Otto Hahn (Schiff)
Das frachtfahrende Nuklearschiff Otto Hahn wurde als drittes ziviles Schiff nach dem sowjetischen Eisbrecher Lenin und der US-amerikanischen Savannah von einem Kernreaktor angetrieben. Das Schiff wurde nach dem Kernchemiker und Nobelpreisträger Otto Hahn benannt, der beim Stapellauf 1964 persönlich anwesend war. Es war als Pilotprojekt für die maritime Nutzung der Kernenergie gedacht, blieb aber das einzige deutsche Schiff mit Kernenergieantrieb, im Volksmund auch das „Atomschiff“ genannt.
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Geschichte
Planung und Bau
Den Anfang für den Bau des Schiffes machte 1960 die Ausschreibung der Gesellschaft für Kernenergieverwertung in Schiffbau und Schiffahrt (GKSS) in Geesthacht für ein nuklear angetriebenes Handelsschiff mit der Betonung des Vorranges von Forschungsaufgaben. Deutsche Werften lieferten 1961 Vorschläge für ein Schiff ab, das sich für den Einbau einer solchen Antriebsanlage eignen könnte. Ursprünglich war ein Tanker vorgesehen, die GKSS hatte jedoch auch Alternativen erbeten. Die Wahl fiel auf einen Erzfrachter, wie er von den Kieler Howaldtswerken angeboten worden war. Als Reaktor war zum damaligen Zeitpunkt noch ein Typ mit organischem Moderator und Kühlmittel (OMR) vorgesehen. Im Laufe des Jahres 1962 nahm man von diesem Typ jedoch wieder Abstand, da technische Schwierigkeiten sein wirtschaftliches Potential zunichtegemacht hatten. Am 27. November 1962 wurde im Hamburger Hotel Atlantic der Werftbauvertrag unterzeichnet. Die Leitung der Entwicklung und des Baus des nuklear angetriebenen Schiffes wurden dem deutschen Nuklearphysiker Erich Bagge (Kiel, Geesthacht) anvertraut. Ein Jahr später konnte aus den Angeboten verschiedener Reaktorbauer der Antrieb festgelegt werden.
Das Schiff wurde zwischen 1963 und 1968 bei der Kieler Howaldtswerke AG mit Baukosten von 56 Millionen DM gebaut, an denen sich die Euratom mit 16 Millionen DM beteiligte. Die Arbeiten am nuklearen Antrieb beanspruchten den größten Teil der Bauzeit; die Schiffshülle war bereits im Sommer 1964 im Beisein ihres Namensgebers getauft worden. Als Energiequelle diente ein Druckwasserreaktor des Herstellers Interatom in Bensberg mit Wasser als Kühlflüssigkeit und Moderator im Primärkreislauf, der von der Deutsche Babcock & Wilcox Dampfkessel-Werke AG in Friedrichsfeld (Niederrhein) gebaut wurde. Im Sekundärkreislauf wurde der Antriebsdampf für die konventionelle Dampfturbine erzeugt.
Fortschrittlich bei diesem Reaktortyp im Vergleich zu den konventionellen Druckwasserreaktoren war die Verlagerung von bisher außerhalb des Reaktordruckbehälters angeordneten Komponenten in den Reaktordruckbehälter hinein. Tragkonstruktionen für die Komponenten und die verbindenden Rohrleitungen konnten entfallen.
Der Sekundärdampferzeuger und der Druckhalter für den Primärkreislauf waren beim fortschrittlichen Druckwasserreaktor Teil der Druckbehälter-Einbauten. Die Druckhaltung im Primärsystem erfolgte durch das Dampfpolster im oberen Teil des Reaktordruckbehälters. Die Temperatur des Primärwassers am Reaktorkernaustritt bestimmte hierbei den Dampfdruck des Dampfpolsters. Die Umwälzung des Primärwassers erfolgte mit drei freistehenden Primärumwälzpumpen, die mit kurzen Rohrkrümmern am Boden des Druckbehälters angebracht waren. Im Innenrohr des Krümmers erfolgte der Rückfluss zum Reaktorkern. Durch das Dampfpolster, die statische Höhe des Primärsystems und die Abkühlung des Primärwassers am Sekundärdampferzeuger wurde der erforderliche Zulaufdruck für die Primärumwälzpumpen auch bei stärkerem Seegang gewährleistet.
Die Reaktorabschirmungen außerhalb des Reaktordruckbehälters wurden durch die kompakte Bauweise des fortschrittlichen Druckwasserreaktors vereinfacht.
Betrieb und Forschung
Das nuklear angetriebene Schiff absolvierte am 11. Oktober 1968 seine erste Probefahrt. Die Otto Hahn war ein Forschungsschiff; die Verwendung als Frachtschiff war sekundär. Das zeigt auch ihr ungewöhnliches Aussehen mit der bugseitigen Brücke und den umfangreichen heckseitigen Aufbauten, die neben den Kabinen für bis zu 36 Forscher, einem Besprechungsraum und zwei Laboren auch zwei Salons sowie diverse Messen und Empfangsräume für Repräsentationszwecke umfassten. Man wollte mit diesem Schiff Erfahrungen für zukünftige Nuklearschiffsanlagen sammeln, es jedoch gleichzeitig bereits im quasi-kommerziellen Einsatz als Erzschiff verwenden. Am 18. März 1977 übergab die Gesellschaft für Kernenergieverwertung in Schiffbau und Schiffahrt mbH (GKSS) in Geesthacht die Bereederung und die Befrachtung des Schiffs an die Reederei Hapag-Lloyd in Hamburg.[1] Da die Otto Hahn als Reaktorschiff ausländische Häfen nicht in gewünschtem Umfang anlaufen durfte, wurde das Experiment 1979 schließlich eingestellt. Für die in den 1970er Jahren entstandenen Schiffsentwürfe Nukleares Container-Schiff 80 (NCS-80) sowie (NCS 240) der GKSS, Interatom und dem Bremer Vulkan fand sich trotz zugesagter staatlicher Förderung kein Reeder, der ein solches Schiff selbst in Auftrag geben wollte.[2][3]
Bis zur Stilllegung des Kernenergieantriebs hatte das Schiff 33 Häfen in 22 Staaten angelaufen. Während ihrer Betriebszeit konnte die Otto Hahn jedoch hauptsächlich Häfen in Südamerika und Afrika anlaufen, viele davon nur einmal durch eine Ausnahmegenehmigung.[4] Eine Passage durch den Suez- oder den Panamakanal wurde ihr stets verwehrt. International gültige Richtlinien für die Betreiber von Kernenergieschiffen waren trotz zahlreicher Seerechtskonferenzen in den 1960er Jahren nie zustande gekommen.
Ab 1969 war Heinrich Lehmann-Willenbrock Kapitän der Otto Hahn. Von 1974 bis 1979 führte Ralf Matheisel das Schiff. Die letzte Reise des Schiffes nach Durban ist in dem Roman Der Abschied von Lothar-Günther Buchheim beschrieben.
Stilllegung des Reaktors
Nach insgesamt 650.000 Seemeilen wurde der Atomantrieb 1979 stillgelegt. Die Ausbauten fanden im Hamburger Hafen statt. Der Druckbehälter und die Kernbrennstäbe wurden 1981 im Helmholtz-Zentrum Geesthacht eingelagert.
Im Sommer 2010 erfolgte der Transport von 52 Kernbrennstäben von dort in das südfranzösische Kernforschungszentrum Cadarache. Von dort aus ist das behandelte Nuklearmaterial im Dezember 2010 in das Zwischenlager Nord in Lubmin bei Greifswald überführt worden.[5]
Am 16. November 2016 beantragte das Helmholtz-Zentrum Geesthacht unter anderem die Zerlegung des Reaktordruckbehälters nach § 7 des Atomgesetzes.[6]
Umbauten und weitere Nutzung
Die Otto Hahn wurde im Sommer 1982 an den Hamburger Reeder Harm Vellguth (Projex Reederei) verkauft, der das Schiff in Trophy umbenannte und für 4 Millionen DM bis zum November 1983 bei der Bremerhavener Rickmers-Werft zu einem Containerschiff mit Dieselantrieb und drei 35-Tonnen-Bordkränen umbauen ließ. Die heckseitigen Aufbauten wurden entfernt, und an deren Stelle wurde die ursprünglich mittschiffs gelegene Brücke aufgesetzt, wodurch sich das Aussehen des Schiffes radikal veränderte. Unter den Namen Norasia Susan (ab 1983), Norasia Helga (ab 1985), Carmen (ab 1985) fuhr das Schiff bis 1988 für Projex. Der Frachter wechselte von 1989 bis 1998 als Hua Kang He in den Besitz der chinesischen Reederei COSCO. Danach wurde das Schiff für neue griechische Eigner noch einmal zum Mehrzweckfrachter umgebaut und blieb als Anais, Tal und Madre bis 2009 unter der Flagge Liberias im Dienst.
Nach einer mehrwöchigen Aufliegezeit in Abu Dhabi wurde das Schiff Ende 2009 von seiner letzten Reederei, der griechischen Alon Maritime Corporation für 2,45 Millionen US-Dollar zum Abbruch nach Bangladesch verkauft.
Verbliebene Bauteile des Schiffs
Das ehemalige Bugwappen der Otto Hahn ist heute auf einer Wiese hinter dem Freibad in Geesthacht zu finden. Die Schiffsglocke befindet sich beim Helmholtz-Zentrum Geesthacht – Zentrum für Material- und Küstenforschung, früher Gesellschaft für Kernenergieverwertung in Schiffbau und Schiffahrt mbH (GKSS), im Archiv. Der Schornstein, der mehr eine Zierfunktion hatte, steht auf dem Außengelände des Deutschen Schifffahrtsmuseums in Bremerhaven. Er wurde nur beim Einsatz der Hilfsmaschinen benötigt. Der Reaktor- und Maschinenleitstand der Otto Hahn befindet sich ebenfalls in der Sammlung des Deutschen Schifffahrtsmuseums.
Technische Daten
Baudaten
- Schiffsname: Otto Hahn
- Eigner: GKSS-Forschungszentrum Geesthacht GmbH
- Bauwerft: Kieler Howaldtswerke AG (später HDW)
- Baunummer: 1103
- Schiffsklasse: + 100 A4E durch Germanischer Lloyd und Bureau Veritas
- Schiffstyp: Erzschiff, Fahrgastschiff, Kernenergieschiff
- Heimathafen: Hamburg
- Unterscheidungssignal: DAOH
- Kiellegung: 31. August 1963
- Stapellauf: 13. Juni 1964
- Fertigstellung: 1. Oktober 1968
- BRT: 16.870
- NRT: 7.257
- LüA: 172,05 m
- Lpp: 158,20 m
- Breite auf Spanten: 23,40 m
- T beladen: 9,22 m
- Freibord: 5,33 m
- Seitenhöhe bis Deck: 14,5 m
- Tragfähigkeit (tdw): 14.079 ts
- Leistung der Hauptmaschine: 7.355 kW
- Besatzung: 63 Mann
- Forschungspersonal: 36 Mann (max.)
- Geschwindigkeit: 17 kn
Antrieb
Reaktor
- Thermische Leistung: 38 MW
- Einsatzzeit bei Volllast: 900 d
- Mittlerer Abbrand: 23.000 MWd/tU
- Eingesetzte UO2-Menge: 1,7 t
- Mittlere Anreicherung: 3,5/6,6 %
- Mittlerer therm. Neutronenfluss: 1,1 × 1013 /cm2s1
- Zahl der Elemente/Brennstäbe: 12/2810
- Äquivalenter Kerndurchmesser: 1050 mm
- Aktive Kernhöhe: 830 mm
- Brennstabdurchmesser: 11,4 mm
- Wandstärke der Hüllrohre: 0,8 mm
- Hüllrohrwerkstoff: Zirkalloy-4
Reaktordruckbehälter
- Durchmesser/Höhe licht: 2360/8580 mm
- Innenvolumen: 35 m³
- Wand-/Plattierungsstärke: 50/8 mm
- Auslegungs-Druck/Temperatur: 85 kp/cm²/300 °C
Literatur
- Lothar-Günther Buchheim: „Otto Hahn“: Die Atom-Ruine. In: Geo-Magazin. Hamburg 1979, 5, S. 66–84, ISSN 0342-8311 (informativer Erlebnisbericht eines Insiders: „Ein funktionierender Atomfrachter ist klar zum Verschrotten: Er war der Seefahrtsgeschichte vorausgefahren. Die letzten Eindrücke von Bord schrieb Lothar-Günther Buchheim auf.“ Buchheim trifft dabei auf den „Alten“, der im Krieg sein Kommandant auf „U96“ war und jetzt auf dem NS „Otto Hahn“ fährt. (NS steht für Nuklearschiff)).
- Werner Hinsch: Gestrandet an einem Schreibtisch. Books on Demand, Norderstedt 2012, ISBN 978-3-8482-5365-4.
- Luciene Fernandes Justo/Gildo Magalhães dos Santos: The Otto Hahn Nuclear Ship and the German-Brazilian Deals on Nuclear Energy. A Case Study in Big Science, in: Icon 6 (2000), pp. 21–49.
- Hajo Neumann: Vom Forschungsreaktor zum Atomschiff Otto Hahn. Die Entwicklung von Kernenergieantrieben für die Handelsmarine in Deutschland. Hauschild, Bremen 2009, ISBN 978-3-89757-446-5.
- Hajo Neumann: Werftindustrie und technologischer „Spin-off“ am Beispiel der „Otto Hahn“. In: Jürgen Elvert, Sigurd Hess, Heinrich Walle (Hrsg.): Maritime Wirtschaft in Deutschland. Schifffahrt – Werften – Handel – Seemacht im 19. und 20. Jahrhundert. Steiner, Stuttgart 2012, S. 106–117, ISBN 978-3-515-10137-0.
- Michael Schaaf: Kernspaltung im Herzen der Finsternis. Afrika und die Ursprünge des Nuklearzeitalters. in: Vera Keiser (Hrsg.): Radiochemie, Fleiß und Intuition. Neue Forschungen zu Otto Hahn. Berlin 2018. ISBN 978-3-86225-113-1 (darin ein Kapitel über die "NS Otto Hahn", S. 450–457)
Weblinks
Einzelnachweise
- »Otto Hahn«: Exot mit Kernenergieantrieb schon vor vierzig Jahren. In: Hansa, Heft 6/2017, S. 98
- Information zum Containerschiff NCS-80, Bundesarchiv
- Paul Laufs: Reaktorsicherheit für Leistungskernkraftwerke: Die Entwicklung im politischen und technischen Umfeld der Bundesrepublik Deutschland, Springer-Verlag, Berlin, 2013, S. 809/810.
- Vgl. Michael Schaaf: Kernspaltung im Herzen der Finsternis. Afrika und die Ursprünge des Nuklearzeitalter.s in: Vera Keiser (Hrsg.): Radiochemie, Fleiß und Intuition. Neue Forschungen zu Otto Hahn. Berlin 2018. ISBN 978-3-86225-113-1. Darin eine Auflistung aller afrikanischen Häfen, die die NS Otto Hahn anlief.
- Nibelungen Kurier Online: Das einzige deutsche „Atomschiff“
- BAnz AT 25.11.2016 B10