Markschwammniere
Die Markschwammniere (Synonym Schwammniere,[1][2] Morbus Cacchi-Ricci; englisch Medullary sponge kidney, MSK) ist eine angeborene tubulointerstitielle[3] meist beidseitige Nierenkrankheit. Dabei bestehen viele kleine Zysten im Nierenmark (Medulla renalis), die mit den Sammelrohren in Verbindung stehen. Es besteht oft eine vermehrte Calcium- und verminderte Säureausscheidung, was zu Steinleiden und Renal tubulärer Azidose führen kann.
Klassifikation nach ICD-10 | |
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Q61.5 | Medulläre Zystenniere Schwammniere |
ICD-10 online (WHO-Version 2019) |
Betroffene sollten Wasser trinken, um die Steinbildung (Lithogenese mit Nephrolithiasis und Urolithiasis) zu vermeiden.[4]
Pathogenese
Ursache dieser Tubuluskrankheit sind angeborene Veränderungen der Sammelrohre in den Markpyramiden und Papillen. Die Markschwammniere tritt in der Regel spontan und unvorhersagbar auf, weshalb man derzeit eher von einer Entwicklungskomplikation während der Schwangerschaft ausgeht. Außerdem wird die Möglichkeit eines autosomal-dominanten Erbgangs diskutiert, wobei die Erkrankung dann nur im Zusammenhang mit bisher unbekannten Umweltfaktoren auftritt. Die Nierenveränderungen können sowohl einseitig als auch beidseitig auftreten oder nur Teile der Niere betreffen.
In den terminalen Sammelrohren kommt es zu Erweiterungen nahe der Papillenspitze, aus denen sich im Verlauf verkalkte Zysten bilden können, die reichlich Calciumphosphat- und Calciumoxalatkonkremente enthalten. Die meisten Betroffenen weisen eine vermehrte Calciumausscheidung (Hyperkalzurie) und eine verminderte Säureausscheidung (renale Azidose) auf.
Die Nieren behalten zwar ihre normale Form, entwickeln aber ein schwammiges Aussehen und sind vergrößert. In der Niere entstehen Obstruktionen, welche sekundär das Parenchym verändern, in der Regel ohne zu einer Niereninsuffizienz zu führen. Bei beidseitiger Markschwammniere entwickeln jedoch circa 75 % aller Patienten eine Nierenfunktionsstörung.
Weil die Glomeruli nicht betroffen sind, kommt es kaum (oder „üblicherweise nur vorübergehend“[5]) zu einem Rückgang der glomerulären Filtrationsrate[6] und somit auch nicht zur Niereninsuffizienz[7] und schon gar nicht zur Notwendigkeit einer Nierendialyse. Obwohl die Tubuli betroffen sind, kommt es nicht zur Polyurie.[8] Nierensteinabgänge sind jedoch häufig.[9]
Epidemiologie
Die Häufigkeit beträgt etwa 1:10.000. Nach anderen Angaben liegt die Inzidenz zwischen 1:100.000 und 5:10.000[10] oder auch zwischen 0,005 und 0,02 Prozent (also zwischen 1:20.000 und 1:5.000). Beschrieben werden eine Androtropie von 2:1 und eine Beidseitigkeit (Bilateralität) in 70 oder 75 Prozent der Fälle.[11] Klinisch üblich ist eine Einteilung in vier Schweregrade von 1 bis 4. Die seltener betroffenen Frauen leiden jedoch häufiger unter Harnwegsinfektionen und Nierensteinen als die häufiger betroffenen Männer. Zwischen 12 und 21 Prozent der Patienten und Patientinnen mit Nierensteinen haben Markschwammnieren.
Geschichte
„Die Markschwammniere ist pathologisch-anatomisch schon“ seit 1908 bekannt.[12] „Sie wurde 1939 von Lenarduzzi röntgenologisch beschrieben und 1949 [gemeint: 1948] von Cacchi und Ricci als solche bezeichnet.“[13][14][15] „Historisch wird auch gelegentlich bei Nachweis einer Hyperkalzurie ein Versuch mit Thiaziden empfohlen.“[16]
Klinik
Mehr als die Hälfte der Betroffenen bleiben zeitlebens asymptomatisch. Erste Symptome treten entweder in der Adoleszenz oder ab dem 5. Lebensjahrzehnt auf. Häufige Symptome sind:
- Nierenkoliken infolge wiederkehrender Nierensteine
- Harnwegsinfektionen, die durch Verengungen (Obstruktionen) der ableitenden Harnwege begünstigt werden
- Pyurie[17] (Eiter im Urin)
- Hämaturie (Ausscheidung roter Blutkörperchen im Harn; insbesondere als Folge wiederkehrender Nierensteine)[18]
- chronische Nierenfunktionsstörung (bei einseitiger Markschwammniere sehr selten; aber auch bei bilateraler Markschwammniere selten)
Die Markschwammniere „kommt häufiger zusammen mit einem Ehlers-Danlos-Syndrom, einem Curtius-Syndrom und einem Beckwith-Wiedemann-Syndrom vor,“[19] selten auch mit einem Caroli-Syndrom.[20]
Diagnostik
Die Diagnostik erfolgt durch Ultraschall und gegebenenfalls durch Röntgenübersichtsaufnahmen des Bauches. Es zeigen sich vielfache (röntgendichte) Verkalkungen im Papillenbereich.
Bei der intravenösen Pyelographie füllen sich zuerst die Hohlräume in den Papillen und dann erst die Bereiche der Nierenkelche.
Therapie
Die Therapie erfolgt in der Regel symptomatisch[21] (wie ausreichende Flüssigkeitsaufnahme) und zielt insbesondere auf die Prävention von Nierensteinbildungen. Bei Hyperkalziurie werden Thiaziddiuretika zur Prophylaxe eingesetzt,[22] auch um die Calciumausscheidung über die Nieren zu vermindern.
Dehydratationen müssen vermieden werden, da die verstärkte Harnkonzentration im Rahmen eines Flüssigkeitsmangels das Ausfallen von Calciumphosphat und Calciumoxalat begünstigt.
Prognose
Die Lebenserwartung ist in der Regel nicht eingeschränkt. Die Prognose ist gut.[23]
Hinweis
Die Markschwammniere darf nicht mit einer Markschwamm-Niere verwechselt werden. Unter einem Markschwamm versteht man einen bösartigen „Krebs, bei dem die Entwicklung der Krebszellen im Parenchym überwiegt. Ein Synonym ist das Carcinoma medullare“[24][25] (medulläres Karzinom zum Beispiel auch beim medullären Schilddrüsenkrebs oder beim medullären Mammakarzinom) als Gegenteil vom Carcinoma scirrhosum.[26] Denn das „Nierenparenchym läßt zwei entwicklungsgeschichtlich und im histologischen Aufbau verschiedene Teile erkennen, die Marksubstanz und die Rindensubstanz,“[27] also Medulla renalis und Cortex renalis (andere Bezeichnungen: „Cortex renis et medulla renis“[28]).
Betroffen wäre beim Nierenmarkkrebs die Medulla renalis sive renis. Dieses medulläre Nierenzellkarzinom (auch medulläres Nierenkarzinom, Ductus-Bellini-Karzinom oder Sammelrohrkarzinom) ist das seltenste und aggressivste der Nierenzellkarzinome in der Klassifikation der fünf verschiedenen Subtypen der epithelialen Neoplasien in der Niere (siehe Hypernephrom). Markschwammnieren vergrößern nicht das Risiko für ein medulläres Nierenzellkarzinom.
Quellen
- Wolfgang Piper: Innere Medizin, Springer Verlag, Heidelberg 2007, 1002 Seiten, ISBN 978-3-540-33725-6, Kapitel Hereditäre tubuläre Erkrankungen S. 309–311, Markschwammniere S. 310.
Einzelnachweise
- Peter Reuter: Springer Klinisches Wörterbuch 2007/2008. Heidelberg 2007, ISBN 978-3-540-34601-2, S. 1130 f.
- Maxim Zetkin, Herbert Schaldach: Lexikon der Medizin, 16. Auflage, Ullstein Medical, Wiesbaden 1999, ISBN 978-3-86126-126-1, S. 1243.
- Harrisons Innere Medizin. 20. Auflage, Georg Thieme Verlag, Berlin 2020, 3. Band, ISBN 978-3-13-243524-7, S. 2681 und 2687.
- J. M. Ginalski, L. Portmann, P. Jaeger: Does medullary sponge kidney cause nephrolithiasis? In: American Journal of Roentgenology, Volume 155, Issue 2, S. 299–302, Jahrgang 1990.
- Das MSD Manual, 6. Auflage, Urban & Fischer, München / Jena 2000, ISBN 3-437-21750-X, S. 2314.
- François Reubi: Nierenkrankheiten. 3. Auflage. Verlag Hans Huber, Bern/ Stuttgart/ Wien 1982, ISBN 3-456-81140-3, S. 547–549.
- K. W. Rumpf: Hereditäre Nierenerkrankungen. In: Walter Siegenthaler, Werner Kaufmann, Hans Hornbostel, Hans Dierck Waller (Hrsg.): Lehrbuch der inneren Medizin. 3. Auflage. Thieme, Stuttgart / New York 1992, ISBN 3-13-624303-X, S. 485 f.
- Walter Siegenthaler (Hrsg.): Klinische Pathophysiologie. 3. Auflage, Georg Thieme Verlag, Stuttgart 1976, ISBN 3-13-449603-8, S. 892.
- B. Truniger, Ulrich Kuhlmann: Hämaturie, Leukozyturie, Proteinurie und Störungen der Diurese, in: Walter Siegenthaler (Hrsg.): Differentialdiagnose innerer Krankheiten, 15. Auflage, Georg Thieme Verlag, Stuttgart / New York 1984, ISBN 3-13-344815-3, S. 25.28.
- Mark Dominik Alscher, Ulrich Kuhlmann: Angeborene Nierenerkrankungen, in: Ulrich Kuhlmann, Joachim Böhler, Friedrich C. Luft, Mark Dominik Alscher, Ulrich Kunzendorf (Hrsg.): Nephrologie. 6. Auflage. Georg Thieme Verlag, Stuttgart / New York 2015, ISBN 978-3-13-700206-2, S. 653–680, Zitat S. 664, allerdings mit der mathematisch falschen Angabe „5 : 10 000 – 100 000“.
- Günter Thiele (Hrsg.): Handlexikon der Medizin. Band III (L–R), Urban & Schwarzenberg, München/Wien/Baltimore ohne Jahr [1980], S. 1554.
- Hermann Beitzke: Über Zysten im Nierenmark, in: Charité-Annalen, 32. Jahrgang (1908), S. 285.
- Friedrich Arnholdt: Markschwammniere. In: Handbuch der inneren Medizin, herausgegeben von Herbert Schwiegk, 5. Auflage, 8. Band, 3. Teil, Springer-Verlag, Berlin / Heidelberg / New York 1968, ISBN 3-540-04152-4, S. 521–523.
- Roberto Cacchi, Vincenzo Ricci: Sopra una rara et forse non ancora descritta affezione cistica delle piramidi renali („rene a spugna“). In: Atti della Società italiana di Urologia, Jahrgang 21 (1948), S. 59.
- Roberto Cacchi, Vincenzo Ricci: Sur une rare maladie kystique multiple des pyramides rénales, le „rein en éponge“. In: Journal d'urologie medicale et chirurgicale, Paris, Jahrgang 55 (1949), S. 497–519.
- Mark Dominik Alscher, Ulrich Kuhlmann: Angeborene Nierenerkrankungen, in: Ulrich Kuhlmann, Joachim Böhler, Friedrich C. Luft, Mark Dominik Alscher, Ulrich Kunzendorf (Hrsg.): Nephrologie. 6. Auflage. Georg Thieme Verlag, Stuttgart / New York 2015, ISBN 978-3-13-700206-2, S. 653–680, Zitat S. 665.
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- J. Jones, Wolf-Dietrich Beecken, Wolfgang Kramer: Erkrankungen der Niere und der ableitenden Harnwege. In: Helmut Geiger, Dietger Jonas, Tomas Lenz, Wolfgang Kramer (Hrsg.): Nierenerkrankungen, Schattauer Verlag, Stuttgart / New York 2003, ISBN 3-7945-2177-3, S. 441 f.
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- Felix Sieglbauer: Lehrbuch der normalen Anatomie des Menschen. 8. Auflage, Verlag Urban & Schwarzenberg, München / Berlin 1958, S. 429.
- Alfred Benninghoff, Kurt Goerttler: Lehrbuch der Anatomie des Menschen. 11. Auflage, Verlag Urban & Schwarzenberg, München / Wien / Baltimore 1977, Band 2, ISBN 3-541-00251-4, S. 246.