Orgel der Uttumer Kirche
Die Orgel der Uttumer Kirche ist eine der bedeutendsten Renaissanceorgeln, die noch nahezu vollständig original erhalten und spielbar ist. Das wertvolle Instrument im ostfriesischen Uttum wurde Anfang der 1640er Jahre oder um 1660 unter Verwendung älteren Pfeifenmaterials aus dem 16. oder dem Anfang des 17. Jahrhunderts von einem unbekannten Meister erbaut. Sie spiegelt die Blütezeit niederländischer Orgelkunst der Renaissance wider, die in die Orgellandschaft Ostfriesland Eingang gefunden hat. Die Orgel verfügt über neun Register auf einem Manual und kein Pedal. Sie wurde von der Stiftung Orgelklang als „Orgel des Jahres 2021“ ausgezeichnet.[1]
Orgel der Uttumer Kirche | |
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Allgemeines | |
Ort | Uttumer Kirche |
Orgelerbauer | unbekannt |
Baujahr | 1641? oder um 1660 |
Letzte(r) Umbau/Restaurierung | 2020/2021 durch Hendrik Ahrend |
Epoche | Spätrenaissance |
Orgellandschaft | Ostfriesland |
Technische Daten | |
Anzahl der Register | 9 |
Anzahl der Pfeifenreihen | 13 |
Anzahl der Manuale | 1 |
Tontraktur | Mechanisch |
Registertraktur | Mechanisch |
Baugeschichte
In der Regel wird als Bauzeit der Orgel die Amtszeit des zweiten Predigers Cornelius Wybenius Müller (1655–1666) angenommen.[2] Die Restaurierung von 2020 ergab schwache Indizien für die 1640er Jahre als Entstehungszeit.[3] Auf einer Pfeife wurde die Inskription „Anno 1641“ entdeckt, wobei die letzte Ziffer in den Buchstaben P umgewandelt war. Aufgrund dessen wird der Orgelbauer Johannes Pauly (Pouly) vermutet, von dem zwei Kinder 1676 und 1678 in Uttum getauft wurden.[4] Beim Orgelneubau wurde Pfeifenmaterial entweder aus der Vorgängerorgel oder aus einer aufgegebenen Orgel einer Klosterkirche verwendet. Eine alte Überlieferung bringt die Anfänge der Uttumer Orgel mit dem Kloster Sielmönken in Verbindung, das nach der Reformation aufgegeben wurde.[5] In ihrer Werkliste führen die Brüder Cornelius und Michael Slegel an, dass sie 1549 zwei Orgeln in Dörfern bei Emden gebaut haben, was auf Uttum zutreffen könnte.[6]
Bei ihrer Erbauung im 17. Jahrhundert war das Orgelgehäuse weitgehend holzsichtig. 1716 wurden die Flügeltüren angefertigt (die Rückseite ist mit dieser Jahreszahl bezeichnet) und die Bekrönungen über den drei Pfeifentürmen aufgesetzt. In diesem Zuge erhielt das Gehäuse seine erste farbliche Fassung in Rot-Blau.[4] In der Folgezeit sind verschiedene Reparaturen belegt, ohne dass jedoch ein Umbau erfolgte: Johann Friedrich Constabel (1748), Dirk Lohman (1769–1770), Hinrich Renken de Vries (1785–1786), Gerhard Janssen Schmid (1795–1796, 1805), Johann Christian Grüneberg (1811), Johann Diepenbrock (1881).
1804 wurde die Orgel, die ursprünglich auf der Westempore stand, ausgelagert. Nachdem 1827 bis 1829 eine neue Decke eingezogen worden war, baute sie 1829 Johann Gottfried Rohlfs auf der Ostempore in einer Aussparung etwas abgesenkt wieder auf.[2] Zudem erhielt sie eine weiße Fassung mit Vergoldungen.
1917 wurden die sechs größten Prospektpfeifen irrtümlich zu Kriegszwecken abgegeben, obwohl sie nicht aus Zinn, sondern aus Blei bestanden;[7] sie wurden 1924 durch neue ersetzt. In diesem Jahr erhielten die Flügeltüren eine Illusionsmalerei mit aufgemalten Pfeifen, die die Orgel größer erscheinen ließ.[4] Zwischen den Weltkriegen wurde auch die abgängige Spieltraktur erneuert.
Von 1956 bis 1957 wurde die Orgel durch Ahrend & Brunzema (Leer-Loga) restauriert. Von den Pfeifen wurden die Sesquialtera, der vierte Chor der Mixtur, die sechs tiefsten Prospektpfeifen rekonstruiert, ebenso die Klaviatur und die brüchige Windlade. Die Illusionsmalereien von 1924 auf den Flügeltüren wurden überstrichen. Die alte mitteltönige Stimmung ließ sich zweifelsfrei nachweisen und wurde wieder gelegt.[8] 1970/1971 erhielt die Orgel eine rot-blaue Fassung, ähnlich der von 1716.
Das Gehäuse und die drei Keilbälge sind noch original. Auch ist die alte Intonation noch weitgehend erhalten.
Im Januar 2020 wurde eine Restaurierungsmaßnahme in die Wege geleitet, die im Januar 2021 abgeschlossen wurde. Die Orgel wurde gegenüber dem Standort von 1829 leicht erhöht aufgestellt und das Gehäuse umfassend restauriert, da es neben Eiche auch Splintholz aufwies, das anfällig für Holzwurm ist. Die Windanlage wurde saniert und die drei Keilbälge wurden neu beledert und abgedichtet. Die beiden Flügeltüren wurden wieder instand gesetzt und die erste Fassung von 1716 wiederhergestellt. Die Traktur wurde neu eingestellt und die Klaviatur gereinigt und mit neuen Polstern versehen. Die Prospektpfeifen wurden poliert und erhielten eine neue Zinnfolie. Schließlich wurden alle Pfeifen gereinigt und nachintoniert, sowie die Trompet 8′ behutsam nachrestauriert. Die Arbeiten wurden erneut durch die Firma Ahrend (Inh. Hendrik Ahrend) ausgeführt.[3]
Besonderheiten
Der Aufbau des Gehäuses mit dem trapezförmigen Mittelturm und den beiden nebeneinander stehenden Basspfeifen in der Mitte ist typisch für den Groninger Orgelstil des 17. Jahrhunderts. In optischer Hinsicht fallen die vergoldeten Labien und die fünf Flammenornamente ins Auge, die die Zwischenräume zwischen den Prospektpfeifen im Bassturm ausfüllen. Über dem Spieltisch ist ein Engelskopf angebracht. Darunter ist als goldene Inschrift „Matthias Ennen Ludimagister“ (Schulmeister) zu lesen; dieser wirkte um 1800 in Personalunion als Organist und Lehrer in Uttum. Ungewöhnlich ist auch das Schleierwerk in Form sich windender Schlangen über den Prospektpfeifen und auf dem Gehäuse. Der Hahn auf der Orgel zeugt möglicherweise von einer Stiftung durch die Familie Hane, deren Wappentier auch auf den Totentafeln an der Ostempore zu sehen ist und die neben Uttum auch in Marienhafe und in Leer (Haneburg) Besitzungen hatte.[9] Die Knöpfe an den Registerzügen sind ungewöhnlich groß. Am Sperrventil ist die Beschriftung „Noli me tangere“ („Rühr mich nicht an“) angebracht. Am Untergehäuse finden sich Relief-Schnitzereien, die denen der Orgel in Visquard ähneln.
Die alten Pfeifen sind sehr bleihaltig und von einer ungewöhnlichen Klangintensität. Sie stammen zum großen Teil aus einem älteren Instrument. Prästant und Gedackt weisen noch die alte gotische Kielbogen-Labienform auf. Die gleichsam singenden Prinzipale sind weit mensuriert und von außerordentlich vokaler Qualität, was durch den flexiblen Wind der Keilbälge noch unterstützt wird. Die Oktave 2′ ist im Diskant so weit mensuriert, wodurch ein flötiger Klang entsteht, der nicht für das Prinzipal-Plenum geeignet ist. Die Mixtur weist eine tiefe Zusammensetzung und eine weite Mensur auf. Sie ist nicht so stark wie in den später für den Gemeindegesang konzipierten Orgeln und für Aufführung polyphoner Musik ideal geeignet. Hingegen fungiert die hoch liegende Sesquialtera als Terzmixtur und kann sinnvoll in einem Zungenplenum eingesetzt werden. Auch beide Quintadenen und das Gedackt bestehen aus schwerem Blei. Ihr Klang zeichnet sich durch große Farbigkeit und Transparenz aus. Eine Besonderheit stellt schließlich die alte Trompete mit den Bleiköpfen und offenen Kehlen dar, die ungewöhnlich farbig, obertonreich und voll wie ein ganzes Bläserkonsort klingt. Sie gilt neben dem der Orgel in Westerhusen als eines der ältesten erhaltenen Trompetenregister weltweit.[10]
Die Kwassui University in Nagasaki ließ die Uttumer Orgel 2015/2016 durch den japanischen Orgelbauer Kambe originalgetreu nachbauen.[11]
Disposition seit 17. Jahrhundert
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- Spielhilfen: Sperrventil
- Tremulant (alt, als Klappe am Kanal)
- Cimbelstern (neu)
- Calcantenglocke
Technische Daten
- 9 Register, 1 Manual, kein Pedal
- Traktur:
- Tontraktur: Mechanisch
- Registertraktur: Mechanisch
- Windversorgung:
- 78 mmWS Winddruck
- 3 Keilbälge im Balghaus hinter der Empore
- Stimmtonhöhe:
- Höhe ca. ein Halbton über a1= 440 Hz
- Temperatur:
- Mitteltönige Temperatur mit leichter Modifizierung (Cis-Gis und Es-B als reine Quinten, wodurch die Wolfsquinte etwas abgemildert wird)
Literatur
- Walter Kaufmann: Die Orgeln Ostfrieslands. Ostfriesische Landschaft, Aurich 1968.
- Günter Lade (Hrsg.): 40 Jahre Orgelbau Jürgen Ahrend 1954–1994. Selbstverlag, Leer-Loga 1994.
- Uda von der Nahmer: Windgesang. Orgeln, Wind und Verwandte. Ostfriesische Landschaftliche Verlags- und Vertriebsgesellschaft, Aurich 2008, ISBN 978-3-940601-03-2.
- Ralph Nickles: Orgelinventar der Krummhörn und der Stadt Emden. Hauschild Verlag, Bremen 1995, ISBN 3-929902-62-1.
- Harald Vogel, Günter Lade, Nicola Borger-Keweloh: Orgeln in Niedersachsen. Hauschild, Bremen 1997, ISBN 3-931785-50-5.
- Harald Vogel, Reinhard Ruge, Robert Noah, Martin Stromann: Orgellandschaft Ostfriesland. 2. Auflage. Soltau-Kurier-Norden, Norden 1997, ISBN 3-928327-19-4.
Aufnahmen/Tonträger
- Orgelland Ostfriesland. 1989, Deutsche Harmonia Mundi, HM 939-2, CD (Harald Vogel in Norden, Uttum, Rysum, Westerhusen, Marienhafe, Weener: Werke von D. Buxtehude, C. Goudimel, Anonymus, J. P. Sweelinck, S. Scheidt, C. Paumann, A. Schlick, A. Ileborgh, P. Hofhaimer, H. Isaac, H. L. Hassler, G. Böhm, J.S . Bach).
- Orgellandschaften. Folge 4: Eine musikalische Reise zu acht Orgeln der Region Ostfriesland (Teil 1). 2013, NOMINE e.V., LC 18240 (Thiemo Janssen in Rysum, Osteel, Westerhusen, Marienhafe, Dornum und Agnes Luchterhandt in Uttum, Pilsum, Norden).
- Orgeln in Ostfriesland. Vol. 2. 1997, Organeum, OC-09602, CD (Harald Vogel in Rysum, Uttum, Norden, Marienhafe).
- Thomas Tomkins: Keyboard Music. Vol. 4. 1997, Musikproduktion Dabringhaus & Grimm, 607 0706-2, CD (Bernhard Klapprott in Uttum)
- Windgesang. Orgeln, Wind und Verwandte: Weh, windgen, weh… Krumhörner Orgelklänge. 2012, Verlag der Ostfriesischen Landschaft (Winfried Dahlke in Rysum, Uttum, Westerhusen und Pilsum mit Werken von Ghizeghem, Lassus, Palestrina, Böddecker u. a.)
- Jan Pieterszoon Sweelinck: The Complete Keyboard Works. Nun freut euch, lieben Christen mein, Toccata d3, Fantasia F2, Fantasia g2. 2015, Glossa GCD 922420 (Bernard Winsemius und Harald Vogel).
Weblinks
- Orgel in Uttum bei NOMINE e.V.
- Orgelrestaurierung 2020
- Ibo Ortgies: Die Orgel in der Reformierten Kirche zu Uttum. In: Thomas Tomkins: Keyboard Music. Vol. 4. 1997, Musikproduktion Dabringhaus & Grimm, 607 0706-2, CD-Booklet, S. 36–38 (Bernhard Klapprott in Uttum).
- Greifenberger Institut für Musikinstrumentenkunde
Einzelnachweise
- Deutschlandfunk Kultur: „Orgel des Jahres“ steht im ostfriesischen Uttum. Abgerufen am 27. Mai 2021.
- Kaufmann: Orgeln. 1968, S. 229.
- Irmi Hartmann: Weihnachten wird die Orgel wohl wieder strahlen. In: Ostfriesischer Kurier. 14. November 2020.
- Orgelrestaurierung 2020, abgerufen am 21. November 2020.
- Kaufmann: Orgeln. 1968, S. 228.
- Nickles: Orgelinventar. 1995, S. 111, 46 f, 128, 308, 528.
- Kaufmann: Orgeln. 1968, S. 229, der fälschlich angibt, dass der gesamte Prästant neu ist; siehe aber Lade (Hrsg.): 40 Jahre Orgelbau. 1994, S. 30, und Vogel: Orgellandschaft. 1997, S. 125–126.
- Vogel, Lade, Borger-Keweloh: Orgeln in Niedersachsen. 1997, S. 125.
- Vogel: Orgellandschaft. 1997, S. 23.
- Vogel, Lade, Borger-Keweloh: Orgeln in Niedersachsen. 1997, S. 126.
- Süddeutsche Zeitung vom 27. Mai 2021: In Japan steht längst ein Nachbau. Abgerufen am 27. Mai 2021.