Deonomastik
Die Deonomastik beschäftigt sich mit Wörtern, die von Namen abgeleitet sind. Sie ist eine Teildisziplin der historischen Sprachwissenschaft im Schnittfeld von Namenforschung, Wortschatz- und Wortbildungsforschung.
Die Deonomastik umfasst:
- Das Erschließen des Deonymenbestands eines Wort- und Namenwortschatzes etymologisch und lexikographisch.
- Die Untersuchung semantischer und kognitiver Prozesse der metaphorischen und metonymischen oder synekdochalen Bedeutungsübertragung.
- Die Untersuchung der morphologischen und gegebenenfalls phraseologischen Bildungsprozesse, die bei der Deonymisierung von Eigennamen zum Tragen kommen.
Deonyme sind Bezeichnungen, die durch Ableitung von Eigennamen entstanden sind (vgl. Beispiele). Auch Eponym wird verwendet (vgl. Artikel Eponym (Sprachwissenschaft) sowie Abschnitt Terminologie unten).
Es handelt es sich zum einen um Gattungsnamen (Appellativa), Stoffnamen (Kontinuativa), Verben, Adjektive oder Interjektionen, die jeweils aus Eigennamen abgeleitet sind, zum anderen um abgeleitete Eigennamen, sofern diese (wie zum Beispiel aus Personennamen abgeleitete Ortsnamen) durch Ableitung aus anderen Eigennamen entstanden sind.
Terminologie
Der Terminus Deonomastik ist eine lateinisch und griechisch basierte Neuschöpfung (aus lat. de „von, ab“ und ὀνομαστικόν ónomastikón „namensbezogen“), die der italienische Linguist Enzo La Stella 1982 in einem für die methodische und terminologische Formierung der Deonomastik grundlegenden Beitrag einführte, indem er aus italienisch derivativo onomastico („Ableitung aus einem Namen“) die Kontraktion deonomastico (später eingedeutscht als Deonomastikon, Plural Deonomastika) bildete und hieraus auch den Namen der Disziplin (la deonomastica „die Deonomastik“) ableitete.[1] Als Bezeichnung der Disziplin hat sich diese Begriffsbildung seither besonders in der romanischen und in der deutschsprachigen Sprachwissenschaft durchgesetzt.
Für den Eigennamen als Basis einer Ableitung, für den in der vorausgegangenen Forschung außer den allgemein üblichen Termini für Eigennamen (Toponym, Anthroponym, Ethnonym usw.) kein eigener Terminus technicus üblich war, hat sich im Anschluss an La Stella[2] die Bezeichnung Eponym eingebürgert (von griech. ἐπι „an, bei, nach“ und ὀνομα „Name“). Mit einer Bedeutungsverschiebung vom Namensträger auf dessen Namen, die in den Altertumswissenschaften schon seit dem 19. Jahrhundert vereinzelt vollzogen wurde, knüpft diese Begriffsverwendung an die schon im antiken und altertumswissenschaftlichen Sprachgebrauch vorherrschende Hauptbedeutung des Begriffs im Sinne von „namengebend, Namengeber“ an, wonach ein Eponym der Träger eines Eigennamens ist (meist eine mythische oder geschichtliche Gründergestalt), auf den ein Ethno- oder Toponym zurückgeführt wird (siehe eponymer Heros), oder ein Amtsträger (Archon, Konsul oder sonstiger „eponymer Beamter“), mit dessen Namen in Datumsangaben die Kalenderperiode seiner Amtszeit benannt wurde (siehe Archon eponymos, Eponymenliste)
Für das Ergebnis der Ableitung wiederum, das Namensderivat, für das in der älteren deutschen Fachsprache Bezeichnungen wie Eigennamenwort oder Appellativname[3] gebräuchlich waren, haben sich in der Deonomastik im Anschluss an eine in der Germanistik von Wolfgang Fleischer eingeführte Begrifflichkeit[4] die Termini Deonym und deonymische Ableitung etabliert, während der von La Stella hierfür geprägte Terminus Deonomastikon sich in dieser Bedeutung weniger durchsetzen konnte, sondern vorwiegend noch als Gattungsbezeichnung (in Analogie zu [βιβλίον] ὀνομαστικόν „Buch über Namen, Onomastikon“) für ein Wörterbuch von Deonymen beibehalten wurde.
In der englischsprachigen oder vom englischen Sprachgebrauch geprägten Sprachwissenschaft und in der Slavistik, soweit sie sich ebenfalls mit Ableitungen aus Eigennamen befassen und sich der deonomastischen Terminologie in der Nachfolge La Stellas nicht angeschlossen haben, wird demgegenüber als Eponym das Ergebnis der Ableitung bezeichnet, ohne festen Gegenbegriff für den als Basis zugrunde liegenden Eigennamen, der hierbei weder terminologisch noch oft der Sache nach von seiner abgeleiteten oder appellativierten Verwendung unterschieden wird. Diese Verwendungsweise des Begriffs Eponym knüpft an eine im amerikanischen Englisch im 19. Jahrhundert aufgekommene Bedeutungsverschiebung an, bei der die Bedeutung des Terminus vom Namensträger nicht auf dessen Namen, sondern auf die Ableitung aus seinem Namen übertragen wurde.[5] Sie ist außerhalb der Sprachwissenschaft besonders in wissenschafts- und technikgeschichtlicher sowie in populärwissenschaftlicher Literatur verbreitet, wo es dann zumeist um „kommemorative“ Ableitungen aus den Namen von Entdeckern, Erstbeschreibern und anderen geschichtlichen Personen oder um Appellativierungen von Markennamen geht, hat jedoch auch in die sprachwissenschaftliche Literatur Einzug gehalten, wo sie zwar verschiedentlich als „weniger angemessen“ und Quelle möglicher Missverständnisse kritisiert wurde,[6] aber weiterhin in Konkurrenz zur deonomastischen Terminologie in der Nachfolge La Stellas steht.
Der durch den Sprachgebrauch oder eine namengebende Institution bewirkte Prozess der Ableitung eines Deonyms aus einem Eponym im Verständnis der Deonomastik wird von dieser als Deonomysierung bezeichnet. Der komplementäre Begriff Eponymisierung ist sprachwissenschaftlich nicht etabliert, sondern ein Fachbegriff der Altertumswissenschaften, der damit die Reinterpretation eines gegebenen Toponyms oder Ethnonyms durch Herleitung von dem Namen eines mythischen oder geschichtlichen Individuums bezeichnet, weil hierbei der gegebene, als abgeleitet interpretierte Name mit einem Eponym im Sinne eines primären Namensträgers versehen wird. Als eine Art Synonym zu Deonymisierung und zugleich als eine Bezeichnung für die wissenschaftliche Untersuchung von Deonymen und für deren Gegenstandsgebiet wird jedoch zuweilen engl. eponymy und frz. éponymie verwendet,[7] während der Begriff ebenso wie im Deutschen Eponymie ansonsten altertumswissenschaftlich definiert ist, als Bezeichnung für die Funktion und Amtsperiode eines eponymen Beamten (dann gleichbedeutend mit Eponymat), oder als Bezeichnung für einen sprechenden Namen oder Beinamen, der der dann seinerseits im Sinne einer geographischen oder genealogischen Zuschreibung deonymisch aus einem Eigennamen abgeleitet sein, aber auch ohne solche Ableitungsbeziehung zur Hervorhebung von Eigenschaften des Namensträgers dienen kann.
Beispiele für Deonyme
Zu einem Einzelvertreter:
- Sonne (Stern) und Mond (Trabant, Satellit), zu „der“ Sonne und „dem“ Mond der Erde, zwei personifizierten Naturentitäten
Deonyme aus Personennamen:
- Algorithmus – über lateinisch algorismus aus dem Namen des Mathematikers Muhammad ibn Musa al-Chwarizmi
- Guillotine (dt. „Fallbeil“), guillotinieren („mit dem Fallbeil hinrichten“) – nach dem französischen Arzt Joseph-Ignace Guillotin, der die Einführung einer einfachen Maschine zur Enthauptung zum Tode verurteilter Straftäter anregte und so zur Einführung des Fallbeils in der Zeit der französischen Revolution beitrug.
- Marionette, „Gliederpuppe“ – über französisch marionnette aus einer Verkleinerungsform des Namens Maria
- Röntgenstrahlen, röntgen („mit Röntgenstrahlen durchleuchten“) – aus dem Namen des Physikers Wilhelm Conrad Röntgen
- Diesel(kraftstoff) – aus dem Namen des Ingenieurs Rudolf Diesel, Erfinder des Dieselmotors
aus Ethnonymen:
- englisch einkaufen – einkaufen, ohne zu bezahlen, also stehlen
- sich französisch empfehlen – weggehen, ohne sich zu verabschieden
- Ciao! – ital. Gruß, Verkürzung aus schiavo (vostro) („Ihr Diener!“), von lat. sclavus „Sklave“
aus Toponymen:
- Amerikaner – Feingebäck
- Berliner – Gebäck nach Berliner Art
- Frankfurter – Brühwürste nach Frankfurter Art, insb. in Österreich
- Engländer – verstellbarer Schraubenschlüssel
- Franzose – verstellbarer Schraubenschlüssel
- Wiener – Brühwürste nach Frankfurter Art, in Wien variiert
- Pils – Bier aus der Stadt Pilsen, dann allgemein „Bier nach der Brauweise der Stadt Pilsen“
- wienern – „weißes Leder mit Wiener Kalk reinigen“, dann allgemein „blank putzen“
aus Firmen- und Markennamen:
- Duspol – Spannungsprüfer der Benning Elektrotechnik und Elektronik GmbH & Co. KG in Bocholt
- Foen – Haartrockner der Electrolux Rothenburg GmbH Factory and Development in Nürnberg
- googeln – „die Suchmaschine Google benutzen“, dann allgemein „eine Suchmaschine im World Wide Web benutzen“
- Heroin – registrierter Markenname der Bayer AG für die von ihr entwickelte Substanz Diacetylmorphin
- Inbusschlüssel/-schraube – Innensechskantschlüssel/-schraube der Firma Bauer und Schaurte. Das Akronym „Inbus“ steht für „Innensechskantschraube Bauer und Schaurte“.
- Kelomat – Schnellkochtopf (in Österreich)
- photoshoppen – ein Bild mit einer Bildbearbeitungssoftware wie beispielsweise Adobe Photoshop bearbeiten, heute meist abwertend
- Tempo – Papiertaschentuch der Vereinigten Papierwerke Nürnberg, dann allgemein „Papiertaschentuch“
- Tesa bzw. Tesafilm – Klebeband der Firma tesa SE, einer Tochterfirma der Beiersdorf AG, dann allgemein „Klebeband“
- Uhu – nach dem Vogel Uhu benannter und von der Firma UHU GmbH & Co. KG vertriebener Klebstoff nach der Rezeptur des Apothekers August Fischer, dann allgemein „Klebstoff“, „Alleskleber“
- Walkman – mobiles Kassettenabspielgerät der Firma Sony
Literatur
- Vincent Balnat: L'appellativisation du prénom. Etude contrastive allemand-français. XI. Narr, Tübingen 2018 (= Tübinger Beiträge zur Linguistik, 565). [Anhang: http://www.meta.narr.de/9783823381853/Annexes_Balnat.pdf]
- Paolo D’Achille, Enzo Caffarelli (Hrsg.): Lessicografia e onomastica 2. Atti delle Giornate internazionali di Studio (Università degli Studi Roma Tre, 14–16 febbraio 2008) / Lexicografy and Onomastics 2. Proceedings from the International Study Days (Roma Tre University, February 14th–16th, 2008). Società Editrice Romana, Rom 2008 (= Quaderni Internazional di «Rivista internazionale di onomastica» 3).
- Jean-Pierre Chambon u. a. (Hrsg.): Onomastik und Lexikographie, Deonomastik. Niemeyer, Tübingen 2002 (= Onomastik. Akten des 18. Internationalen Kongresses für Namenforschung. Band 5), ISBN 3-484-55518-1.
- Consuelo García Gallarín, Celeste García Gallarin: Deonomástica Hispánica: vocabulario científico, humanístico y jergal. Ed. Complutense, Madrid, ISBN 84-89784-12-4.
- Heike Hornbruch: Deonomastika: Adjektivbildungen auf der Basis von Eigennamen in der älteren Überlieferung des Deutschen. Vandenhoeck & Ruprecht, Göttingen 1996 (= Studien zum Althochdeutschen 31), ISBN 3-525-20346-2.
- Rudolf Köster: Eigennamen im deutschen Wortschatz. Ein Lexikon. de Gruyter, Berlin 2003, ISBN 3-11-017702-1.
- Enzo La Stella: Deonomastica: lo studio dei vocaboli derivati da nomi propri. In: Le lingue del mondo. Band 47, 1982. S. 13–18; I deonomastici nella guerra e nelle esplorazioni, ebenda, S. 111–116; I deonomastici e l’«homo faber œconomico», ebenda, S. 208–212; I deonomastici nella vita quotidiana, ebenda, S. 300–305; I deonomastici nella politica e nella letteratura, ebenda, S. 394–398; I deonomastici nati dalle vicende storiche italiane, ebenda, S. 493–499
- Enzo La Stella: Dalie, dedali e damigiane: dal nome proprio al nome comune. Dizionario storico di deonomastica, vocaboli derivati da nomi propri, con le corrispondenti forme francesi, inglesi, spagnole e tedesche. Zanichelli, Bologna 1990, ISBN 88-08-07024-7.
- Wolfgang Schweickard: «Deonomastik». Ableitungen auf der Basis von Eigennamen im Französischen (unter vergleichender Berücksichtigung des Italienischen, Rumänischen und Spanischen). Niemeyer, Tübingen 1992 (Beihefte zur Zeitschrift für romanische Philologie, Band 241)
- Wolfgang Schweickard: Deonomasticon Italicum. Dizionario storico dei derivati da nomi geografici e da nomi di persona. Band 1: Derivati da nomi geografici: A–E. 2002. Band 2: Derivati da nomi geografici: F–L. 2006. Band 3: Derivati da nomi geografici: M-Q. 2009. Band 4: Derivati da nomi geografici: R–Z. 2013. Niemeyer, Tübingen 2002–2013
Weblinks
- Deonomasticon Italicum (Memento vom 26. September 2007 im Internet Archive): Website von Schweickards Forschungsprojekt an der Universität Saarbrücken
Fußnoten
- La Stella: Deonomastica… (1982), S. 13: „La DEONOMASTICA studia l’origine e l’evoluzione semantica dei derivativi onomastici“, „Abbiamo pertanto optato per DEONOMASTICO, forma contratta e a tutti comprensibile di derivativo onomastico“
- La Stella: Deonomastica… (1982), S. 13: „il „generante“ o EPONIMO“; ebenda: „Abbiamo visto che eponimo è l’individuo dal cui nome deriva un vocabolo comune“; ebenda, S. 14: „In sintesi: l’eponimo (nome proprio) dà origine al deonomastico (vocabolo comune) attraverso la banalizzazione“; ders., I deonomastici nella guerra… (1982), S. 111: „Eponimo è il nome proprio (di persona o antroponimo, di popolo o etnonimo, di luogo o toponimo dal quale, attraverso il processo di banalizzazione, deriva il deonomastico, nome comune.“)
- Wilhelm Wackernagel: Die deutschen Appellativnamen. In: Germania 4 (1859), S. 129–159; 5 (1860), S. 290–356
- Wolfgang Fleischer: Deonymische Derivation. 1980. Wieder abgedruckt in ders: Name und Text. Ausgewählte Studien zur Onomastik und Stilistik. Hrsg. von Irmhild Bartz. Niemeyer, Tübingen 1992, S. 58–66, S. 58
- George Elliott Howard: An introduction to the local constitutional history of the United States. Baltimore 1889, S. 242: „The Party […] derives its eponym from the oldest and chief member of the patry“; anonym, Naming the Streets, in: Morning Oregonian 29 (Portland, Oregon, 28. Juni 1891), S. 4: „Each street, so named, will bear an historical eponym of local fame“; Morris M. Cohn, An introduction to the study of the Constitution, Baltimore 1892, S. 148: „They [the Athenians] carried the eponym of the clan or gens which had the largest possessions“, lexkiographischer Erstbeleg dann bei Abala Kanta Sen, The student’s comprehensive Anglo-Bengali dictionary, compiled from the best modern lexicons, Kalkutta 1892, S. 398, s. v. Eponym, Eponyme: „a name, as of a country or people, derived from that of an individual“
- Schweickard: Deonomastik… (1992), S. 4
- Dazu ablehnend Schweickard: Deonomastik… (1992), S. 4; Valerie Alia: A new view of eponomy: power, politics, and protection. In: Jean-Pierre Chambon u. a. (Hrsg.): Onomastik und Lexikographie, Deonomastik… (2002), S. 93–98, verwendet eponymy weiterhin in diesem Sinn, obwohl sie sich einleitend auf die altertumswissenschaftlich hergebrachte Bedeutung als Personenbezeichnung für den Träger des Primärnamens beruft.