Runenkästchen von Auzon
Das Runenkästchen von Auzon (auch bekannt als Franks Casket) ist ein mit Abbildungen und Runen verziertes Kästchen aus Walknochen, welches Anfang des 8. Jahrhunderts im angelsächsischen Northumbria,[1] wohl im klösterlichen Umfeld, hergestellt wurde.
Benannt ist das Kästchen nach seinem Herkunftsort Auzon im Département Haute-Loire in Frankreich beziehungsweise nach seinem Käufer und Stifter, dem Kurator des Britischen Museums Sir Augustus W. Franks. Es befindet sich heute im British Museum in London. Das Kästchen ist 22,9 cm lang, 19 cm tief und 10,9 cm hoch.
Mit seinen Bildern aus christlicher und heidnischer Tradition sowie mit seinen runischen Inschriften ist das frühmittelalterliche Kunstwerk ein beeindruckendes Produkt einer synkretistischen Epoche.
Kunsthistorische Einordnung
Deutung
Weltlich-heroische Deutung
Bei näherer Betrachtung kann man im Bild-, Vers- und Runengebrauch eine genau durchdachte programmatische Intention erkennen. Kein Bild ist lediglich ornamental, kein Text dient allein der Erläuterung. Von der Anbetung Christi durch die Magier („Könige“ wurden sie im Volksglauben erst später) bis hin zu einer mythischen Szene auf dem Deckel des Kästchens beschreibt der Schnitzer den Lebensablauf eines Kriegers von der Geburt bis zum Tod und Eingang ins Jenseits, das hier als Walhall gesehen wird. Da es sich sehr wahrscheinlich um ein Schatzkästchen handelt, dürfte es einem König gehört haben, der daraus seine Recken mit feohgift (Ringe usw.) ehrte und entlohnte. Hier könnte man an Edwin, König von Northumbria (reg. 616–632; 627 getauft) oder den heidnischen König Penda von Mercia († 655) denken.
Am Beispiel der Vorderseite des Kästchens lässt sich die magische Praxis des Runenmeisters ablesen. Die Stabreimverse vom Wal, die die Bilder rahmen, haben scheinbar nichts mit den Darstellungen zu tun. Betrachtet man die beiden stabtragenden Runen (f und g) jedoch näher, dann erkennt man den Bezug: Die f-Rune (feoh, Vieh) steht für den beweglichen Besitz wie Gold und Geschmeide; die g-Rune (gifu, Gabe) bezeichnet das Geschenk. Über dem Rücken des dritten Magiers weise das Triqueta (interpretiert als Odins Valknut) auf Tod und Auferstehung in Verbindung mit der Gabe Myrrhe hin.
Wieland, den das linke Bild zeigt, stellt eben jenes feoh (den „geldwerten Besitz“) her, während die drei Magier, Heilige Drei Könige, auf dem rechten Bild gifu (die "Gabe") bringen. Und feohgifu, die „ehrende Goldgabe“, ist genau das, was die königliche Schatulle enthält.
Das Magierbild steht nicht nur für reiche Gaben, sondern auch für die noble Geburt. Bemerkenswert ist hier der Wasservogel statt eines Engels, vermutlich die Fylgja (spirituelle Begleiterin, Walküre) in ihrer Tiergestalt (vgl. Schwanenjungfrau), gekennzeichnet durch einen weiteren Valknut.[2] Die Hilfe einer solchen Fylgja zeigt das Wielandbild, wo sie eine Flasche herbeibringt, Bier, mit dem der albische Schmied die Königstochter betäubt, um sie zu schwängern. Durch diese Rache (Tötung der Söhne und Vergewaltigung der Tochter seines Peinigers) erlangt er seine Freiheit und kann (in Vogelgestalt) entfliegen.
Die Inschrift setzt sich aus 72 Zeichen zusammen, was ohnehin als magische Zahl (3 × 24) verstanden wird, darüber hinaus aber hat sie – wenn man jeder Rune den Wert ihrer Position in der Runenreihe zumisst, den Runenwert 720. Nach diesem Muster verfährt der Schnitzer auch bei den anderen Inschriften und Darstellungen.
Die linke Seite zeigt Romulus und Remus mit (Wotans ?) zwei Wölfen. Die Namensformen Romwalus und Reumwalus stehen in Bezug zu dem altnordischen Wort valr („die auf dem Schlachtfeld liegenden Leichen“), so wie in Walküre und Walhall gebraucht. Die r-Rune bezieht sich auf den „Ausritt in die Schlacht“.
Die Rückseite zeigt den späteren römischen Kaiser Titus bei seinem Sieg und dem Gericht über Jerusalem. Genau das, „Sieg und Gerechtigkeit“, bedeutet die t-Rune nach dem ags. Runenlied.
Die rechte Seite beschwört in Geheimschrift (Ersatz der Vokalrunen) den Tod auf dem Schlachtfeld und verspricht die Auferstehung des Gefallenen mit Hilfe seiner Walküre und Wotan/Odins Sleipnir. Unter dem Bauch des Pferdes findet sich eine Triqueta, welches unter Verweis auf ähnliche Symbolik in Gotländischen Bildsteinen (Lärbro Tängelgarda I) und dem Kreuz von Gosforth als Odins Valknut gedeutet wird. Das Unheil beschreibt die h-Rune, für die Errettung vom Schattenreich steht die s-Rune, mit der Bedeutung „Sonne, Licht, Leben“.
Der Deckel verbildlicht Ragnarök, den Kampf der Götter und Riesen um die Sonne, in dessen Folge die ganze Welt untergeht. Zwei Wotansknoten scheinen einen befestigten Bezirk zu definieren. Welcher Bezirk hier gemeint ist, ist nicht zu sagen.[3] Der Bogenschütze Egil (hier Ægili) verteidigt den Götterpalast (nach der nordischen Mythologie Valaskjalf) gegen die Reifriesen, nach anderer Lesart Feuerriesen. Die Æ-Rune, mit der sein Name anlautet, drückt nach dem ags. Runenlied „wehrhaften Widerstand gegen zahlreiche Angreifer“ aus. Dabei geht es um den Jahreskreislauf im Sinne von Tod und Auferstehung der Sonne zur Wintersonnenwende (vgl. Sol Invictus). Der Name des Schützen könnte eine germanisierte Form des griechischen Achill sein. Der antike Heros hatte bei dem Zentaur Cheiron, der oft für das Tierkreiszeichen Schütze steht, unter anderem auch das Bogenschießen gelernt. 12 Punktmarken stehen für die 12 Monate des Sonnenjahres, zugleich geben sie die für die Jahreszeit typischen Sternbilder wider. So beginnt das Jahr mit den drei Sternen des Oriongürtels. Die Sommermonate sind durch 5 (gut sichtbaren) der 7 Plejadensterne gekennzeichnet, während 2 weitere Sterne bei dem unteren Schildträger für das Herbststernbild Widder stehen. Dem Zyklus von Tod und Auferstehung entspricht das Wintersternbild Zwillinge, (lat. Gemini), mit den mythischen Dioskuren Castor und Pollux. Während mit Castor das alte Jahr stirbt, beginnt mit Pollux das neue. Mit den beiden Riesen, links, sind die Gebrüder und deren Sternbild verbildlicht. Ihnen steht rechts mit dem Sommersternbild der Schütze (lat. Sagittarius) gegenüber. Mit diesen Kontrahenten sind die Sonnenwenden fixiert. Die beiden Schildträger oben und unten kennzeichnen das Sternbild Schild (lat. Scutum), das die Tagundnachtgleiche (Äquinoktium) in Frühling und Herbst kennzeichnet. Die Darstellung des Sternenhimmels hier erinnert an die Himmelsscheibe von Nebra, während die Verbildlichung im Relief des Mithras (Heidelberg-Neuenheim, 2. Jh.) eine Entsprechung hat.
Nach Gaius Iulius Caesar (De bello Gallico) verehren die germanischen Stämme Sol, Luna und Vulcanus bzw. Sonne, Mond und Feuer. Diese Trias findet sich auf der Vorderseite mit Jesus (Sol Invictus), Maria (Luna) und Wieland der Schmied, der über das Feuer dem Vulcanus und über den Reichtum (feoh bzw. pecus/pecunia) dem Saturn entspricht. Nach Tacitus (Germania) werden auch Herkules (Þunor/Thor), Mars (Tiw/Tyr) und Merkur (Woden Wotan) verehrt, Diese Trias steht hinter den anderen Seiten des Kästchens, während dem Deckelbild der Sonnengott Freyr (oder aber die Mutter der Asen, Frigg) zugeordnet werden kann. Damit ergibt sich die Folge der Wochentage (vorne) Saturday, Sunday, Monday, (hinten) Tuesday, (rechts) Wednesday, (links) Thursday, (oben) Friday.
Die Zahl der Runen (288 = 24 × 12 oder 12 × 300 = 3600) stehen für 10 solare Jahre, der Runenwert aller Inschriften beträgt 3568, was man mit 10 lunaren Jahren (3540 Tage)+ 1 Monat (28 Tage) gleichsetzen kann. Der überschießende Monat stellt den Fortgang der Zeit sicher. Das lateinische Textbruchstück (in Sprache und Schrift) auf der Rückseite stellt einen perfekten Meton-Zyklus (mit allen Schaltjahren in Runen) dar, der den solaren und den Lunarkalender abgleicht.
Bei Franks Casket, das auch Motive und Techniken verwendet, die erst das Christentum vermittelte, ist jedes Element funktional. Damit erinnert es in seiner Absicht an die altenglischen „charms“, während die christlichen Darstellungen auf Reliquiaren eher apotropäische Funktion haben, indem sie durch Bild und Text himmlischen Beistand, und mittels einer Reliquie den Schutz und die Fürbitte des hier verehrten Heiligen zu sichern suchte.
Christlich-mystische Deutung
Im Gegensatz zur weltlich-heroischen Deutung stellt die christlich-mystische Deutung, die Marijane Osborn[4] vorgestellt hat, die einzelnen Bilder zueinander in Bezug. Wieland, der fern seiner Heimat von König Nidhad gefangengehalten wird, tötet aus Rache – statt sein Leiden duldsam zu ertragen – einen Knaben, dessen Knochen auf dem Bild auf dem Boden liegen. Aus dem Schädel des Getöteten reicht er der Königstochter einen Liebestrank, um sie sexuell gefügig zu machen. Zwar gelang es ihm darauf, mit Hilfe der Federn der getöteten Gänse Flügel zu bauen und in die Freiheit zu entrinnen, aber die Gänse, die die Seelen von Kindermördern und Frauenschändern verkörpern, sind tot. Besser wäre er dem Ruf seiner Seele gefolgt, so wie die drei Könige der Gans folgten, um dem wahren Erlöser und Befreier, dem Heiland, zu huldigen.
Auch die Darstellung von Romulus und Remus greift das Thema wieder auf. Rhea Silvia, eine Vestalin und somit Jungfrau, wird durch Mars, einen Gott, schwanger. Die Parallele zur Jungfrau Maria ist unübersehbar. Aber im Gegensatz zur biblischen Geschichte wird die Mutter nach ihrer Niederkunft im Tiber ertränkt und die Söhnchen werden ausgesetzt, fern der Heimat, wie der Text ausdrücklich erwähnt. Die weitere Geschichte wird im Bild von der Eroberung Jerusalems erzählt. Die Römer, Nachkommen von Romulus, erobern Jerusalem (und die Welt) und treiben Frauen und Kinder ins Exil oder schleppen sie als Gefangene fort. Aber das weltliche Rom ist genauso wenig ewig, wie das weltliche Jerusalem. Zur Zeit des Kästchens war das Römische Reich bereits Geschichte.
Das keltische Bild thematisiert den Mythos der Rhiannon, einer kymrischen Pferdegöttin. In der Nacht nach ihrer Niederkunft wird ihr Söhnchen geraubt und eine Dienerin beschmiert Rhiannon mit Blut. Dann verleumdet sie ihre Herrin beim König und beschuldigt diese des Kindermordes. Zur Strafe muss Rhiannon sieben Jahre lang vor dem Hof der Königsburg auf einem Stein sitzen und jedem Vorbeikommenden ihre (angebliche) Untat berichten. Dann muss sie den Fremden auf ihrem Rücken zur Burg tragen.
Somit demonstriert der Hersteller des Kästchens die moralische Überlegenheit des Christentums über die drei Kulturen – Kelten, Römer und Germanen – die den Grundstock der angelsächsischen Kultur bildeten. Aber das Kästchen zeigt dem erkennenden Betrachter auch die Vergänglichkeit und Unsicherheit weltlichen Daseins, was schön ausgedrückt wird im Vers über den gestrandeten Wal, der dann zum Kästchen verarbeitet wurde. Endlich noch das Deckelbild: Der Bogenschütze Egil wird von Kriegern bedroht und verschanzt sich. Der Psalm 72 verlangt, dass alle Nationen Gott dienen sollen; und in der Völkertafel der Genesis werden 72 Völker genannt, die die Menschheit symbolisieren.
Die auf dem Kästchen vorhandenen Triquetas versindbildlichten nicht etwa Odin, sondern die Trinität. Das entsprechende Zeichen unter dem Pferdebauch weise nicht auf Sleipnir hin, sondern sei ein Versuch Eadberts, an die Symbolik von Aldfrith anzuknüpfen.[5]
Literatur
- Alfred Bammesberger (Hrsg.): Old English Runes and their Continental Background. Heidelberg 1991, ISBN 3-533-04463-7.
- mit zwei Artikeln zum Thema von Marijane Osborn (S. 249–268) und Heiner Eichner (S. 603–628) und einem Kommentar von Alfred Bammesberger (S. 629–632).
- Alfred Becker: Franks Casket. Zu den Bildern und Inschriften des Runenkästchens von Auzon. (= Sprache und Literatur. Regensburger Arbeiten zur Anglistik und Amerikanistik. Band 5). Carl, Regensburg 1973, ISBN 3-418-00205-6.
- Alfred Becker: Franks Casket Revisited. In: Asterisk. A Quarterly Journal of Historical English Studies. 12/2, 2003, S. 83–128.
- Alfred Becker: The Virgin and the Vamp. In: Asterisk.A Quarterly Journal of Historical English Studies. 12/4, 2003, S. 201–209.
- Alfred Becker: A Magic Spell „powered by“ a Lunisolar Calendar. In: Asterisk. A Quarterly Journal of Historical English Studies. 15, 2006, S. 55–73.
- Alfred Becker: Franks Casket; Ein Schicksalszauber und der Lunisolarkalender. In: Andreas Zautner, Der gebundene Mondkalender der Germanen, bookra, Leipzig 2013, S. 176–187
- Alfred Becker: Franks Casket. Das Runenkästchen von Auzon. Magie in Bildern, Runen und Zahlen. Frank & Timme, Berlin 2021, ISBN 978-3-7329-0738-0.
- Wolfgang Krause: Erta, ein anglischer Gott. In: Die Sprache. 5. Festschrift Wilhelm Havers, 1959, S. 46–54.
- Therese Müller-Braband: Studien zum Runenkästchen von Auzon und zum Schiffsgrab von Sutton Hoo (= Göppinger Arbeiten zur Germanistik 728). Kümmerle, Göppingen 2005.
- Ute Schwab: Franks Casket. Fünf Studien zum Runenkästchen von Auzon ( = Studia medievalia septentrionalia Bd. 15). Fassbaender, Wien 2008, ISBN 3-902575-05-0.
- Leslie Webster: The Franks Casket. British Museum Press, London 2010, ISBN 978-0-7141-2818-4.
Weblinks
- Eintrag in der Datenbank des British Museum
- Alfred Becker: franks-casket.de. Umfangreiche Webseite (deutsch/englisch) zum Thema (siehe Literatur).
- Alfred Becker: Franks Casket: The Stomping Ground of Romano Germanic Gods. Academia.edu, 2015.
- Austin Simmons: The Cipherment of the Franks Casket. Project Woruldhord, University of Oxford 2010.
Anmerkungen
- Die erste bedeutsame Veröffentlichung durch George Stephens, Old-Northern Runic Monuments of Scandinavia and England (1866-1901) I-II:470-76, 921-23, III:200-04, IV:40-44, verortete das Kästchen in Northumbrien und datierte es ins 8. Jahrhundert. Obwohl A.S. Napier (1901) einer Datierung ins 8. Jahrhundert zustimmt, wurde auch eine Herkunft aus dem Mercien des 7. Jahrhunderts vorgeschlagen.[von wem?] Das British Museum vertritt auf seiner Webseite eine Herkunft aus dem Northumbrien der ersten Hälfte des 8. Jahrhunderts („first half of the 8th century AD“). Dies vertritt auch Webster (2012a:92): "early part of the eighth century" – frühes 8. Jahrhundert.
- Alfred Becker, Das Bild: Walkyre und Fylgja, Tod und Auferstehung. Internetseite Franks Casket, abgerufen am 6. August 2020
- Alfred Becker: Franks Casket: Zu den Bildern und Inschriften des Runenkästchens von Auzon (= Sprache und Literatur, Regensburger Arbeiten zur Anglistik und Amerikanistik; 5). Hans Carl, Regensburg 1973, ISBN 978-3-418-00205-7.
- Marijane Osborn: The Lid as Conclusion of the Syncretic Theme of the Franks Casket, in A. Bammesberger (ed.): Old English Runes and their Continental Background, Heidelberg 1991, pp. 603-628
- Marijane Osborne: Flodu in the Franks Casket’s Whale Poem: A Fluvial Meaning with Regional Implications. In: Philological Quarterly 98, 2019, S. 336.