Florian Havemann
Florian Havemann (* 12. Januar 1952 in Berlin) ist ein deutscher Schriftsteller, Maler und Komponist.
Werdegang
Florian Havemann, Sohn des DDR-Regimekritikers Robert Havemann und von Karin von Trotha, wuchs in Berlin-Mitte auf. Als Jugendlicher entwickelte er künstlerische Interessen und auch Begabung, welche insbesondere durch seinen Onkel, den Architekten Hermann Henselmann, gefördert wurden.[1] Im Jahr 1968 wurde er mit 16 Jahren verhaftet, weil er mit einer auf Karton gemalten und aus dem Fenster gehängten tschechoslowakischen Fahne gegen die gewaltsame Beendigung des Prager Frühlings protestiert hatte. Er war damit das jüngste Mitglied der Gruppe der Ost-68er, zu der auch Rosita Hunzinger, Hans-Jürgen Uszkoreit, Erika-Dorothea Berthold, Thomas Brasch, Sanda Weigl und Florian Havemanns Bruder Frank gehörten. Alle Protestierenden saßen drei Monate in der Untersuchungshaftanstalt des MfS Berlin-Hohenschönhausen ein und wurden im Oktober 1968 wegen „staatsfeindlicher Hetze“ verurteilt.[2] Während bei allen anderen Verurteilten die Freiheitsstrafen bereits im November auf Bewährung ausgesetzt wurden,[3] wurde Florian Havemann in das Jugendgefängnis Luckau überstellt. Nach insgesamt vier Monaten Haft kam schließlich auch er vorzeitig frei,[4] als Elektriker auf Bewährung abkommandiert ins Reichsbahnausbesserungswerk Berlin-Schöneweide.[5]
1971 floh Florian Havemann mit seiner Freundin in einem leeren Tanklastwagen in den Westen.[6] Havemanns Flucht gab dem Sänger und DDR-Dissidenten Wolf Biermann den Anstoß für das Lied Enfant perdu; dies trug er neben anderen bei seinem bekanntesten Konzert am Vorabend der Ausbürgerung in Köln am 13. November 1976 vor. In dem Lied kritisiert Biermann Havemann und dessen Flucht scharf: „Wer abhaut aus dem Osten, / der ist auf unsere Kosten / von sich selber abgehaun“, „dort macht er den linken Clown“ sowie mit einem doppeldeutigen „er ist hinüber“ und „Abgang ist überall“. Biermann, nun selbst im Westen, sandte Havemann böse Wünsche: „Lass, lass in die Binsen gehen, / damit wir im Osten sehen, / dass der, der abfällt, fällt.“[7]
Havemann war nach seiner Flucht Hausmeister an der West-Berliner Akademie der Künste, studierte an der Hochschule der Künste in West-Berlin Grafikdesign und Bühnenbild und übernahm die Bühnenassistenz bei Achim Freyer.[8] 1999 wurde er Laienrichter am Verfassungsgericht des Landes Brandenburg (vorgeschlagen von der PDS, Amtszeit zehn Jahre).[9][10] 2002 übernahm er die Kandidatur der PDS für den Bundestag auf der sächsischen Landesliste.[1] Zeitweise war er politischer Berater von Gregor Gysi, der zu DDR-Zeiten Robert Havemanns Anwalt gewesen war.[11]
Havemann betätigt sich als Autor von Bühnenstücken, darunter Speer (über Albert Speer) und Rosa (über Rosa Luxemburg), die jedoch nicht zur Aufführung kamen,[12] und hat außerdem als Komponist mehrere Theatermusikstücke vorgelegt sowie einen Klavierzyklus geschrieben und aufgeführt. Von Oktober 2005 bis Oktober 2011 war er zusammen mit Daniel Küchenmeister und Helge Meves Herausgeber der im Internet erscheinenden Zeitschrift für unfertige Gedanken, für die unter anderen auch der Berliner Autor und Journalist Thomas Wieczorek schrieb.
Havemann lebt in Berlin und hat dort ein Atelier und eine Galerie.[13]
Kontroverse um die „Havemann“-Retrospektive
Unter dem Titel Havemann verfasste Florian Havemann einen 1100 Seiten starken, von ihm so genannten „Tatsachenroman“ über das Leben seines Großvaters, seines Vaters und sein eigenes. Das Werk machte schon vor seiner Veröffentlichung im November 2007 Schlagzeilen, insbesondere, weil Havemann darin Wolf Biermann einen bis kurz vor dessen Ausbürgerung bestehenden Sexualkontakt zur seinerzeitigen Volksbildungsministerin Margot Honecker, der Ehefrau des Staatsratsvorsitzenden Erich Honecker, unterstellt.[14] Wolfgang Templin schrieb in einer Buchrezension: „Immer, wenn einem Florian Havemann auf seinen Endlosschleifen um die Familiengeschichte und das eigene Leben sympathisch werden könnte, wenn er seine privaten Sehnsüchte und Fantasien offenbart und den Künstler in sich zeigt, sorgt er mit dem nächsten Schwung der Abrechnungskeule für Ernüchterung. Was treibt den mittlerweile mehr als erwachsenen Sohn, nach der ersten Abrechnung vor 30 Jahren, nun zum potenzierten Vatermord?“[15]
Nachdem ein Protagonist des Romans sich verunglimpft sah, gab der Suhrkamp Verlag eine Unterlassungserklärung ab und rief das Buch am 21. Dezember 2007 aus dem Buchhandel zurück.[16] Da „ein Dutzend Personen“, darunter Angela Merkel, Joachim Sauer, Eva-Maria Hagen und Havemanns Schwester Sybille für Streichungen gestritten hatten,[17] erschien im September 2008 eine neue, gekürzte Auflage. Zuvor war das Buch mit Einschwärzungen als Download erhältlich.[18] Einer Klägerin sprach das Landgericht Berlin Schmerzensgeld für ihre Erwähnung mit Klarnamen und Denunziation als Femme fatale zu.[19]
Der 2006 von Havemann bei Suhrkamp zuerst eingebrachte, dann aber wegen des Havemann zurückgestellte Roman Speedy ging infolge des Skandals zunächst gar nicht in Druck. Erst als Clemens J. Setz das Manuskript 2019 in die Hände bekam, sich „in der prachtvoll um mich stapelnden Geschichte“ festlas und sie in der FAZ unter anderem mit dem Hinweis lobte, die Protagonistin sei „die interessanteste Frauengestalt, die mir seit langer Zeit in einem deutschsprachigen Werk begegnet ist“, publizierte der Europa Verlag das – so Christoph Dieckmann in der Zeit – „Erotik-, Kunst-, Kriminal-, NS- und Widerstands-Epos“.[20]
Werke
- Auszüge aus den Tafeln des Schicksals – ein Porträt von Velimir Chlebnikov. März bei Zweitausendeins, Frankfurt 1977.
- Havemann. Autobiografie. Suhrkamp, Frankfurt am Main 2007, ISBN 978-3-518-41917-5 (1092 S.)., Besprechung:[21]
- Florian Havemann – Rosa, Speer – Bilder. Anlässlich der Ausstellung „Florian Havemann – Rosa, Speer – Bilder“, Schloss Neuhardenberg, 30. März bis 29. Juni 2008. Stiftung Schloss Neuhardenberg/Neubrandenburg 2008, ISBN 978-3-9812196-0-9.
- Speedy – Skizzen. Roman. Europa Verlag, München 2020, ISBN 978-3-95890-329-6.
Weblinks
- Literatur von und über Florian Havemann im Katalog der Deutschen Nationalbibliothek
- Zeitschrift für unfertige Gedanken (Memento vom 19. Juli 2011 im Internet Archive)
- Dokumentation der Zeitschrift für unfertige Gedanken (Okt.2005 bis Okt.2011) (seit November 2011 ruhendes Projekt)
- Christoph Dieckmann: Das uralt kluge Kind. Florian Havemann ermordet seinen toten Vater, auf dass er lebe. In: Die Zeit. 12. Dezember 2007 (zeit.de – über das Buch "Havemann").
- Christoph Dieckmann: Der Vatermörder. In: Die Zeit. 20. Januar 2021 (zeit.de – Interview).
- Lorenz Jäger: Neuauflage, irgendwann. In: F.A.Z. 26. Januar 2008 (faz.net – über das Buch „Havemann“).
- Ronald Pohl: Schreiattacken gegen Papas Erbe. derStandard.at, 11. Februar 2008.
- Florian Havemann: Die Zumutung. Belobigung und Strafe - Erinnerungen. In: Identität und Leben in der Diktatur. Wie schmeckte die DDR? Band 3. Konrad-Adenauer-Stiftung, 2009, ISBN 978-3-941904-21-7, S. 25–34.
Anmerkungen
- Vita In: Florian Havemann: Persönliche Homepage. (Nicht mehr online verfügbar.) PDS Sachsen, archiviert vom Original am 16. Oktober 2002 .
- Wegen staatsfeindlicher Hetze bestraft. In: Neues Deutschland. 29. Oktober 1968, S. 2 (nd-archiv.de).
- Bewährung zugebilligt. In: Neues Deutschland. 15. November 1968, S. 2 (nd-archiv.de).
- Marcus Jauer: Der Fall Havemann : Elfhundert Seiten Einsamkeit. Feuilleton. In: Frankfurter Allgemeine Zeitung. 19. Februar 2008 (faz.net).
- Christoph Dieckmann: Der Vatermörder. Was für ein Leben: Haft, Flucht, Elektriker, Richter und immer der umstrittene Sohn. Eine Begegnung mit Florian Havemann. In: Die Zeit, 21. Januar 2021, S. 20.
- Robert Ide: Der Ost-Moderne. Richter. Künstler. Sohn des prominentesten DDR-Oppositionellen. Florian Havemann, 68, ist eine der schillerndsten Geheimnisgestalten im vor lauter zerwühlten Gefühlen zerklüfteten Osten. Treffen mit einem, der lebt, wie sein neuer Roman sich liest. In: Der Tagesspiegel, 28. August 2020, S. 3.
- Wolf Biermann: Für meine Genossen : Hetzlieder, Balladen, Gedichte. Mit Noten zu allen Liedern (= Quarthefte. Nr. 62). Wagenbach, Berlin 1972, ISBN 978-3-8031-0062-7, S. 83–85 („Snippet“ in der Google-Buchsuche).
- Christoph Dieckmann: Der Vatermörder. Was für ein Leben: Haft, Flucht, Elektriker, Richter und immer der umstrittene Sohn. Eine Begegnung mit Florian Havemann. In: Die Zeit, 21. Januar 2021, S. 20.
- Regina General:In der Falle. Interview mit Florian Havemann. Der Freitag, 4. Juni 1999
- Ehemalige Verfassungsrichter des Landes Brandenburg
- Robert Ide: Der Ost-Moderne. Richter. Künstler. Sohn des prominentesten DDR-Oppositionellen. Florian Havemann, 68, ist eine der schillerndsten Geheimnisgestalten im vor lauter zerwühlten Gefühlen zerklüfteten Osten. Treffen mit einem, der lebt, wie sein neuer Roman sich liest. In: Der Tagesspiegel, 28. August 2020, S. 3.
- „Als ich merkte, dass es nichts wird mit dem Theater, war das der größte Einbruch meines Lebens.“ (Zitiert nach: Christoph Dieckmann: Der Vatermörder. Was für ein Leben: Haft, Flucht, Elektriker, Richter und immer der umstrittene Sohn. Eine Begegnung mit Florian Havemann. In: Die Zeit, 21. Januar 2021, S. 20.)
- Christoph Dieckmann: Der Vatermörder. Was für ein Leben: Haft, Flucht, Elektriker, Richter und immer der umstrittene Sohn. Eine Begegnung mit Florian Havemann. In: Die Zeit, 21. Januar 2021, S. 20.
- Der Name des Vaters (Memento vom 18. November 2007 im Internet Archive), Der Tagesspiegel, 17. November 2007. Das Fazit der Buchbesprechung lautet: „Florian H. erzählt von drei Havemännern, vom Großvater, Vater und Sohn. Der Sohn ist er selber. Drei vielfältig begabte Glücksspieler, Pechhaber, Überlebenskünstler. Das erscheint für sich genommen noch nicht ungewöhnlich. Aber das Buch ist ein Monster. Mal langatmig, mal atemberaubend, voller Enthüllungen, Entblößungen, voller Liebe, Hass und etwas, das Hassliebende, Besessene, Verhexte sonst gar nicht haben. Nämlich Humor, auch Selbstironie, neben der Eitelkeit auch Demut, neben aller Zynik Zartheit.“
- Wolfgang Templin: Ein Blick in die Schränke. In: Der Tagesspiegel. 3. Dezember 2007 .
- Suhrkamp zieht „Havemann“ zurück. Spiegel Online, 21. Dezember 2007.
- Robert Ide: Der Ost-Moderne. Richter. Künstler. Sohn des prominentesten DDR-Oppositionellen. Florian Havemann, 68, ist eine der schillerndsten Geheimnisgestalten im vor lauter zerwühlten Gefühlen zerklüfteten Osten. Treffen mit einem, der lebt, wie sein neuer Roman sich liest. In: Der Tagesspiegel, 28. August 2020, S. 3.
- Havemann-Biografie: Geschwärzt ins Internet. Spiegel Online, 5. Februar 2008.
- Thorsten Dörting: Skandalbuch: Havemann muss Schmerzensgeld zahlen. In: Spiegel Online. 26. Juni 2008 .
- Christoph Dieckmann: Der Vatermörder. Was für ein Leben: Haft, Flucht, Elektriker, Richter und immer der umstrittene Sohn. Eine Begegnung mit Florian Havemann. In: Die Zeit, 21. Januar 2021, S. 20.
- Wolfgang Templin: Ein Blick in die Schränke. In: Der Tagesspiegel. 3. Dezember 2007 .