Gottgläubig
Gottgläubig diente zur Bezeichnung einer „Religionszugehörigkeit“ in der Zeit des Nationalsozialismus. Diese war durch Erlass des Reichsinnenministeriums vom 26. November 1936 auf den Melde- und Personalbögen der Einwohnermeldeämter sowie bei Personalpapieren für aus einer Kirche ausgetretene Personen anstelle der Bezeichnungen „Dissident“ und „konfessionslos“ eingeführt worden.[1] Als gottgläubig galt, wer sich von den anerkannten Religionsgemeinschaften abgewandt hatte, jedoch nicht glaubenslos war. Die Einführung des Begriffs war der „Versuch, eine religiöse Identifikationsformel für Nationalsozialisten jenseits der Kirchen und sonstigen Glaubensgemeinschaften zu schaffen“.[2] Das Beiwort bezeugte einen Kirchenaustritt und galt somit zum Beispiel im höheren Dienst des Auswärtigen Amts als „Ausweis besonderer ideologischer Nähe zum Nationalsozialismus“.[3] Dabei blieb es auch nach dem Ende der nationalsozialistischen Diktatur, als in Südbaden den bei der Entnazifizierung aus dem Schuldienst entlassenen Lehrern mit NS-Vergangenheit wegen ihrer „Gottgläubigkeit“ im Jahr 1950 die Wiedereinstellung verweigert wurde.[4]
Zur Geschichte des Begriffs im Nationalsozialismus
Nachdem es nach der Machtergreifung zu zahlreichen Kircheneintritten in Deutschland gekommen war, wendete sich 1936 durch die Verhärtung der Fronten im Kirchenkampf das Blatt. Im geistigen Zentrum dieser Kirchenaustrittsbewegung standen unter anderem die kirchenkritischen Schriften des Parteiideologen Alfred Rosenberg[5] sowie diejenigen von Erich und Mathilde Ludendorff. Das Wort „gottgläubig“ beschrieb eine Person mit großer ideologischer Nähe zum Nationalsozialismus.[3]
Das Beiwort „Gottgläubige“ wurde neben „Angehörige einer Religionsgemeinschaft oder Weltanschauungsgemeinschaft“ und „Gottlose“ anstelle der Begriffe „Dissident“ oder „konfessionslos“ verwendet und war gemäß Philosophischem Wörterbuch von 1943 definiert als „amtliche Bezeichnung für diejenigen, die sich zu einer artgemäßen Frömmigkeit und Sittlichkeit bekennen, ohne konfessionell-kirchlich gebunden zu sein, andererseits aber Religions- und Gottlosigkeit verwerfen“.[6]
Da die Zugehörigkeit zu einer Religionsgemeinschaft wie auch „Freidenkertum“ im Nationalsozialismus nicht als karrierefördernd galt, bot die amtliche Bezeichnung „gottgläubig“ für konfessionslose Nationalsozialisten einen Ausweg, um so zu dokumentieren, dass man durch einen Kirchenaustritt nicht automatisch „ungläubig“ wurde.[7] Das Freidenkertum wurde schärfstens bekämpft. Die Freidenkerverbände wurden verboten, ihr Vermögen wurde eingezogen und hohe Funktionäre ins Gefängnis geworfen.
Formen und Verbreitung der Gottgläubigkeit
Die nationalsozialistischen Machthaber standen christlichen Überzeugungen meist kritisch und ablehnend gegenüber. Jedoch trat nur Rosenberg – als einziger NS-Politiker der ersten Garde – nach der Machtübernahme, am 15. November 1933, aus der Kirche aus.[9]
Die Macht der Kirche durch die feste Verankerung des christlichen Glaubens in großen Bevölkerungsteilen konnte jedoch nicht ausgeblendet werden.[10] Im Verhältnis lagen die christlichen Kirchen in der Zeit des Nationalsozialismus hinsichtlich der Mitgliederzahl am Anfang wie am Ende bei nahezu 95 Prozent. Zur Volkszählung 1939 bezeichneten sich von den neben den Angehörigen der Großkirchen (94,5 Prozent) und Juden (0,4 Prozent) verbleibenden 5,1 Prozent etwa 3,5 Prozent als gottgläubig und circa 1,5 Prozent gaben an, glaubenslos zu sein. In die Restgruppe von rund 0,1 Prozent (86.423 Personen) begaben sich Personen, die „Angehörige einer Kirche, Religionsgesellschaft oder religiös-weltanschaulichen Gemeinschaft“ waren. Dazu zählte wiederum die „deutschgläubige Bewegung“.[11]
Zahlreiche Nationalsozialisten traten aus der Kirche aus und bezeichneten sich als gottgläubig. Beispielsweise gehörten drei Viertel der Abgeordneten des Großdeutschen Reichstages von 1943 keiner christlichen Kirche mehr an. In der SS und auch in bestimmten Stadtteilen Berlins, in denen viele Ministerialbeamte wohnten, war die Nichtkirchlichkeits-Rate überdurchschnittlich hoch. Genauere Zahlen, teilweise bis auf Gemeindeebene, lassen sich der Auswertung der Volkszählung von 1939 entnehmen, bei der ausdrücklich das Merkmal „gottgläubig“ angegeben werden konnte. Die Partei erfüllte zunehmend auch weltanschaulich-religiöse Funktionen und entwickelte rituelle Formen, die einer angeblichen rekonstruierten „germanischen“ Religion entlehnt wurden.[12] So wurde der Festkalender der Partei mit neuheidnischen quasi-religiösen Ritualen ausgestaltet.
Hitler selber vermied es bewusst, sich öffentlich als Gegner des Christentums zu exponieren, um die christliche Mehrheitsgesellschaft nicht vor den Kopf zu stoßen. Er blieb bis zu seinem Tod Mitglied der katholischen Kirche und verbot auch anderen bekannten Parteiführern wie Joseph Goebbels den Kirchenaustritt. "Schlichte Gemüter konnten daher den Eindruck gewinnen, der Kampf gegen die Kirchen sei nur das Anliegen einiger Radikaler und werde von Hitler nicht gebilligt."[13]
Kritik aus katholischer Sicht
Die katholische Kirche kritisierte den Begriff. So wird in der Enzyklika Mit brennender Sorge von Papst Pius XI. aus dem Jahr 1937 der Sprachgebrauch im nationalsozialistischen Deutschland kritisiert. Im ersten Hauptteil der Enzyklika wendet sich Pius XI. gegen die Verwendung des Begriffs „gottgläubig“. Wer in pantheistischer Verschwommenheit Gott mit dem Weltall gleichsetze, wer das düstere Schicksal an die Stelle des persönlichen Gottes rücke oder wer Rasse oder das Volk oder den Staat oder die Staatsform, die Träger der Staatsgewalt oder andere Grundwerte menschlicher Gemeinschaftsgestaltung zur höchsten Norm mache, gehöre nicht zu den Gottgläubigen. Denjenigen, die ihre Christenpflicht gegen ein angriffslüsternes, von einflussreicher Seite vielfach begünstigtes Neuheidentum erfüllten, spricht der Papst anerkennende Bewunderung aus.
„Wer nach angeblich altgermanisch-vorchristlicher Vorstellung das düstere unpersönliche Schicksal an die Stelle des persönlichen Gottes rückt, leugnet Gottes Weisheit und Vorsehung, die kraftvoll und gütig von einem Ende der Welt zum anderen waltet und alles zum guten Ende leitet. Ein solcher kann nicht beanspruchen, zu den Gottgläubigen gerechnet zu werden.“
Er wendet sich gegen die nationalsozialistische Rassenlehre:
„Dieser Gott hat in souveräner Fassung Seine Gebote gegeben. Sie gelten unabhängig von Zeit und Raum, von Land und Rasse. So wie Gottes Sonne über allem leuchtet, was Menschenantlitz trägt, so kennt auch Sein Gesetz keine Vorrechte und Ausnahmen. Regierende und Regierte, Gekrönte und Ungekrönte, Hoch und Niedrig, Reich und Arm stehen gleichermaßen unter Seinem Wort.“
Kuriosität nach 1945
Auch bei der Volkszählung 1946 konnten sich zumindest in der französischen Besatzungszone Bürger noch als „gottgläubig“ bezeichnen.[14][15]
Siehe auch
Literatur
- Cornelia Schmitz-Berning: Vokabular des Nationalsozialismus. Ausgabe 2, Verlag Walter de Gruyter, 2007, ISBN 978-3-11-092864-8. S. 281 ff. (Google Books).
- Heinz Boberach (Hrsg.): Berichte des SD und der Gestapo über Kirchen und Kirchenvolk in Deutschland 1934–1944. Matthias-Grünewald-Verlag, Mainz 1971.
- Wolfgang Dierker: Himmlers Glaubenskrieger. Der Sicherheitsdienst der SS und seine Religionspolitik 1933–1941. Diss.; Ferdinand Schöningh, Paderborn 2002.
- Herbert Rätz: Die Religion der Reinheit – Reformbewegung, Okkultismus und Nationalismus. Geschichte und Struktur einer Alltagsreligion. Conte-Verlag, Saarbrücken 2006.
- Harald Iber: Christlicher Glaube oder rassischer Mythus. Die Auseinandersetzung der Bekennenden Kirche mit Alfred Rosenbergs „Der Mythus des 20. Jahrhunderts“; Peter Lang, Frankfurt/Main 1987.
- Pius XI., 1937: Enzyklika „Mit brennender Sorge“ an die Erzbischöfe und Bischöfe Deutschlands und die anderen Oberhirten, die in Frieden und Gemeinschaft mit dem apostolischen Stuhl leben, über die Lage der katholischen Kirche im deutschen Reich vom 14. März 1937 (deutschsprachiger Originaltext auf der Internetseite des Vatikans).
- Michael Prinz, Rainer Zitelmann (Hrsg.): Nationalsozialismus und Modernisierung. Wissenschaftliche Buchgesellschaft, Darmstadt 1991.
- Frank Schnoor: Mathilde Ludendorff und das Christentum: eine radikale völkische Position in der Zeit der Weimarer Republik und des NS-Staates. Deutsche Hochschulschriften, Kiel 1998, ISBN 3-8267-1192-0.
- Friedrich Zipfel: Kirchenkampf in Deutschland 1933–1945. Religionsverfolgung und Selbstbehauptung der Kirchen in der nationalsozialistischen Zeit. Walter de Gruyter, Berlin 1965.
Einzelnachweise
- Cornelia Schmitz-Berning: Vokabular des Nationalsozialismus. Ausgabe 2, Verlag Walter de Gruyter, 2007, ISBN 978-3-11-092864-8. S. 281 ff.
- Gerhard Krause, Horst Robert Balz: Theologische Realenzyklopädie. Band 8 Hrsg. Gerhard Krause, Gerhard Müller. Verlag Walter de Gruyter, ISBN 3110085631, S. 558 (Google Books).
- Eckart Conze, Norbert Frei, Peter Hayes, Moshe Zimmermann: Das Amt und die Vergangenheit. Deutsche Diplomaten im Dritten Reich und in der Bundesrepublik. Karl Blessing Verlag, München 2010, ISBN 978-3-89667-430-2, S. 157.
- LEHRER : Immer nur relativ - DER SPIEGEL 6/1950. Abgerufen am 10. Dezember 2020.
- Harald Iber: Christlicher Glaube oder rassischer Mythus. 1987.
- Philosophisches Wörterbuch. Kröners Taschenausgabe. Bd. 12, 1943 S. 206. Zitiert in Cornelia Schmitz-Berning, 2007, S. 281 ff.
- Maren Seliger: Scheinparlamentarismus im Führerstaat: „Gemeindevertretung“ im Austrofaschismus und Nationalsozialismus. Funktionen und politische Profile Wiener Räte und Ratsherren 1934–1945 im Vergleich. Band 6 von Politik und Zeitgeschichte. LIT Verlag Münster, 2010, ISBN 978-3-643-50233-9, S. 234 (Google Books)
- Manfred Gailus & Armin Nolzen: Zerstrittene „Volksgemeinschaft“: Glaube, Konfession und Religion im Nationalsozialismus. Vandenhoeck & Ruprecht, Göttingen 2011, ISBN 9783647300290, S. 196 (Abgerufen am 30. Dezember 2018).
- Ernst Piper: „Der Nationalsozialismus steht über allen Bekenntnissen“. Alfred Rosenberg und die völkisch-religiösen Erneuerungsbestrebungen. In Uwe Puschner, Clemens Vollnhals (Hrsg.): Die völkisch-religiöse Bewegung im Nationalsozialismus. Eine Beziehungs- und Konfliktgeschichte. Vandenhoeck & Ruprecht, Göttingen 2012, ISBN 978-3-525-36996-8, S. 350 (Google Books).
- "Der Glaube ist schwerer zu erschüttern als das Wissen […] Wer die breite Masse gewinnen will, muss den Schlüssel kennen, der das Tor zu ihrem Herzen öffnet." (Adolf Hitler: Mein Kampf. Eine kritische Edition. Band I, Hg. Christian Hartmann u. a. Im Auftrag des Instituts für Zeitgeschichte München – Berlin, München 2018, S. 879, ISBN 978-3-9814052-3-1).
- Horst Junginger: „Die Deutsche Glaubensbewegung als ideologisches Zentrum der völkisch-religiösen Bewegung“. In: Uwe Puschner & Clemens Vollnhals (Hrsg.): Die völkisch-religiöse Bewegung im Nationalsozialismus: Eine Beziehungs- und Konfliktgeschichte. 47 (Schriften des Hannah-Arendt-Instituts für Totalitarismusforschung). Vandenhoeck & Ruprecht, Göttingen 2012, ISBN 978-3-525-36996-8, S. 97 (Google Books).
- Nadja Cornelius: Genese und Wandel von Festbräuchen und Ritualen in Deutschland von 1933 bis 1945. In: Kölner ethnol. Beiträge, Heft 8, Köln 2003, ISSN 1611-4531, S. 21 f.
- Michael Grüttner: Brandstifter und Biedermänner. Deutschland 1933–1939. Stuttgart 2015, S. 392.
- Albert Zink: Die Pfalz am Rhein. Speyer 1952, Teil D, Tabelle 19 S. 263 f, Konfessionsverteilung im späteren Regierungsbezirks Pfalz bei der Volkszählung vom 26. Januar 1946: in den Stadt- und Landkreisen jeweils meist dreistellige Zahlen von „Gottgläubigen“, zusammen 8.300 der 931.640 Einwohner (Gesamtzahl siehe Tabelle 6, S. 259 f) der Pfalz; vgl. auch Text aus dem Heimatjahrbuch Vulkaneifel (viertletzter Absatz) über die Volkszählung 1946 in Jünkerath, Französische Besatzungszone. Sogar für 1950 tauchen Konfessionsstatistiken mit „Gottgläubigen“ vereinzelt auf, etwa für Kamen, siehe auf wiki-de.genealogy.net oder für Hameln, in: Erich Keyser, Deutsches Städtebuch, Band Niedersächsisches Städtebuch, Stuttgart 1952, S. 168.
- Siehe auch: Heribert Schwan: Die Frau an seiner Seite: Leben und Leiden der Hannelore Kohl. Heyne, München 2011, ISBN 9783453181755, wo es heißt: „Die Renners blieben auch nach ihrer Übersiedlung in die Pfalz bei ihrer Angabe, ‚gottgläubig‘ zu sein. Im Melderegister findet sich das handschriftliche Kürzel ‚gg‘ bei allen drei Familienmitgliedern. Vater Renner schien die Zeichen der Zeit nicht erkennen zu wollen. Bei der Mutterstädter Meldebehörde unterstrich er seine Haltung als unbelehrbarer, uneinsichtiger Vertreter des alten Regimes und der untergegangenen Nazi-Diktatur.“