Kettenlinie (Mathematik)
Eine Kettenlinie (auch Seilkurve, Katenoide oder Kettenkurve, englisch catenary oder funicular curve) ist eine mathematische Kurve, die den Durchhang einer an ihren Enden aufgehängten Kette unter dem Einfluss der Schwerkraft beschreibt. Es handelt sich um eine elementare mathematische Funktion, den Cosinus hyperbolicus, kurz cosh.
Mathematische Beschreibung
Erste Herleitung: Minimum der potentiellen Energie
Die Berechnung der Kettenlinie ist ein klassisches Problem der Variationsrechnung. Man denkt sich ein Seil von gewisser Masse und Länge, das an seinen Enden aufgehängt ist. Die Seilkurve ist das Ergebnis der kleinstmöglichen potentiellen Energie des Seils. Das versucht man rechnerisch nachzuvollziehen.
Dazu benötigt man den mathematischen Ausdruck für die potentielle Energie. Er ist eine Verfeinerung des bekannten „Gewicht mal Höhe“ . Die Verfeinerung besteht darin, dass die Energie für „alle Teile“ des Seils getrennt ausgewertet und zum Schluss summiert wird. Das ist notwendig, weil die Teile des Seils sich auf unterschiedlichen Höhen befinden. Die gedankliche Zerlegung des Seils in immer kleinere Teile macht aus der Summe ein Integral. Die Höhe aus wird durch die gesuchte Funktion ersetzt, die Masse durch die Masse des Seilstücks über dem Intervall ; nach Pythagoras ist dies:
wobei die Masse je Meter ist. Wenn das Seil an den Stellen , aufgehängt ist, ergibt sich demnach die Energie („Gewicht mal Höhe“) als
Eine ähnliche Überlegung führt auf den Ausdruck für die Länge des Seils:
Die Energie ist zu minimieren, die Länge ist jedoch vorgegeben. Man bringt dies unter einen Hut durch einen Lagrange-Multiplikator , das heißt, man minimiert nun den Ausdruck
Die Variation ergibt die Differentialgleichung (Euler-Lagrange-Gleichung):
Interessanterweise sind in diesem Schritt sowohl die Massengröße als auch die Schwerebeschleunigung herausgefallen. Ein schweres Seil nimmt somit dieselbe Form an wie ein leichtes, und auf dem Mond ergibt sich trotz anderer Fallbeschleunigung dieselbe Form wie auf der Erde.
Die Lösungen der Gleichung sind die Funktionen
Es handelt sich um vergrößerte und verschobene Cosinus-hyperbolicus-Funktionen. ist der Krümmungsradius im Scheitelpunkt (siehe Abbildung) und zugleich der Vergrößerungsfaktor. ist die Verschiebung in -Richtung, die Verschiebung in -Richtung.
Die konkrete Form, die das Seil letztendlich annimmt, errechnet man, indem man , und so anpasst, dass die Kurve durch die Aufhängepunkte geht und die vorgegebene Länge hat.
Zweite Herleitung: Kräfteparallelogramm
Bei einem Gewichtstück, welches über zwei Halteseile S1 und S2 mit den Steigungen t1 und t2 an insgesamt zwei Säulen aufgehängt ist, werden die Kräfte an den Seilen durch ein Kräfteparallelogramm mit der Haltekraft FH als Diagonale beschrieben. Der Vektor der Haltekraft FH bildet zum Vektor der Gewichtskraft FG den betragsgleichen Gegenvektor. Das Parallelogramm wird durch den Haltekraftvektor in zwei zueinander kongruente Dreiecke aufgeteilt. Mit dem Sinussatz können die Beträge der zwei Zugkräfte an den Seilen FS1 und FS2 berechnet werden:
Bei zwei gleich schweren Gewichtstücken, welche jeweils mit einem Halteseil an ihre zugehörige Säule aufgehängt und mit einem anderen gemeinsamen Halteseil SM zueinander verknüpft sind, gilt wegen des Kräftegleichgewichts im mittleren gemeinsamen Seil folgende Gesetzmäßigkeit:
Dabei ist tL die Steigung vom Seil SL, tM ist die Steigung vom Seil SM und tR ist die Steigung vom Seil SR.
Bei einer Kette aus insgesamt m Seilen und m - 1 gleich schweren Gewichtstücken zwischen den Seilen hat die Differenz von der Steigung eines Seils minus die Steigung des vorgängerischen Seils immer denselben Wert:
Durch die Gleichsetzung aller Seillängen und die Annäherung der Seillängen gegen Null entwickelt sich als Grenzwert m gegen Unendlich die Kette zu einer idealen Kettenkurve. Somit ist bei einer idealen Kettenkurve die Steigung der Kurve linear zur Kurvenlänge. Die Steigung ist also direkt proportional zum Bogenmaß angesetzt am relativen Minimum der Kurve. Diejenige Funktion, welche in ihrem Graph diese direkte Proportionalität zwischen Kurvensteigung und Kurvenlänge aufweist, ist der Cosinus Hyperbolicus. Bei folgender Differentialgleichung wird die Kurvenlänge als Integral des pythagoräischen Nachfolgers der Ableitung und die Steigung als Ableitung selbst angegeben:
Länge
Ist die Kettenkurve als Gleichung gegeben und verläuft sie durch die Aufhängepunkte und , dann gilt für die Höhendifferenz der Punkte:
und für die Länge zwischen den Aufhängepunkten der Kettenkurve gilt:
Für die Herleitung wurden die Ableitungsfunktion und Stammfunktion von Sinus hyperbolicus und Kosinus hyperbolicus und die Gleichung verwendet. Aus den zwei hergeleiteten Gleichungen und dem Additionstheoremen und folgt:
Beispiele
Beispiel 1
Als Beispiel sei ein zwischen zwei Pfosten (Abstand ) aufgehängtes Seil der Länge gegeben (siehe Abbildung). Die Pfosten sind gleich hoch und befinden sich bei und , es gilt also .
Um den Krümmungsradius zu berechnen, schreiben wir die Seillänge als Funktion von :
- .
Diese Beziehung legt in Abhängigkeit von und eindeutig fest. Da man keinen geschlossenen Ausdruck für angeben kann, muss der Wert mit einem numerischen Verfahren zur Lösung nichtlinearer Gleichungen approximativ berechnet werden.
Sind jedoch und gegeben, können und wie folgt geschlossen dargestellt werden.
Wird das Quadrat aus der Gleichung (oben) vom Quadrat aus der (unten erwähnten) Gleichung subtrahiert, dann ergibt die mit der Differenz entstehende Gleichung , woraus wegen eliminiert und nach umgestellt werden kann.
Einsetzen dieses in und Umformungen ergeben den gesuchten Ausdruck für den Abstand in geschlossener Form z. B.
oder
- .
Zuletzt liest man aus der Abbildung die Bedingung ab, aus der man erhält. Des Weiteren gelten die Beziehungen
wobei der „Durchhang“ ist.
Die potentielle Energie dieses Systems beträgt
- .
Genauer ist dies die Energiedifferenz gegenüber dem Fall, dass sich das Seil komplett auf der Höhe der Aufhängepunkte () befindet.
Mit Hilfe der Energie kann man die Kraft in den Aufhängepunkten berechnen. Hierzu stellt man sich vor, dass das Seil in einem Aufhängepunkt über eine Umlenkrolle läuft, die die Kraft in horizontale Richtung umlenkt. Um das Seil wie abgebildet um eine sehr kleine Strecke hinauszuziehen, muss man die Energie aufwenden. Diese kann man berechnen und erhält so die Kraft . Zur Berechnung von vergleicht man die Energie des ursprünglichen Seils mit der des um verkürzten Seiles. Das Ergebnis ist überraschend einfach, nämlich
mit . Dieselbe Formel kann man auch auf Teilstücke des Seils anwenden. Da die Teilstücke alle denselben Krümmungsradius haben, aber für kleine Teilstücke (unten im Tal) der Durchhang vernachlässigbar wird, besteht im Tal des Seiles die Seilspannung .
Stellt man die Pfosten nah beisammen, dann dominiert der Durchhang , der dann recht genau die halbe Seillänge ist. Die Kraft ist dann erwartungsgemäß die halbe Gewichtskraft des Seiles, (man beachte, dass zwei Aufhängepunkte sich die Last teilen).
Die Formel zeigt auch, wie die Kraft bei zunehmender Seilspannung die halbe Gewichtskraft um den Faktor übersteigt. Der Faktor ist praktisch 1 für sehr kleine Krümmungsradien , aber ungefähr oder auch für sehr große Krümmungsradien.
Im Alltag beträgt der Faktor etwa 2 bis 4. Im Aufhängepunkt wirkt dann das ganze oder doppelte Gewicht des Seiles.
Beispiel 2
Für = 100 m und einen Mastabstand von 200 m (also Spezialfall ) wird ein 2·117,5 m langes Seil benötigt: . Der Durchhang beträgt 54 m. Für ein Stahlseil mit 100 cm² Querschnitt wiegt eine Seilhälfte 9,2 t. Die entsprechende Gewichtskraft von 9·104 N ist die vertikale Kraft an einer Aufhängung. Die horizontale Kraft an einer Aufhängung beträgt 7,7·104 N.
Beträgt etwa 20,2 % der gesamten Breite , so ist der Durchhang gleich der Breite (quadratförmige Gesamtabmessungen). Dieser Fall liegt beispielsweise vor beim Gateway Arch (siehe unten im Abschnitt Architektur), der 630 Fuß breit und ebenso hoch ist. Die exakte Formel
mit a = 127,7 Fuß und w/2 = 315 Fuß ist im Inneren des Denkmals ausgestellt.
Beispiel 3
Zwei Säulen der Höhen g = 1 m und h = 2 m stehen in einem Abstand von d = 3 m voneinander entfernt. Zwischen ihnen wird eine Kette der Länge k = 4 m aufgehängt.
Frage:
Wie weit ist der Scheitelpunkt von der Säule g entfernt und wie hoch steht der Scheitelpunkt?
Synthese der Formeln:
Unter der Annahme, dass sich bei der Eintragung in ein Koordinatensystem die Spitze der Säule g als Anfang der Kette am Punkt (0,g) und Spitze der Säule h als Ende der Kette am Punkt (d,h) befindet, gilt folgendes Gleichungssystem:
- I)
- II)
Die Höhen der Kette werden durch den Cosinus Hyperbolicus beschrieben.
Die Kettenlänge wird durch den Sinus Hyperbolicus beschrieben.
Mit dem Additionstheorem des Cosinus Hyperbolicus entsteht aus der Kombination II² - I² folgende vom Parameter x₀ befreite Formel:
- III)
Mit dieser Formel kann der Wert von a direkt berechnet werden.
Die Theoreme der Hyperbelfunktionen ermöglichen die Umwandlungen von Summen zu Produkten:
- I)
- II)
Durch die Rechnung I/II und anschließende Auflösung nach x₀ entsteht diese Formel:
- IV)
Außerdem gilt folgende Formel für die Säule g:
- V)
Dabei handelt es sich um die Auflösung der generellen Kettengleichung y(x) = a cosh[(x - x₀)/a] + y₀ mit dem x-Wert Null.
Und jene Formel gilt direkt für den gesuchten Scheitelpunkt durch Einsetzen des Wertes x₀ in die Variable x:
- VI)
Einsatz der Werte:
Ermittlung des Krümmungsradius:
- III)
Ermittlung der Distanz des Scheitelpunkts zur Säule g:
- IV)
Ermittlung des y₀-Wertes:
- V)
Ermittlung des y(x₀)-Wertes:
- VI)
Folglich gehorcht die Kettenkurve folgender Funktion:
Antwort:
Der Scheitelpunkt ist 1,198 m weit von der Säule g entfernt und steht 0,339 m hoch.
Beziehungen zu anderen Funktionen
Parabel
Joachim Junge wies 1639 nach, dass die Kettenlinie keine Parabel ist. Gottfried Leibniz, Christiaan Huygens und Johann I Bernoulli fanden 1690/91 heraus, wie die Kettenkurve zu bilden ist.[1] Die Parabel stellt sich ein bei einer gleichmäßig über die Spannweite x verteilten Streckenlast, z. B. einer Hängebrücke, bei der das Gewicht der Seile gegenüber dem der Fahrbahn vernachlässigt werden kann. Die Abbildung rechts vergleicht den Kurvenverlauf einer Kettenlinie (rot) mit einer Normalparabel (grün).
Katenoid
Die durch Rotation der Kettenlinie um die x-Achse erzeugte Rotationsfläche wird als Katenoid bezeichnet und ist neben der Ebene die einzige Rotationsfläche, die auch eine Minimalfläche ist:
Hält man zwei Ringe nebeneinander und taucht sie in eine Seifenlösung, um sie mit einer Seifenhaut zu überziehen, so bildet sich ein Katenoid zwischen den Ringen aus.
Anwendungen in der Architektur
Einer der Kettenlinie analoge Stützlinie folgt der scherkräftefreie Bogen:
- Die Nubische Tonne, ein Tonnengewölbe, ist eine Variante des Nubischen Gewölbes, einer Gewölbebauweise im Lehmbau ohne Schalung und häufig ohne Lehren, die ihren Namen von traditionellen Bauformen in Nubien hat. Um die größtmögliche Stabilität zu erreichen, folgt die Stützlinie in der Regel der Kettenlinie.
- Ein frühes europäisches Beispiel ist die nach Plänen von Christopher Wren nach 1666 erbaute, im Durchmesser 30,80 m messende Kuppel der St Paul’s Cathedral in London.[2] Zwischen eine äußere und innere hölzerne Halbkugel ließ er ein Katenoid legen, das die Schwere der Laterne aufnahm, aber selbst ein geringeres Baugewicht ermöglichte. Die Kurve wurde damals noch empirisch angenähert.
- Auguste de Montferrand transformierte die Kuppel Wrens in der St. Paul's Cathedral im Bau der Eisenkuppel der Isaakskathedrale in Sankt Petersburg (1838–1841) und nutzte mit Eisen ein neues Medium im Bau. Montferrands Eisenkuppel wurde selbst Vorbild für die Eisen-Kuppel des Kapitols in Washington (1855–1866).[3]
- Der Querschnitt des Daches des Bahnhofs Budapest Ost (Keleti) (Ungarn) bildet eine Kettenlinie. Erbaut von 1881/84. Konstrukteur: János Feketeházy.
- Antoni Gaudí nutzte häufiger das darauf fußende Konstruktionsprinzip, unter anderem bei der Sagrada Família in Barcelona. Das Modell der ähnlichen Kirche der Colònia Güell wurde ebenfalls empirisch ermittelt, nämlich „kopfüber“ durch hängende Schnüre mit entsprechenden Gewichten (um 1900; Original in einem Brand verloren)
- Die Stützline des 192 m hohen Gateway Arch in St. Louis (Fertigstellung 1965) ist durch die unterschiedliche Stärke des Bogens keine echte Kettenlinie.[4]
Fotos
- Experiment: stehende Kettenlinie
- Bau eines Brennofens
- Sheffield Winter Garden
- Architekturmodell von Gaudí
- Querschnitt des Daches des Ostbahnhofs in Budapest (Ungarn)
- Variation des Parameters a, oder verschieden voneinander entfernte Aufhängungspunkte
- Zeichnung von Christiaan Huygens
- Die Seile von Freileitungen folgen der Kettenlinie
- Spinnenfäden folgen ungefähr der Kettenlinie, hier durch Tautropfen betont
- Drei Ketten umranden eine Kettenlinienfigur (analog zum Arbelos)
Siehe auch
Weblinks
Einzelnachweise
- Edward Harrington Lockwood: A book of curves. Cambridge University Press, 1971, S. 124.
- Karl-Eugen Kurrer: Geschichte der Baustatik, S. 141
- Fedorov (PDF; 6,2 MB), In: Bautechnikgeschichte.files.wordpress.com
- P. Will: Ketten- und Stützlinien (PDF; 4,6 MB), Berechnungsverfahren, In: me.HS-Mittweida.de. Abgerufen im Oktober 2020.