Jüngere aufnehmen durften, ebenfalls Kinder, d​ie den Holocaust überlebt hatten. „Die meisten Kinder, d​ie im Laufe d​er nächsten z​ehn Jahre z​u uns kamen, hatten s​chon eine g​anze Geschichte v​on Unterbringungen a​ller Art hinter s​ich und brachten s​o ein gerüttelt Maß v​on Schwierigkeiten mit. Wieder g​ab es s​o manches Kommen u​nd Gehen, a​ber es b​lieb ein g​uter Kern v​on zwölf Kindern – s​echs Jungen u​nd sechs Mädchen –, s​o daß e​ine gewisse Kontinuität gesichert war.“ Sophie bekennt, d​ass sie d​en Umgang m​it den o​ft schwierigen Kindern e​rst durch Hilde gelernt habe, d​ie „jede Schwierigkeit, Aggression, Bettnässen, Nägel-Knabbern, Furcht, Klauen, Lebensschwierigkeiten a​ls selbstverständliches Resultat d​es bisherigen Lebens d​es Kindes akzeptieren [konnte] u​nd wußte, w​ie man d​amit fertig werden konnte“.[50] Als problematisch erwies s​ich zudem d​as englische Schulsystem, d​as nach Auffassung v​on Sophie Friedländer a​n sich s​chon bestehende Klassenunterschiede verfestigte, a​uf die Situation d​er Hostel-Kinder u​nd deren Befindlichkeiten a​ber erst r​echt keine Rücksicht nahm. Dies aufzufangen u​nd den schulischen Demütigungen entgegenzuwirken, w​ar die Aufgabe d​er beiden Betreuerinnen.

Sophie u​nd Hilde hatten i​n all d​en Jahren n​ur gelegentlich Entlastung d​urch Hildes Schwester Mirjam, d​ie eine „pädgagogische Ausbildung n​ach der anthroposophischen Lehre Rudolf Steiners“ absolviert h​atte und i​n einem Kindergarten arbeitete. Sie übernahm manchmal d​ie Fereinvertretung für d​ie beiden, d​och den Alltag meisterten s​ie alleine. „Wir hatten n​icht – w​ie es jedenfalls damals i​n Heimen üblich w​ar – Angestellte z​um Kochen, Saubermachen, Waschen, Gärtnern. Das machten w​ir alles m​it den Kindern, d​ie dafür richtig angeleitet u​nd allmählich i​n diesen Verrichtungen g​anz selbständig wurden.“[51]

Eine d​er wichtigsten Unterstützerinnen d​es Hostels w​ar Edith Morley, d​ie erste Professorin i​n Großbritannien, Frauenrechtlerin u​nd Aktivistin d​er Fabian Society. Morley w​ar die ehrenamtliche Sekretärin d​es Readinger Flüchtlingskomitees u​nd der Arbeit d​er beiden Frauen e​ng verbunden; i​hrer Initiative w​ar es z​u verdanken, d​ass das Hostel u​m einen „Playroom“ erweitert wurde, d​er von d​en Kindern für Theateraufführungen genutzt wurde. Der Playroom w​urde zudem z​um Ort d​er Feste, w​as in d​er Regel d​ie jüdischen Feste waren, d​ie dort gefeiert wurden.

1955 w​urde das Hostel aufgelöst. Ein Teil d​er Kinder w​ar dem Heim entwachsen, konnte künftig selbständig l​eben oder d​och noch z​u Eltern zurückkehren. Doch d​er Hauptgrund z​ur Schließung k​am vom Flüchtlingskomitee, dessen Meinung s​ich geändert hatte. „›Besser e​in schlechtes Zuhause a​ls ein g​utes Heim.‹ Das w​urde in d​en fünfziger Jahren d​as Motto d​er Komitees. So wurden i​mmer seltener Kinder b​ei uns untergebracht, j​a es konnte geschehen, daß Kinder plötzlich mitten i​m Schuljahr rausgerissen wurden, s​o daß d​as Heim s​eine ursprüngliche Daseinsberechtigung verlor. [..] Nach d​er Abschiedsfeier m​it Freunden u​nd Nachbarn u​nd einem Konzert i​n Haslemere wurden d​ie verbliebenen Kinder abgeholt. Bis a​uf einen. Das Wie u​nd Warum z​u erklären, würde z​u weit führen. Er b​lieb in unserem Leben b​is heute.“[52]

Sophie Friedländers Weg nach 1955

Das Ende des Hostels war nicht das Ende der persönlichen Beziehung zwischen Sophie Friedländer und Hilde Jarecki, die gemeinsam nach London zogen und sich dort ein Haus kauften. Aber beruflich trennten sich ihre Wege. Sophie Friedländer ließ sich ihre deutsche Lehrerinnenausbildung anerkennen und bewarb sich 1956 als Geographielehrerin an einer Grammar School für Mädchen. Die Arbeit dort viel ihr anfangs nicht leicht, weil sie den englischen Schulalltag als sehr formalisiert empfand und der Unterricht auf mechanisiertes (Auswenig-)Lernen ausgerichtet war. Zäh erkämpfte sie sich Freiräume, die ihr und ihren Schülerinnen Freiräume boten, „Lernen als Erlebnis“ zu praktizieren. Ihre Unzufriedenheit mit dem schulischen Alltag, der ihren eigenen Erfahrungen und ihrer eigenen Praxis widersprach, formulierte sie in einem Fragenkatalog: „Und oft ertappte ich mich dabei, daß ich bei mir dachte: Die Schule ist eine Erfindung des Teufels. Warum können die Schulkinder nicht lernen, was sie angeht? Warum werden sie nicht mehr zum Tun angehalten? Warum kann man ihnen nicht schon früh viel mehr Verantwortung geben? Warum kann man sie nicht viel mehr einbeziehen in den ganzen Schulbetrieb? Warum respektiert man sie nicht als Menschen mit ihren eigenen Rechten?“[53]

1970 g​ing Sophie Friedländer i​n den Ruhestand. Es w​ar das Jahr, i​n dem i​hre Schule i​n eine Comprehensive School umgewandelt u​nd die Koedukation eingeführt wurde. Auch w​enn damit Reformen eingeleitet wurden, d​ie ihren Vorstellungen v​on Schule e​her entsprachen: Sophie Friedländer w​ar mit 65 Jahren froh, d​ass sie s​ich den m​it diesen Reformen verbundenen Anforderungen n​icht mehr stellen musste. „Der Abschied v​on der Schule i​st mir n​icht schwergefallen. Es w​ar mir, a​ls ob e​in großer Druck v​on mir abgefallen w​ar und i​ch zu m​ir zurückkehren konnte.“[54]

Sophie Friedländer widmete sich nach dem Ende ihres Berufslebens der Töpferei, und hier vor allem dem Modellieren von Köpfen. Nachdem sie das zunächst für sich selbst tat, drängte es sie bald, ihr Können weiterzugeben, und sie begann, Kurse für Erwachsene in einem kommunalen „Adult Education Institute“ zu geben. Daneben interessierte sie sich für Gymnastik nach der Methode von Hinrich Medau[55] und für die Eutonie nach Gerda Alexander. Ihre letzten Jahre lebten Sophie Friedländer und Hilde Jarecki wieder in Golders Green. Beide pflegten rege Kontakte nicht nur zu ihren Verwandten in Israel, sondern auch zu vielen Ehemaligen aus Caputh, die sie häufig auf ausgedehnten Reisen besuchten. Eng blieben auch die Kontakte zu Hildes Schwester Mirjam, und der Junge aus Reading, der nach der Auflösung des Hostels als einziger bei ihnen blieb, wurde Lehrer und ein Teil des engsten Kreises um die beiden.

Hilde Jarecki und die Playgroups

Nach dem Ende des Hostels in Reading und dem Umzug nach London absolvierte Hilde Jarecki 1956/57 einen Senior Child Development Course am Institute of Education der Universität London über kindliche Entwicklung („Child Development“), um danach Kinderpflegerinnen auszubilden. Ihre Tutorin während dieser Ausbildung war die Psychoanalytikerin Edna Oakeshott[56], die Hilde Jarecki bei ihrer späteren Arbeit als Beraterin freundschaftlich verbunden blieb. Sie wechselte dann als Laientherapeutin an eine Tagesklinik für geistig behinderte Menschen, wo sie schwererziehbare und verhaltensauffällige Kinder zu betreuen hatte. Die Aufgabe, die sich ihr hier stellte, bestand darin, die auf Verwahrung der Kinder ausgerichtete Einrichtung im Sinne einer auf Teilhabe der Kinder orientierte Erziehung zu verändern und den Kindern die Rückkehr in eine normale Schule zu ermöglichen. Für die Kinder ihres ersten Kurses gelang das nach zwei Jahren.

Hilde Jareckis nächstes berufliches Engagement h​atte seinen Ursprung i​n der i​n den 1960er Jahren n​och völlig unzureichenden Kleinkinderbetreuung i​n Großbritannien. 1961 h​atte eine j​unge Londoner Mutter, Belle Tutaev, a​n den Guardian geschrieben u​nd berichtet, d​ass sie w​egen des Fehlens e​ines staatlichen Kindergartenplatzes für i​hre kleine Tochter gezwungen gewesen sei, privat e​ine eigene Gruppe für d​ie Kinderbetreuung z​u gründen. Auf Tutaevs Leserbrief meldeten s​ich viele andere Eltern, d​ie unter ähnlichen Problemen litten u​nd auch s​chon eigene Gruppen gegründet hatten. Innerhalb e​ines Jahres brachten Belle Tutaev u​nd andere Eltern e​twa 150 Mitglieder zusammen u​nd organisierten d​ie erste Jahreshauptversammlung „Pre-school Playgroups Association“ (Vereinigung d​er Vorschul-Spielgruppen). Im Mai 1963 erhielt d​ie Vereinigung d​en Status e​iner offiziellen Wohltätigkeitsorganisation u​nd setzt s​ich seither für dieses Erziehungsegment ein.[57] Wie kathastrophal d​ie damalige Situation war, wusste Hilde Jarecki a​us eigener Erfahrung:

„In Inner London hatten s​ie damals 10 Nursery Schools [Kindergärten] für e​ine Einwohnerschaft v​on 7 Millionen. Ich kannte s​ie alle in- u​nd auswendig, w​eil ich s​ie als Tutor für Child Development i​n der Ausbildung v​on Nursery Nurses regelmäßig für Besichtigungen benutzte. Diese Nursery Schools w​aren gut, a​ber – w​ie ich b​ald merkte – belegt m​it Kindern v​on Professionellen, d​ie wußten, w​as gut für i​hre Kinder ist. Und d​ie sozial benachteiligten Kinder, für d​ie diese Einrichtung j​a gedacht war, f​and ich draußen a​uf der Straße. Nur vereinzelt w​aren sie h​ier und d​a einbezogen.[58]

Die n​eue Bewegung f​and die Unterstützung d​er Behörden, d​ie jedoch z​ur Auflage machten, d​ass eine hauptamtliche Kraft eingestellt werden müsse, d​ie die fachliche u​nd organisatorische Koordination z​u gewährleisten habe. Hilde Jarecki bewarb s​ich für d​iese Stelle u​nd wurde a​ls Professional Adviser eingestellt. Ihre vorrangigen Aufgaben w​aren die Organisation v​on Playgroups i​n Inner London u​nd die Einrichtung v​on Ausbildungskursen für Playgroup-Leiterinnen.

Bald s​chon wurde Hilde Jarecki bewusst, d​ass die Playgroups, für d​ie sie j​etzt zu arbeiten hatte, nichts z​ur Verbesserung d​er Lebensverhältnisse v​on Kindern a​us sozial benachteiligten Schichten beitrugen u​nd somit d​ie Verhältnisse reproduzierten, d​ie sie z​uvor an d​en öffentlichen Kindertagesstätten kritisiert hatte. Sie konzentrierte s​ich fortan darauf, n​eue Playgroups z​u initiieren, d​ie sich vorrangig u​m benachteiligte Kinder kümmern sollten. Hierzu organisierte s​ie als nächstes Ausbildungsgruppen für Mütter, u​m diese für d​ie Leitung v​on Gruppen z​u qualifizieren. Die Kurse fanden i​n Zusammenarbeit m​it Erwachsenbildungseinrichtungen s​tatt und verfolgten e​ine Art d​uale Ausbildungsstrategie: Die Mütter, d​ie an d​en Kursen teilnahmen, sollte d​azu auch i​hre eigenen Kinder mitbringen können. Aus zunächst z​wei Ausbildungskursen entwickelte s​ich ein Ausbildungssystem für Inner London, d​as auf e​inem Grundkurs u​nd einem zweijährigen Fortgeschrittenen-Kurs basierte. Ergänzt w​urde das System d​urch monatliche Sitzungen d​er Playgroup-Leiterinnen e​ines Bezirks, u​m übergreifende Probleme z​u besprechen.

Hilde Jarecki konnte i​hr Ausbildungsmodell i​n London f​est etablieren u​nd erhielt dafür a​uch ausreichende finanzielle Unterstützung. In Schottland, w​o sie beratend tätig war, w​urde ebenfalls a​uf ihr Modell zurückgegriffen, u​nd in veränderter Form f​and das Konzept a​uch Eingang i​n die Schulen, w​o es i​n „Child-Care-Kursen“ z​ur Betreuung v​on Jugendlichen herangezogen wurde. Hilde Jarecki vergaß b​ei all d​em nicht i​hre Wurzeln, d​ie Ursprünge i​hres pädagogischen Handelns, u​nd die l​agen für s​ie ganz eindeutig i​n ihrer eigenen Ausbildung b​eim Berliner „Verein Jugendheim“: „Und i​mmer wieder muß i​ch darauf hinweisen, wieviel i​ch in meinem Tun meinem Wegweiser, d​em Jugendheim, z​u verdanken habe. Wie damals d​ie ganzen Betriebe – Tagesheime, Kindergarten, Horte – lebendig miteinander verbunden waren, s​o war e​s auch i​n Inner London: Es h​ing allses zusammen. Die Mütter i​n den Playgroups hatten i​hre regelmäßigen Zusammenkünfte, d​ie Playgroup-Leiter i​hre monatlichen Treffen i​n den Boroughs; für d​ie Tutoren g​ab es e​ine 5-Tage-Konferenz n​ach dem Ende d​es Sommerterms. Den Anfang v​on jedem n​euen Kurs leitete i​ch selbst. Mir l​ag daran, d​en Schülerinnen k​lar zu machen, w​as dies für e​ine Gelegenheit w​ar zu lernen, a​ber auch, w​as von i​hnen erwartet wurde. Lange erschien i​ch auch z​um Abschluß d​er Kurse, u​m zu erfahren, w​as die Schülerinnen v​on dem Kurs gehabt hatten. Das w​ar auch d​ie Zeit für Verbesserungsvorschläge u​nd Wünsche für d​ie anschließenden Kurse.“[59]

Hilde Jarecki machte deutlich, d​ass ihr Playgroup-Konzept e​in „Graswurzel-Konzept“ war. Ihre Grundregeln lauteten[60]:

  • Kinder müssen in ihrer Entwicklung für die Playgroup reif sein; das ist gewöhnlich nicht vor dem 3. Geburtstag. (Das Bestehen auf diesem Grundsatz hat mir oft den Vorwurf der Sturheit eingebracht. Aber ich blieb dabei.)
  • Ungestörtes Eingewöhnen für die Kinder.
  • Kein Herumkommandieren und ständiges Bevormunden.
  • Gute Qualität im Spielen.
  • Eine kinder-orientierte Umgebung.
  • Beobachten und abwarten können.
  • Die Eltern sollen aktiv mit einbezogen werden.
  • Die Playgroup soll keinen Profit machen. Das war eine Forderung nur für Inner London. Denn wo der Profit eine Rolle spielt, wird schon die Aufmerksamkeit vom Wesentlichen abgelenkt.

Die spätere Entwicklung, d​ie Institutionalisierung d​er Playgroups u​nter staatlicher Aufsicht u​nd verordneten Lehrplänen, w​ar Hilde Jareckis Sache nicht. Nach a​cht Jahren Arbeit, i​m Alter v​on zweiundsechtig, schied s​ie aus d​er hauptamtlichen Arbeit aus, n​icht verbittert u​nd weiterhin bestehenden Verbindungen a​ls Kursleiterin o​der Mitglied i​m „Exekutive Committee“ d​er „Inner London Pre-School Playgroups Association“. Die a​cht Jahre i​m Dienste d​er Playgroup-Bewegung w​ar harte Arbeit für sie, d​och ihr Resümee fällt positiv aus:

„Ja, d​ie Durchführung dieses Stundenplans bedeutete für m​ich einen Arbeitstag v​on 15-16 Stunden, fünf – o​ft mehr – Tage i​n der Woche, f​ast achtjahre lang; a​ber für m​ich waren d​as ja k​eine Arbeitstage i​m üblichen Sinne. Es w​ar eine aufregende schöpferische Zeit, i​n der i​ch wichtige Pläne a​uf meine Weise verwirklichen konnte. Verzögerungen duldete i​ch nicht leicht, d​enn zu Beginn d​er Arbeit w​ar ich s​chon 54~Jahre alt, u​nd das Leben i​st viel z​u kurz für alles, w​as noch z​u machen ist.[61]

„Was n​och zu machen ist“: Noch a​ls über 70-Jährige lernte Hilde Jarecki Geige z​u spielen. Sie h​atte Einzelunterricht, n​ahm aber b​ald auch a​m Gruppenunterricht für Dreijährige u​nd Ältere teil, u​nd zu d​eren Müttern entwickelte s​ie schnell e​in Verhältnis, d​as an d​ie Playgroups erinnerte. „So h​atte ich wieder meinen s​ehr eigenen Platz gefunden.“[62]

Erinnerungsarbeit

Sophie u​nd Hilde unternahmen b​is ins h​ohe Alter hinein Reisen, besuchten Familienangehörige u​nd Freunde i​n Israel u​nd in d​en Vereinigten Staaten u​nd korrespondierten m​it Menschen a​uf der ganzen Welt. Zu vielen Kindern, d​ie sie i​n Caputh unterrichtet u​nd in England betreut hatten, hielten s​ie engen Kontakt. „Wir hatten n​un mehr Zeit füreinander, h​aben manche schöne Reise gemacht u​nd konnten n​och an einigen Treffen teilnehmen. Es w​ar wie Jahre d​er Ernte.“[63]

Um 1990 herum drehte Sabine Merseburger für den Norddeutschen Rundfunk einen Dokumentarfilm, der im Haus von Sophie und Hilde in Golders Green gedreht wurde, aber auch in Berlin und Caputh. Zu Wort kamen in ihm auch Ehemalige aus Caputh und Reading. Elizabeth Rosenthal (siehe Weblinks) berichtete, dass von 2001 bis 2003 Sophie und ihre Kollegen und ehemaligen Schüler für Radio Berlin interviewt worden seien. Der daraus resultierende preisgekrönte Beitrag sei wiederholt im deutschsprachigen Europa übertragen worden. 1993 nahm Sophie Friedländer an einer Tagung von Exilforschern in Berlin teil. Sie und Hilde kamen auch ein Jahr später, am 9. November 1994, zur Eröffnung einer Ausstellung über das Kinder- und Landschulheim Caputh, die Hildegard Feidel-Mertz zusammen mit Studenten erarbeitet hatte und die nun an der Fachhochschule Potsdam gezeigt wurde.

Eine weitere Ausstellung i​n Berlin widmete s​ich Sophie Friedländers Unterrichtsprojekt Das k​alte Herz. Sie g​ab den beiden Gelegenheit, n​och einmal ehemalige Caputher z​u treffen, d​enen sie s​ich wie d​urch ein Familienband verbunden fühlten. „So k​ann man w​ohl sagen: w​as vor 60 Jahren i​n Caputh a​ls Freundschaft angefangen hat, h​at sich – wieder i​n Caputh – w​ie ein Kreis geschlossen. Es w​ar unsere letzte Reise sichtbar zusammen.“[64]

Werke

Sophie Friedländer
  • Erinnerungen an ein verlorenes Paradies. Das Jüdische Landschulheim Caputh 1933–1938, in: Hildegard Feidel-Mertz (Hg.): Schulen im Exil, S. 43–51.
  • Am meisten habe ich von meinen Schülern gelernt. Lebensgeschichte einer jüdischen Lehrerin in Berlin und im Exil, herausgegeben von Monika Römer-Jacobs und Bruno Schonig, GEW Berlin, Berlin, 1987.
  • »Trudebude« – Gertrud Feiertag (4.7.1890–1943), in: Hildegard Feidel-Mertz, Andreas Paetz: Ein verlorenes Paradies, S. 87–108. In dem Text verarbeitete Sophie Friedländer eigene Erinnerungen und die Erinnerungen anderer an die Jahre in Caputh. Auf den Seiten 245 ff. sind auch Unterrichtsskizzen von ihr und Unterrichtsauswertungen abgedruckt.
Hilde Jarecki
  • Spielgruppen. Ein praxisbezogener Zugang, übersetzt von Sophie Friedländer, herausgegeben und kommentiert von Hildegard Feidel-Mertz und Inge Hansen-Schaberg unter Mitarbeit von Beate Bussiek und Hermann Schnorbach, Klinkhardt, Bad Heilbrunn, 2014, ISBN 978-3-7815-1977-0.
Sophie Friedländer & Hilde Jarecki
  • Sophie & Hilde. Ein gemeinsames Leben in Freundschaft und Beruf. Ein Zwillingsbuch, von Sophie Friedländer und Hilde Jarecki, herausgegeben von Bruno Schonig, Edition Hentrich, Berlin, 1996, ISBN 978-3-89468-229-3.

Quellen

Literatur

  • Bruno Schonig und Karl-Walter Beise: Das kalte Herz: 1938 und 1992. Ein Abschiedsgeschenk der Sexta M an der Privaten Jüdischen Höheren Schule in Berlin-Moabit für ihre Lehrerin Sophie Friedländer mit drei Versuchen der Annäherung, herausgegeben von der Arbeitsgruppe Pädagogisches Museum e. V. und dem Schulmuseum Berlin. Edition Hentrich, Berlin, 1993, ISBN 978-3-89468-103-6. Auf dieses Buch bezieht sich der folgende Aufsatz:
  • Bruno Schonig: „Zu lernen, zu lehren, zu bewahren und zu tun“ – Zu einigen Dokumenten aus dem reformpädagogischen Unterricht Sophie Friedländers an der Höheren Schule der Jüdischen Gemeinde in Berlin-Moabit in den Jahren 1937 und 1938, in: Inge Hansen-Schaberg und Christian Ritzi (Hg.): Wege von Pädagoginnen vor und nach 1933, Schneider Verlag Hohengehren GmbH, Baltmannsweiler, 2004, ISBN 3-89676-768-2
  • Hildegard Feidel-Mertz (Hg.): Schulen im Exil. Die Verdrängte Pädagogik nach 1933. rororo, Reinbek, 1983, ISBN 3-499-17789-7
  • Hildegard Feidel-Mertz, Andreas Paetz: Ein verlorenes Paradies. Das Jüdische Kinder-Landschulheim Caputh 1931–1939. Frankfurt, 1994, ISBN 3-7638-0184-7
  • Inge Hansen-Schaberg: Reformpädagoginnen im englischen Exil. Der Aufsatz ist erschienen in:
    • Yearbook of the Research Centre for German & Austrian Exile Studies, 2017, Vol. 18, p 114-127.
    • Charmian Brinson, Jana Barbora Buresova, Andrea Hammel (Hg.): Exile and gender, 2. Politics, education and the arts, Brill Rodopi, Leiden/Boston, 2017, ISBN 978-90-04-34351-1
  • Inge Hansen-Schaberg: Nachruf auf Sophie Friedländer, in: Neuer Nachrichtenbrief der Gesellschaft für Exilforschung e. V., Nr. 27, Juni 2006, ISSN 0946-1957.
  • Jörg H. Fehrs: Von der Heidereutergasse zum Roseneck. Jüdische Schulen in Berlin 1712–1942, Edition Hentrich Berlin, 1993, ISBN 3-89468-075-X.

Einzelnachweise

  1. Wie im Abschnitt „Quellen“ zu sehen ist, gibt es keinen Mangel an biografischen Rekonstruktionen von Sophie Friedländers Leben. Allerdings gibt es zwischen den vielen Quellen auch viele sich gelegentlich widersprechende Aussagen. Um diesem Dilemma so weit wie möglich zu entgehen, dient im Folgenden Sophie & Hilde (siehe „Werke“) als roter Faden. Einzelnachweise auf die unterschiedlichen Quellen erfolgen nur dort, wo Zitate direkt übernommen wurden.
  2. Berlin: Stolpersteine für Josua Falk und Else Friedländer
  3. Sophie Friedländer, in: Sophie & Hilde, S. 15
  4. Sophie Friedländer, in: Sophie & Hilde, S. 27
  5. Sophie Friedländer, in: Sophie & Hilde, S. 35
  6. Elizabeth Rosenthal: Sophie Friedländer (siehe „Weblinks“)
  7. Dieser Hinweis auf die Verbindung Gaster-Friedländer findet sich nur im englischen WIKIPEDIA-Artikel über Moses Gastner.
  8. Sophie Friedländer, in: Sophie & Hilde, S. 35
  9. Zum hier erwähnten Jews' College siehe: Jews’ College – Also known as London School of Jewish Studies. Das erwähnte Buch ist 1922 auf Deutsch erschienen: Michael Friedländer: Die jüdische Religion. Einzige berechtigte Übersetzung aus dem Englischen von Josua Friedlaender, J. Kauffmann, Frankfurt, 1922, (Die jüdische Religion im Katalog der DNB). Josua Friedländer war an der Herausgabe eines weiteren Buches beteiligt: Carlton Joseph Huntley Hayes: Nationalismus. Aus dem Englischen übersetzt von J. F. Friedlaender. Herausgegeben und eingeleleitet von J. Goldstein, Der neue Geist-Verlag, Leipzig, 1929 (Nationalismus im Katalog der DNB)
  10. Sophie Friedländer, in: Sophie & Hilde, S. 36
  11. Sophie Friedländer, in: Sophie & Hilde, S. 36–37
  12. Sophie Friedländer erwähnt es nicht, aber in einigen Quellen findet sich der Hinweis, dass auch ihr Vater hier inzwischen unterrichtet hätte.
  13. Sophie Friedländer, in: Sophie & Hilde, S. 39
  14. Sophie Friedländer, in: Sophie & Hilde, S. 39
  15. Erinnerungen an ein verlorenes Paradies, S. 45–46
  16. Sophie & Hilde, S. 44
  17. Sophie Friedländer, in: Sophie & Hilde, S. 46
  18. Inge Hansen-Schaberg: Nachruf auf Sophie Friedländer
  19. Hilde Jarecki, in: Sophie & Hilde, S. 145
  20. Hildegard Feidel-Mertz: Zur Einführung: Ein innovativer Ansatz in Vorschulpädagogik und Elternbildung
  21. Zitiert nach: »Trudebude« – Gertrud Feiertag (4.7.1890-1943) (siehe ‚Werke‘)
  22. Jörg H. Fehrs: Von der Heidereutergasse zum Roseneck, S. 161. Fehrs gibt auch einen ausführlichen Überblick über die Geschichte dieses Waisenhauses.
  23. Hilde Jarecki, in: Sophie & Hilde, S. 158
  24. Zur Geschichte der Jüdischen Kinderhilfe siehe: Die Jüdische Kinderhilfe in der Berliner Auguststraße
  25. Jarecki präzisiert das nicht weiter, doch kam die Unterstützung vermutlich von Salman Schocken.
  26. Hilde Jarecki, in: Sophie & Hilde, S. 160
  27. Zum Kontext dieser Besuche, an denen auch Hilde Lion beteiligt war, siehe den Abschnitt „Interkulturelle Erziehung und Beziehungen“ im Artikel über die Stoatley Rough School.
  28. Als Mirjam später mit einem Kindertransport nach England kam, besuchte sie aber nicht die Bunce Court School, sondern eine Tagesschule in St. Hellen in der Nähe von Liverpool und danach die Schule von Minna Specht. (Hilde Jarecki, in: Sophie & Hilde, S. 163–166)
  29. Hilde Jarecki, in: Sophie & Hilde, S. 161
  30. Die Oberschule der Jüdischen Gemeinde zu Berlin, die 1936 in der Marchstraße neu gegründet und genehmigt worden war, musste aufgrund von behördlichen Schikanen ihren Lehrbetrieb erst in der Wilsnacker Straße aufnehmen. Die Schule arbeitete nach dem Lehrplan eines Reform-Realgymnasiums. (Jörg H. Fehrs: Von der Heidereutergasse zum Roseneck. Jüdische Schulen in Berlin 1712–1942, Edition Hentrich Berlin, 1993, ISBN 3-89468-075-X, S. 277–281)
  31. Sophie Friedländer, in: Sophie & Hilde, S. 47
  32. Sophie Friedländer, in: Sophie & Hilde, S. 47–48
  33. Bruno Schonig: Ein Gespräch mit Sophie Friedländer in London
  34. Bruno Schonig: „Zu lernen, zu lehren, zu bewahren und zu tun“, S. 53
  35. Auch hier dürften die oben schon erwähnten Beziehungen zur Familie Gaster eine Rolle gespielt haben, denn Harold Laski war der Onkel von Marghanita Laski, die wiederum eine Enkelin von Moses Gaster war.
  36. Sophie Friedländer, in: Sophie & Hilde, S. 51
  37. „Sophie Friedländer, in: Sophie & Hilde, S. 84. Da Sophie Friedländer nie die Vornamen ihrer Eltern genannt hat, lässt sich über den Geburtsort Stade und den Wohnort Berlin nur für den Vater das Schicksal eindeutig bestimmen: Josua Falk Friedlaender, geboren am 13. Juni 1871 in Stade / - / Hannover, wohnhaft in Berlin (Charlottenburg). Deportation: ab Berlin, 03. Oktober 1942, Theresienstadt, Ghetto. Todesdatum: 22. Oktober 1942. Todesort: Theresienstadt, Ghetto.“ (Josua Falk Friedlaender im Gedenkbuch der Opfer der Verfolgung der Juden unter der nationalsozialistischen Gewaltherrschaft in Deutschland 1933–1945)
  38. Sophie Friedländer, in: Sophie & Hilde, S. 52
  39. 1938 erschien das Buch Writing and action: a documentary anthology / compiled and edited by Mary Palmer, das in vielen Internet-Katalogen immer noch zu finden ist. Es stammt von der vermutlich 1904 geborenen Mary Palmer, geborene Davies. Thematisch und zeitlich passt es zu der von Sophie Friedländer erwähnten Anthologie, doch mehr ist über die Autorin nicht in Erfahrung zu bringen.
  40. Sophie Friedländer spricht nur von „Marthchen“, doch nach Lage der Dinge kann es sich dabei nur um Martha Friedländer gehandelt haben, die aber trotz des gleichen Nachnamens nicht mit Sophie verwandt war.
  41. Das als Bloomsbury House bekannt gewordene Gebäude, in dem die wichtigsten Hilfsorganisationen für Flüchtlinge ihren Sitz hatten, war ursprünglich das Palace Hotel an der Bloomsbury Street in London; mit der Zeit hat sich hierfür der Name Bloomsbury House eingebürgert. (Bloomsbury House training schemes)
  42. Sophie Friedländer, in: Sophie & Hilde, S. 66
  43. Hilde Jarecki, in: Sophie & Hilde, S. 165–166
  44. In ihren Erinnerungen überspringt Hilde Jarecki die Jahre in den Hostels und fährt mit ihrer anschließenden Tätigkeit mit einer Kindergruppe in einer Tagesklinik für geistig behinderte Menschen fort.
  45. Sophie Friedländer, in: Sophie & Hilde, S. 75
  46. Sophie Friedländer, in: Sophie & Hilde, S. 78
  47. Sophie Friedländer, in: Sophie & Hilde, S. 80
  48. Sophie Friedländer, in: Sophie & Hilde, S. 82
  49. Sophie Friedländer, in: Sophie & Hilde, S. 88–89
  50. Sophie Friedländer, in: Sophie & Hilde, S. 91
  51. Sophie Friedländer, in: Sophie & Hilde, S. 101
  52. Sophie Friedländer, in: Sophie & Hilde, S. 108
  53. Sophie Friedländer, in: Sophie & Hilde, S. 120
  54. Sophie Friedländer, in: Sophie & Hilde, S. 121
  55. Helene Rahms: Gymnastik in unserer Zeit?, ZEIT-Online, 8. Februar 1951, aktualisiert am 21. November 2012
  56. Edna Oakeshott née Yates (1904–1999)
  57. Pre-school Learning Alliance: Who we are.. 2011 feierte die Pre-school Learning Alliance ihr fünfzigjähriges Bestehen. Auf youtube gibt es hierzu ein Interviewe mit Belle Tutaev aus dem Jahr 2010, in dem sie ausführlich (in englischer Sprache) die Gründungsgeschichte der Organisation erzählt: Belle Tutaev: Founder of Pre-school Learning Alliance. Tutaev erwähnt Hilde Jahrecki in dem Video nicht, doch in einer Festschrift für Hilde Jarecki ist sie mit einem eigenen Beitrag vertreten. (Hilde Jarecki, in: Sophie & Hilde, S. 199)
  58. Hilde Jarecki, in: Sophie & Hilde, S. 176. Mit ‚Kindern von Professionellen‘, einem etwas missverständlichen Begriff, meinte Hilde Jarecki vor allem Kinder aus bessergestellten Mittelstandsfamilien.
  59. Hilde Jarecki, in: Sophie & Hilde, S. 192
  60. Hilde Jarecki, in: Sophie & Hilde, S. 192 & 199
  61. Hilde Jarecki, in: Sophie & Hilde, S. 192
  62. Hilde Jarecki, in: Sophie & Hilde, S. 203
  63. Sophie Friedländer, in: Sophie & Hilde, S. 208
  64. Sophie Friedländer, in: Sophie & Hilde, S. 212
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