Grönländische Literatur
Die grönländische Literatur ist die in grönländischer Sprache verfasste Literatur der Inuit oder Dänen oder der Nachfahren von Verbindungen von Inuit und Dänen, die in Grönland leben.
Vorgeschichte
Die mündliche Kultur und die Erzähltradition der Polarvölker von Grönland bis zur Tschuktschen-Halbinsel standen über lange Zeit hinweg in einem engen Zusammenhang. Erst durch die dänische Kolonisation und Mission wurde Grönland seit dem 18. Jahrhundert enger an Dänemark gebunden. Die in diesem Kontext entstandene grönländische Literatur ist also ein recht neues Phänomen und zählt zu den jüngsten nordischen Literaturen; zugleich knüpft sie an uralte Erzählformen und Mythen an. So entsteht eine Hybridliteratur: Es gibt Grönländer, die in dänischer Sprache und Dänen, die in grönländischer Sprache schreiben.
Durch die schriftliche Fixierung (und erst recht durch die Übersetzung in europäische Sprachen) gingen und gehen wichtige Merkmale des Gesprochenen bzw. im monotonen Sprech- und Trommelgesang Mitgeteilten verloren; der schriftliche Ausdruck erfährt gegenüber dem Hörerlebnis einen deutlichen „Stimmungsverlust“, was nur schwer auszugleichen ist. Die grönländischen Mythen handeln von kosmischer Schöpfung und Naturkräften, von Menschen mit übernatürlichen Fähigkeiten, Schamanen, Geistern und Riesen, die Alltagserzählungen spiegeln das traditionelle raue Leben der Inuit, wobei beide Welten eng verflochten erscheinen.
Kennzeichnend für die Inuitkultur ist nach Anna Kim eine gewisse „Spurenlosigkeit“:[1] Alles wird verwertet, nichts konserviert außer in der mündlichen Erzählung.
Die christliche Indoktrination durch die dänische lutherische Kirche und die Herrnhuter Mission in Grönland (diese bestand von 1731 bis 1900) mit dem Verbot des Trommelgesangs, unfairem Handel, Zwangsehen und in neuerer Zeit Alkoholismus und Zwangsumsiedlungen löschten das traditionelle Wissen der Inuit fast aus. Den Trommelgesang, der häufig mit Tanz verbunden war und beim Sängerstreit zur Konfliktbeilegung oder von Schamanen gepflegt wurde, ersetzte man durch Psalmengesang.[2]
Frühe grönländische Literatur
Eine grönländische Schriftsprache existiert in standardisierter Form erst seit etwa 150 Jahren. Poul Egede, der Sohn des lutheranischen Missionars und erbitterten Gegners des Trommelgesangs Hans Egede, entwickelte Mitte des 18. Jahrhunderts eine Bibel für Grönländer in einer dänisch-grönländischen Mischsprache – ein frühes Beispiel für die künstliche Hybridisierung von Sprache und Literatur.
Ab Mitte des 19. Jahrhunderts wurde eine rein grönländische Schriftsprache für Bibel- und Psalmenübersetzungen entwickelt. Das Neue Testament wurde zuerst von Konrad Kleinschmidt ins Grönländische übersetzt. Sein Sohn, der Missionar Samuel Kleinschmidt, ließ 1851 die erste Grammatik der grönländischen Sprache in Berlin drucken. Der von ihm angestoßenen Standardisierung der Sprache liegt der zentrale Dialekt von Westgrönland zugrunde. Das verhindert allerdings bis zur heutigen Zeit, dass sich Grönländer aus Thule im Norden oder aus Ostgrönland in der Schriftsprache profilieren konnten.[3] Der erste Verlag mit Druckerei wurde 1857 gegründet; Atuagagdliutit, die erste Zeitung (anfänglich nur ein Blatt umfassend, später aber auch mit Abdruck europäischer Klassiker) erschien 1861. Im gleichen Jahr veröffentlichte der Missionar Carl Janssen (1813–1884) die erste Weltgeschichte in grönländischer Sprache (Silamiut ingerdlausiánik, „Der Fortschritt der Menschheit“, Nachdruck 2012). Das erste Wörterbuch erschien 1871, doch die Alphabetisierung vollzog sich nur sehr langsam.
Mündliche Erzählungen wurden zuerst von dem Missionar Peder Kragh 1823–1828 in Nordgrönland, von dem Amtmann Hinrich Johannes Rink 1858–1868 an der Westküste und von Knud Rasmussen[4] 1900–1920 im zentralen Westgrönland gesammelt. Dem Jäger Jakob Danielsen (1888–1938), der sich autodidaktisch zum Maler fortbildete und selbst Geschichten erzählte, gelang es, die Stimmung und Dramatik der Sagen und die Mimik und Gestik der Erzähler, die ihre Helden imitierten und dabei das Publikum einbezogen, in seinen Bildern, die zudem mit ausführlichen Erklärungen versehen waren, zu vermitteln. Der Erzähler Jens Kreutzmann (1828–1899) und der Maler Aron von Kangeq (1822–1869) waren mit der Schriftsprache vertraut und vermittelten teils von ihnen selbst illustrierte Erzählungen, die bis heute nicht ins Deutsche übersetzt wurden. Rasmus Berthelsen (1827–1901) verfasste als Erster Kirchenlieder in grönländischer Sprache und grönländischem Rhythmus mit ständigen Variationen und sich steigernder Intensität, also ähnlich wie beim Trommelgesang.
Das frühe 20. Jahrhundert
Der Beginn des 20. Jahrhunderts war eine Zeit des intellektuellen Aufbruchs und der Identitätsfindung, in der eine einheimische Bildungselite begann, Europa zu bereisen und sich schriftstellerisch zu betätigen.[5] Der erste und zugleich erste politische grönländische Roman, Sinnattugaq („Der Traum eines Grönländers“, 1914), zeichnet offen den zerrütteten Zustand und die Bildungsdefizite der grönländischen Gesellschaft. Sein Held entwirft im Traum eine Vision für das Jahr 2105, greift also 200 Jahre voraus.[6] Der Verfasser dieses Buches war der in Nordgrönland wirkende Pastor Mathias Storch (1883–1957). Augo Lynge (1899–1959) folgte mit einem weiteren politischen Roman sowie mit Novellen. Der Katechet Josva Kleist (1879–1938) und der Pastor, Maler, Komponist und Naturlyriker Henrik Lund (1875–1948) setzten die Tradition der Kirchenlieddichtung mit aufgeklärt-moralischem Impetus fort. Lunds Gedicht Unser Land, so uralt du bist von 1912 war eine Aufforderung zur Öffnung des Landes gegenüber den Herausforderungen der Technik und erhielt später den Status der offiziellen Nationalhymne, die von dem Musiker, Dichter und Sprachwissenschaftler Jonathan Petersen (1881–1961) komponiert wurde.
In den 1930er und 1940er Jahren orientierte sich eine Generation grönländischer Autoren verstärkt an der europäischen Literatur und ihren Formen:[7] Romane, Erzählungen und Theaterstücke im Stil der dänischen nationalromantischen Schule verfassten Pavia Petersen (1904–1943), Frederik Nielsen („Fari“, 1905–1991), der die erste Sammlung grönländischer Gedichte herausgab, die nicht zum Gesang bestimmt waren, und der von der christlichen Ethik wie von Werten der Inuit beeinflusste Hans Lynge (1906–1988), auch bekannt als Maler des „grönländischen Impressionismus“ und Bildhauer.[8]
Gesellschaftliche Modernisierung seit 1950 und ihre Reflexe in der Literatur
In den 1950er und 1960er Jahren wurde verstärkt die Modernisierung, Verstädterung und Öffnung gegenüber der Außenwelt reflektiert, die mit der größeren Autonomie von 1953 einhergingen. Bis dahin war das Land von der Außenwelt abgeschirmt. Nun wurde die Jagd von der industrialisierten Fischerei abgelöst, die grönländische Sprache wurde durch englische Lehnworte bereichert, die restlose Verwertung der Naturstoffe durch die Wegwerfgesellschaft ersetzt. Durch die Beendigung des Kolonialstatus 1953 wuchs zugleich der kulturelle Assimilationsdruck z. B. durch den vorgeschriebenen Gebrauch der dänischen Sprache in offiziellen Angelegenheiten.
Die grönländischen Autoren reagierten teils mit nostalgischer Rückbesinnung auf traditionelle grönländische Traditionen. Tänze und Performances. Zu ihnen gehörten einige Pfarrer, die in abgelegenen Landesteilen wie in Thule oder Ostgrönland ihren Dienst verrichtet hatten und nun mit der Modernisierung Westgrönlands konfrontiert wurden. Sie versuchten, die mündlich tradierten Geschichten dieser Regionen zu bewahren, in denen Schamanen und Geisterbeschwörung eine große Rolle spielen. Zu nennen sind Otto Rosing (1896–1965) und sein Sohn Jens Rosing (1925–2008), die beide auch als Maler und Illustratoren tätig waren, ferner Villads Villadsen (1916–2006) und Otto Sandgreen (1914–1999). Später mehrten sich scharfe Sozial- und Zivilisationskritik, vertreten durch den Schriftsteller und Politiker Moses Olsen (1938–2008), die beiden schreibenden Aktivisten der für die Autonomie kämpfenden Partei Inuit Ataqatigiit (IA), Jens Geisler (1951–2010) und Aqqaluk Lynge (* 1947) sowie den Maler, Illustrator, Lyriker und Erzähler Kristian Olsen Aaju (1942–2015). Zu dieser Strömung, die durch die Studentenbewegung und den Existenzialismus beeinflusst wurde und gegen dänischen Einfluss und Entfremdung opponierte, gehörte auch der in Grönland als Autor sehr beliebte ehemalige Lehrer und Redakteur Hans Anthon Lynge (* 1945). Auch Hans Lynge beteiligte sich noch in höherem Alter an dieser Identitätssuche und publizierte eine große Tetralogie zur Geschichte der Grönländer von der Einwanderung aus Kanada bis zur Gegenwart (1970–1988).
In den 1980er Jahren artikulierten sich auch die ersten grönländischen Frauen literarisch, so zuerst die Tochter von Josva Kleist Maaliaaraq Vebæk (1917–2012, Trägerin des grönländischen Kulturpreises 2001) mit den Romanen Bussimi naapinneq (1981) und Drømmen om det store hvide hus (1982), die auch ins Russische übersetzt wurden, sowie die Übersetzerin und Kommunalpolitikerin Mariane Petersen (* 1937) mit einer 1988 erschienenen Gedichtsammlung und dem epischen Gedicht Inuiaat nunaallu (1993) über die Geschichte Grönlands.
Mit dem erweiterten Autonomiestatus von 1979 schwächte sich die Polarisierung zwischen den Vertretern einer „echten“ grönländischen Identität und der kolonialen dänischen Präsenz ab. Nicht mehr alle Probleme Grönlands werden als Folgen der Fremdherrschaft angesehen, die Identitätsdiskussion verlor ihre Brisanz. Zu den „postkolonialen“ Autoren gehört der in Kopenhagen lebende Ole Korneliussen (* 1947) mit seinem Roman Tarrarssuumi tarraq (1999; „Schatten im Spiegel“, dänisch: Saltstøtten).
Der Lyriker, Prosaist und Drehbuchautor Hans Anthon Lynge, Träger des Kulturpreises 1999 und des dänischen Übersetzerpreises 2010, betrachtet in seinem Briefroman Allaqqitat („Bekenntnisse“, 1997) die Frage der grönländischen Identität als offen; jedenfalls sei sie nicht durch Rückgriff auf ethnische Präferenzen und Traditionen zu beantworten.
Eine neue Generation
Auch für jüngere Autoren wie die Lyrikerin, Performance-Künstlerin und Malerin Jessie Kleemann (* 1959)[9] und den Autor Kelly Berthelsen (* 1967) stellt sich immer wieder die Frage nach dem Umgang mit der Tradition beim Aufbau eines modernen Nationalstaats, der sich noch in einer postkolonialen Phase befindet – darin vergleichbar der samischen oder färöischen Literatur.[10]
Immer mehr Autoren schreiben jedoch auch in englischer oder dänischer Sprache oder lassen ihre Bücher mit Blick auf den internationalen Buchmarkt übersetzen. Im Ausland bekannt wurden zuerst grönländische Singer und Songwriter wie Angu Motzfeldt (* 1976), der seine Texte in englischer Sprache schrieben.
Mit Aima der 1981 geborenen grönländischen Künstlerin Bolatta Silis-Høegh erschien 2018 erstmals ein grönländisches Kinderbuch in deutscher Sprache.[11] Niviaq Korneliussen (* 1990) schrieb ihren Debütroman HOMO sapienne (2014) über Homosexualität, Liebe, Alkohol und Identität; der Text ist mit dänischen und englischen Textschnipseln, SMS-Mitteilungen und facebook-Einträgen übersät.[12] Mit einer Druckauflage von 2000 Exemplaren in grönländischer und 1000 in dänischer Sprache wurde das Buch ein Bestseller für das Land.
Zu den etwa 13.000 Grönländern, die außerhalb der Insel leben, zählt Ivalo Frank. Sie wurde als Kind dänischer Eltern in Grönland geboren und lebt als Filmemacherin und freie Autorin in Berlin und Kopenhagen.
Kennzeichnend für viele Künstler ist das Zusammenwirken von Sprache, Musik, Tanz und Malerei. Auch Spielfilme werden seit 2008 in grönländischer Sprache gedreht.
Verlage und Buchmarkt
Grönland verfügt mit Atuagkat über einen Verlag, der Bücher auf Grönländisch herausgibt. Der Verlag Atuakkiorfik musste 2009 seine Arbeit einstellen. Heute erscheinen einschließlich der Übersetzungen aus anderen Sprachen pro Jahr etwa 120 Buchtitel mit einer Auflage von jeweils 1000 bis 2000 Exemplaren. Belletristik macht nur einen kleinen Teil davon aus. Als einziges Kunst- und Kulturmagazin konnte sich Neriusaaq („Der Regenbogen“) durchsetzen, das seit Beginn der 1990er Jahre erscheint.[13]
Einzelnachweise
- Anna Kim: Invasionen des Privaten. Droschl, Graz 2011, ISBN 978-3-85420-781-8.
- Langsames Tauwetter in ewigem Eis. Literarische und dokumentarische Perspektiven auf die Arktis. In: Neue Zürcher Zeitung, 3. September 2005. Abgerufen am 6. Juni 2014.
- K. Thisted, 1986, S. 343
- K. Rasmussen, Schneehüttenlieder. Eskimoische Gesänge. Übertragen und herausgegeben von Aenne Schmücker. Essen / Freiburg i. Br. 1947 (dän. Ausgabe Kopenhagen 1930), Neuausgabe: Grönlandsagen, Salzwasser-Verlag Paderborn, ISBN 978-3-8460-0273-5.
- Ebbe Volquardsen: Die Anfänge des grönländischen Romans: Nation, Identität und subalterne Artikulation in einer arktischen Kolonie. 2012.
- Digitalisat der Erstausgabe: Mathias Storch: Singnagtugaк. Rosenberg, København 1914. (PDF; 30,81 MB).
- Martin Banham: The Cambridge Guide to Theatre. Cambridge University Press 1995, S. 451.
- http://www.greenland.com/en/about-greenland/kultur-sjael/kunst/hans-lynge.aspx
- http://www.greenland.com/en/about-greenland/kultur-sjael/kunst/jessie-kleemann.aspx
- J. Clauser 2016, S. 508.
- https://www.kullerkupp-kinderbuch.com/gute-kinderbuecher/aima/
- Biographische Daten auf www.nordicwomensliterature.net
- J. Clauser 2016, S. 508.
Literatur
- Jürg Clauser: Grönländische Literatur. In: Ders. (Hrsg.) Skandinavische Literaturgeschichte. Stuttgart 2016, S. 508–527.
- Kirsten Thisted, Grönländische Literatur. In: Kindlers neues Literatur-Lexikon, München 1996, S. 343–347.
- Louis L. Hammerich: Die Eskimo-Literatur. In: Kindlers Literatur Lexikon im dtv. Band 2. Deutscher Taschenbuch Verlag, München 1974, ISBN 3-423-03142-5, S. 585–590.
- Kirsten Thisted: Hvem går qivittoq? Kampen om et litterært symbol eller relationen Danmark – Grønland i postkolonial belysning. In: Tijdschrift voor Skandinavistiek. Nr. 2/2004, ISSN 0168-2148.
- Moritz Schramm, Suche nach Identität. Zur grönländischen Gegenwartsliteratur, in: Muschelhaufen Nr. 45, 2005, ISSN 0085-3593. Zugriff 4. Juni 2014
- Ebbe Volquardsen: Die Anfänge des grönländischen Romans. Tectum, Marburg 2011, ISBN 978-3-8288-2812-4.
- Christian Berthelsen: Greenlandic Literature. In: Dirmid R. F. Collis (Hrsg.): Arctic Languages. An Awakening. Unesco, Paris 1990, ISBN 92-3-102661-5, S. 343–353.