Hängetrauma
Der Begriff Hängetrauma beschreibt einen potenziell lebensbedrohlichen Schockzustand, welcher bei längerem bewegungslosen freien Hängen in einem Gurtsystem auftreten kann. Die erzwungene aufrechte Körperhaltung (Orthostase) führt hierbei durch die Schwerkraft zum „Versacken“ des Blutes in herabhängenden Körperteilen. Das Hängetrauma ist als Krankheitsbild erst seit den 1970er Jahren bekannt.
Klassifikation nach ICD-10 | |
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R57 | Schock |
R57.1 | Hypovolämischer Schock |
R57.8 | Sonstige Formen des Schocks |
R57.9 | Schock, nicht näher bezeichnet |
ICD-10 online (WHO-Version 2019) |
Ursache
Ursächlich sind heutzutage meist Unfälle, bei denen der Patient anschließend längerfristig bewegungslos aufrecht in einem Gurtsystem hängt. Mögliche Ursachen für ein regungsloses Verharren können beispielsweise Erschöpfung, Unterzuckerung, Unterkühlung, technische oder psychische Probleme oder auch ein Schädel-Hirn-Trauma sein. Gefährdet sind nicht nur Fallschirmspringer, Bergsportler, oder Gleitschirm- bzw. Drachenflieger, sondern vor allem erwerbstätige Höhenarbeiter und PSAgA-Anwender.[1][2]
Krankheitsentstehung
Normale orthostatische Reaktion
Wenn ein Mensch seine Körperlage vom Liegen zum Stehen ändert, „versacken“ unter normalen Bedingungen bis zu 600 ml Blut (bei Vorliegen von Krampfadern auch deutlich mehr) schwerkraftbedingt in den venösen Kapazitätsgefäßen der Beine.
Dadurch vermindern sich kurzzeitig Herzminutenvolumen und arterieller Blutdruck. Die Gegenregulation des Körpers (Orthostase-Reaktion) besteht in einer Verengung der Blutgefäße, Steigerung von Herzfrequenz und Katecholaminausschüttung, sowie in einer Aktivierung des Renin-Angiotensin-Aldosteron-Systems mit dem Ziel, den Blutdruck wieder zu steigern. Synergistisch wirkt die Anregung der Muskelpumpe der Beine beim Stehen oder Gehen. Lokale Selbstregulationsmechanismen der Blutgefäße des Gehirns kompensieren dort einen kritischen Abfall der Durchblutung. Ist die Wirkung dieser Gegenregulation jedoch nicht ausreichend und die Durchblutung des Gehirns dadurch empfindlich reduziert, treten Schwindel oder gar Ohnmacht (orthostatische Synkope) auf. Unter Normalbedingungen verlässt die betroffene Person dabei unverzüglich die aufrechte Körperposition und setzt sich hin oder stürzt, wodurch sich die schwerkraftbedingten Veränderungen kurzfristig deutlich vermindern. Das Auftreten eines orthostatischen Schockzustandes ist unter diesen Bedingungen nicht zu erwarten.[3]
Entstehung des Hängetraumas
Beim freien Hängen in einem Gurtsystem ist einerseits im Falle einer Überforderung (Dekompensation) der orthostatischen Gegenregulationsmechanismen (Auftreten einer orthostatischen Synkope) eine Änderung der aufrechten Körperposition und damit eine Rückbildung der schwerkraftbedingten Veränderungen in aller Regel nicht möglich und andererseits fehlt dabei auch ein „Gegendruck“ auf die Füße, um den venösen Rückfluss durch eine Anregung der Muskelpumpe zu verbessern und damit das Herzschlagvolumen zu erhöhen. Im weiteren Verlauf „versackt“ das Blut zunehmend in den herabhängenden Körperteilen, wodurch längstens binnen einer halben Stunde ein lebensbedrohlicher (orthostatischer) Schock und eine anhaltende Sauerstoffminderversorgung des Gehirns eintreten.[1][4]
Erschwerend können schwerkraftbedingte Einschnürungen der Extremitäten durch das Gurtsystem im Sinne eines unblutigen Aderlasses oder gar eines Tourniquet-Syndromes und eine Varikosis hinzu kommen.[5][6]
Letztlich entwickelt sich also eine Umverteilung des Blutes, die anfänglich zwar lediglich zu einer Überforderung der orthostatischen Gegenregulationsmechanismen des Körpers führt, in deren weiterem Verlauf jedoch ein so relevanter funktioneller Volumenmangel entsteht, dass sich ein Schockzustand in lebensbedrohlichem Ausmaß entwickelt.[6]
Symptome
Die Zeit bis zum Auftreten erster Symptome ist interindividuell sehr unterschiedlich. Sie können bereits nach wenigen Minuten, in der Regel jedoch spätestens nach 20 Minuten freien Hängens auftreten. Typisch sind dabei Blässe, Schwitzen, Kurzatmigkeit, Sehstörungen, Schwindel, Übelkeit, Blutdruckabfall und Taubheit der herabhängenden Beine.[4][5][6]
Therapie
Präventiv ist ein geeignetes Gurtsystem zu verwenden, das bei freiem Hängen weder die Atmung beeinträchtigt noch die Extremitäten abschnürt. Zusätzlich werden als Notfallausrüstung Seilschlaufen empfohlen. In diese kann der Verunfallte seine Füße stecken und sich dann mit den Beinen abstützen, um die Funktion der Muskelpumpe anzuregen. Diese Maßnahmen sind in der Anfangsphase auch therapeutisch einsetzbar. Entscheidend ist jedoch, den Patienten so schnell wie möglich aus der freihängenden Position zu retten.[4][6]
Da es sich beim Hängetrauma um ein Schockgeschehen handelt, ist es ein notfallmedizinisches Krankheitsbild (→ Schock). Die frühere Empfehlung den Patient anfänglich aufrecht zu Lagern um einen Bergungstod zu vermeiden[4][6][7] wurde aufgrund neuerer Erkenntnisse abgelöst durch die Empfehlung einer initialen Flachlagerung mit unverändertem cABCDE-Algorithmus.[8]
Allgemeine Bedeutung
Das Hängetrauma ist ein seltenes Ereignis; seine Bedeutung wird unterschiedlich eingeschätzt. Berufsgenossenschaften sehen die Notwendigkeit, insbesondere in der Prävention (Arbeitsschutz) tätig zu sein.[1][4][9][10][5][11] Etwa 20 dokumentierte Fälle, bei denen als Todesursache alleinig ein Hängetrauma anzunehmen ist, stammen aus den 1960er und 1970er Jahren.[9][6] Lee et al. stellten daher die Frage, ob das Hängetrauma bei Anwendung moderner Gurtsysteme konkret oder lediglich als „theoretisches Risiko“ einzuschätzen ist und fordern weitere Forschungsprojekte.[12] Auch auf als sicher geltenden Baustellen wird in Einzelfällen von Unfällen berichtet, bei denen ein Hängetrauma als (Beinahe-)Todesursache naheliegt.[13] Beim (Sport-)Klettern wird das Hängetrauma als eine sehr seltene Komplikation betrachtet,[14] nach Aussagen des Deutschen Alpenvereins gibt es jedoch über Unfälle in diesem Bereich keine exakten Statistiken.[15]
- Sport- und Arbeitsmedizin
Heutzutage spielt das Hängetrauma vornehmlich bei Unfällen über die notfallmedizinischen Aspekte hinaus eine Rolle. Geeignete Prävention und Therapie können grundsätzlich in vielen Fällen lebensrettend sein. Das Hängetrauma spielt daher sowohl in der Sport- als besonders auch in der Arbeitsmedizin eine Rolle.
- Hinrichtungen
A crucifixion victim would be in exactly the right position and situation to suffer excessive venous pooling and orthostatic shock: upright with no movement of the legs. (Zitat von[6])
Die Kreuzigung war in der Vergangenheit eine verbreitete Form der Hinrichtung. Die Betroffenen wurden dabei frei hängend in aufrechter Körperposition fixiert. In der Theologie wird das Hängetrauma als Ursache für den Tod Jesu am Kreuz diskutiert.[16]
Begriffsabgrenzung
Als Todesursachen beim Hängen gelten die Kompression der Halsweichteile mit möglicher Unterbindung der Gehirndurchblutung, Reizung des Sinus caroticus oder Ersticken sowie selten auch die „Hanged man’s fracture“ (Bogenfraktur der Axis mit Spondylolisthesis und möglicher Kompression der Medulla oblongata).[17]
Erstbeschreibung
Der französische Arzt und Höhlenforscher Maurice Amphoux gilt als Erstbeschreiber des Hängetraumas. In den 1970er Jahren waren ihm ungeklärte Todesfälle unter Höhlenforschern aufgefallen, die nach einem zunächst harmlos wirkenden Absturz gestorben waren. Wenn es auch bereits Ende der 1960er Jahre erste Versuche mit frei hängenden Personen gegeben hatte, so war er es, der als Erster die These aufstellte, dass ursächlich für den zum Teil fatalen Ausgang eines Hängetraumas Herz-Kreislaufprobleme („Kreislaufschock“) sind.[9][6]
Siehe auch
Einzelnachweise
- Harald Dippe: Entwicklung eines Ausbildungskonzeptes für seilunterstütztes Retten im Bergbau. GRIN Verlag, 2007, ISBN 3-638-82129-3, S. 8, books.google.de
- Great Britain: H.M. Fire Service Inspectorate: Fire and Rescue Service Manual. The Stationery Office, 2006, S. 9ff., ISBN 0-11-341312-2, books.google.com
- Ch. Hick et al.: Intensivkurs Physiologie. Urban&FischerVerlag, 2006, ISBN 3-437-41892-0, S. 89ff., books.google.de
- Notfallsituation: Hängetrauma. (PDF) Fachausschuß „Erste Hilfe“ der Deutschen Gesetzlichen Unfallversicherung; abgerufen 1. Februar 2009
- Suspension Trauma/Orthostatic Intolerance. (Memento vom 11. Mai 2008 im Internet Archive) U. S. Department of Labor Safety and Health Information Bulletins; abgerufen 2. Februar 2009
- P. Seddon: Harness suspension: review and evaluation of existing information. (PDF; 1,0 MB) In: Health and Safety Executive - Contract Research Report 451/2002.
- H. von Hintzenstern et al.: Notarzt-Leitfaden. Urban&FischerVerlag, 2004, ISBN 3-437-22461-1, S. 116, books.google.de
- Raimund Lechner, Enrico Staps, Hermann Brugger, Simon Rauch: Rettungsdienstliche Strategie beim Hängetrauma in retten! -Ausgabe 05 - Volume 8 - November 2019. Georg Thieme Verlag KG Stuttgart, S. 113ff,
- W. Dieker: Scheinbar gerettet – Das Hängetrauma, eine zu wenig bekannte tödliche Gefahr. Berufsgenossenschaft Nahrungsmittel und Gaststätten; abgerufen 2. Februar 2009
- Arbeiten mit Auffanggurt. (Memento vom 28. Oktober 2007 im Internet Archive) (PDF) In: Unfall-stop, Berufsgenossenschaft Handel- und Warendistribution, 2/März 2006, S. 8–9.
- Absturzsicherung – Hochmut kommt vor dem Fall. (Memento vom 14. September 2008 im Internet Archive) ARD - Ratgeber Technik, 8. September 2007
- C Lee et al.: Suspension trauma. In: Emerg Med J. 2007 Apr, 24(4), S. 237–238, PMID 17384373.
- R Clemens: Aus bitterer Erfahrung lernen – Der Baustellenunfall von Grevenbroich-Neurath. (Memento vom 30. Mai 2009 im Internet Archive) (PDF) In: gute Arbeit, 12/2007, S. 29–30; abgerufen 6. Februar 2009
- V. Schöffl: Der Kampf an der Wand. In: medicalsports network, 4/08, succidia Verlag, S. 44–46, ZDB-ID 2417844-5
- M. Schieferecke: Kletterer nach Sturz in Lebensgefahr. Stuttgarter Zeitung-Online vom 25. Juli 2008, stuttgarter-zeitung.de (Memento vom 9. März 2009 im Internet Archive); abgerufen 7. Februar 2009
- P. Bishop: An Alternative Mechanism For Death by Crucifixion. In: Linacre Quarterly, Catholic Medical Association, August 2006, S. 282–289, ISSN 0024-3639, pdf
- Hamid Abdolvahab-Emminger: Exaplan. Urban&FischerVerlag, 2007, S. 2348, ISBN 3-437-42462-9, books.google.de