Michel Aoun
Michel Aoun (arabisch ميشال عون Mischal Aun, DMG Mīšāl ʿAwn; * 30. September 1933[1][2] oder 18. Februar 1935 in Haret Hreik, Großlibanon) ist ein libanesischer Offizier und Politiker. Seit dem 31. Oktober 2016 ist er Präsident des Libanon; dieses Amt wird gemäß dem Nationalpakt von 1943 stets von einem maronitischen Christen besetzt.
Militärische Ausbildung
Nach dem Studium an der Militärakademie in Beirut wurde er Offizier und erreichte in seiner Karriere den Aufstieg zum jüngsten Oberbefehlshaber der libanesischen Armee im Alter von 48 Jahren. Er durchlief zusätzliche militärische Ausbildungen in Châlons-sur-Marne in Frankreich (1958), Fort Sill in Oklahoma in den USA (1966) und an der École supérieure de guerre in Frankreich (1978–80).
Rolle im Libanesischen Bürgerkrieg 1980–1988
Im libanesischen Bürgerkrieg verteidigte er beim Einmarsch der israelischen Truppen im Jahre 1982 den Präsidentenpalast Baabda. Nach der israelischen Invasion weigerte er sich, mit den israelischen Kommandeuren zusammenzuarbeiten. Im Jahre 1983 schlug er einen Verband von Milizen bei Souk el Gharb und wurde Oberbefehlshaber der von den französischen, US-amerikanischen und italienischen Friedenstruppen neu aufgebauten libanesischen Armee.
Der „Guerre de Libération“ 1988–1990
Im September 1988 wurde General Aoun vom ausscheidenden Präsidenten Amin Gemayel zum Ministerpräsidenten bis zur Neuwahl ernannt. Diese Ernennung war nicht unumstritten, da das Amt der Ministerpräsidenten im sogenannten Nationalpakt von 1943 für Sunniten vorgesehen ist. Rein verfassungstechnisch aber hätte der Präsident tatsächlich auch einen Christen ernennen können, wie es ja bereits 1952 mit General Fuad Schihab einen entsprechenden Präzedenzfall gab, als dieser, ebenfalls als Chef der Armee, nach dem Sturz von Béchara el-Khoury zum Interims-Premier ernannt wurde und die Wahl von Camille Chamoun zum Präsidenten ermöglichte. Aoun wurde nur in einem Teil des Landes als Ministerpräsident anerkannt. Der Chef der Schiiten-Brigade der Armee, General Jabr Lofti, schlug wie andere muslimische Führer einen Eintritt in Aouns Kabinett aus. Demgegenüber aber versicherte der alte schiitische Verteidigungsminister Adel Osseiran (Adil Ussayran) Aoun seine Loyalität. Im Zuge der Massenproteste zugunsten Aouns hielten sich bis zu 10 000 christliche und muslimische Studenten und Jugendliche um den von Aoun besetzten Präsidentenpalast in Baabda auf, wo sie friedlich für den General demonstrierten. Es traten bei diesen Kundgebungen auch bekannte Künstler und Liedermacher auf.
Zum Ende des Bürgerkrieges führte Aouns eine Truppe von 12.000 bis 15.000 Mann. Er kämpfe damit gegen die 10.000 bis 12.000 Mann starke christliche Miliz Forces Libanaises. Ferner erklärte er im Jahre 1989 den Krieg gegen Syrien, welches sich als Besatzungsmacht etablierte. Infolgedessen kam es nach nur wenigen Jahren wieder zur Spaltung der libanesischen Armee.
In der Zeit von 1989 bis 1990 kam es vor allem in den christlich kontrollierten Gebieten des Libanon zu Massenprotesten überwiegend junger, im Bürgerkrieg aufgewachsener Menschen für den teilweise auch bei muslimischen Libanesen damals ungeheuer populären „General“, der die Rhetorik der antikommunistischen Bürgerbewegungen Osteuropas mit der der palästinensischen „Intifada“ geschickt verknüpfte. („De Prague à Beyrouth - un seul combat - La Liberté: Alexandre Dubcek - Michel Aoun“).
Allerdings hatten im Herbst 1990 weder Israel noch die USA, mit denen sich Aoun überworfen hatte, da er das von Saudi-Arabien und den Großmächten arrangierte Taef-Abkommen ablehnte, ein Interesse an einem Sieg des Generals. Sie griffen deshalb nicht ein, als Syrien und seine libanesischen Alliierten im Oktober 1990 den Präsidentenpalast in Baabda stürmten und damit offiziell das Ende des 15-jährigen Bürgerkrieges einläuteten.
Während der syrischen Offensive gegen Aoun wurde auch Dany Chamoun und seine deutsche Frau Ingrid sowie deren kleine Kinder ermordet. Chamoun, dessen Tiger-Miliz 1980 von der Kata’ib vernichtet worden war, war als Chef der Nationalliberalen Partei und Präsident (seit 1988) der u. a. von seinem Vater Camille Chamoun und dem Philosophen und Politiker Charles Malik gegründeten Libanesischen Front einer der wesentlichen politischen Stützen von Aoun im christlichen Lager, im Gegensatz zu der Familie Frangié, die auf Seiten Syriens stand, und den „Forces Libanaises“. Während der Kämpfe, die zu den blutigsten des Bürgerkrieges gehörten, kamen allein ca. 5000 Menschen um.
Exil in Frankreich 1990–2005
Nach dem syrischen Sturm auf den Präsidentenpalast in Baabda im Oktober 1990 ging Aoun als Flüchtling in die französische Botschaft und später nach Frankreich ins Exil und betrieb von dort aus bis zu seiner Rückkehr eine Politik gegen die Besetzung Libanons durch Syrien. Insbesondere in den 90er Jahren und bis zum Ende des Exils 2005 wurde Aoun dabei in den USA von rechtsgerichteten und neokonservativen Politikern wie Newt Gingrich und Joseph Lieberman, den damaligen Vordenkern der von George Bush ab 2001 gegenüber Syrien, dem Iran und dem Irak exekutierten Politik der „Demokratisierung der arabischen Welt nach amerikanischem Vorbild“ unterstützt und war gern gesehener Gast in Washington.[3]
Politische Rolle im Libanon 2005 bis 2016
Nach dem Abzug der syrischen Truppen, welcher im April 2005 beendet wurde, kam Aoun am 7. Mai 2005 aus einem 15-jährigen Exil zurück in den Libanon. Mit seiner neuen Partei, der "Freien Patriotischen Bewegung" (CPL) beteiligte er sich an den Parlamentswahlen. Die Partei CPL verfolgt im Prinzip die Ziele, die Aoun schon während des Guerre de Libération vertreten hatte: einen von den Einflüssen anderer Mächte unabhängigen Libanon. Allerdings überraschte Aoun dabei Freunde und Gegner mit seinem Bündnis mit ehemals pro-syrischen Kräften (Michel Murr) und der Hisbollah gegen den politischen Block der Hariri-Familie. Aoun, der mit diesen Bündnissen offenbar eine Mehrheit zur Erlangung des Präsidentenamtes im November 2007 suchte, die er dann schließlich 2016 auch erreichte, steht damit im Gegensatz zu seinem Vorbild Fuad Schihab, der 1970 eher die Präsidentschaft ausschlug, als sich in das politische Geschacher hineinziehen zu lassen.
Seit Juli 2007 betreibt Michel Aoun den Fernsehsender Orange TV, den er für politische Einflussnahme nutzte.[4]
Präsident seit 2016
Seit dem 31. Oktober 2016 ist Michel Aoun Präsident des Libanon. Dazu hatte er ein Bündnis mit der schiitischen Hisbollah geschlossen und Saad Hariri die nötigen Stimmen verschafft, um Premierminister zu werden.[5] Nach dem Rücktritt Hariris in Folge der Proteste im Libanon 2019 kam Aoun eine Schlüsselrolle bei der Bildung einer neuen Regierung zu. Aoun war der Ansicht, der Libanon müsse nun vom konfessionellen zum bürgerlichen Staat wechseln.[6] Nachdem der abermals zum Regierungschef gewählte Hariri erneut mit einer Regierungsbildung beauftragt worden war und im Juli 2021 sein angedachtes Kabinett, das eine technokratische Regierung geworden wäre, vorschlug, lehnte Aoun ab, woraufhin Hariri erneut zurücktrat.[7]
Privates
Michel Aoun ist seit 1968 mit Nadia El-Chami verheiratet und hat drei Töchter.[8]
Literatur
- Daniel Rondeau, Chronique du Liban rebelle 1988–1990, Bernard Grasset, Paris 1991, ISBN 2-246-44641-4
- Jean-Paul Bourre, Génération Aoun – Vivre libre au Liban, Éditions Robert Laffont, Paris 1990, ISBN 2-221-06754-1
- Carole Dagher, Les paris du Géneral, Editions FMA, Beirut 1992
- Theodor Hanf, „Staatszerfall – Der Weg in die Abhängigkeit 1988–1990“, in: Ders., Koexistenz im Krieg – Staatszerfall und Entstehen einer Nation im Libanon, Nomos, Baden-Baden 1991, ISBN 3-7890-1972-0, S. 704–753 (ausführliche Beschreibung von Aouns „Befreiungskrieg“)
Weblinks
- „Es ist kein Frühling, es ist die Hölle“ – Interview mit Aoun in der Frankfurter Allgemeinen Zeitung vom 11. Januar 2013 zum Arabischen Frühling.
Einzelnachweise
- An overview of life and work of newly elected President Aoun Libanesische Regierung
- Porträt Michel Aoun Munzinger Personen
- Stephen Zunes: Congress and Lebanon, in: The Huffington Post, June 17th, 2008.
- Lina Khatib: Image Politics in the Middle East: The Role of the Visual in Political Struggle, 2012, S. 28 (eingeschränkte Vorschau in der Google-Buchsuche)
- Michel Aoun: Libanesisches Parlament wählt nach zwei Jahren neuen Präsidenten, Der Spiegel, 31. Oktober 2016
- Lebanese president calls for ‘non-sectarian’ system. Abgerufen am 18. Juli 2021 (englisch).
- "Möge Gott Libanon helfen!" In: Süddeutsche Zeitung. Abgerufen am 18. Juli 2021.
- Biografie auf tayyar.org (Memento vom 18. September 2009 im Internet Archive)