Charlotte Salomon
Charlotte Salomon (geboren am 16. April 1917 in Berlin; gestorben am 10. Oktober 1943 im KZ Auschwitz-Birkenau) war eine deutsche Malerin.
Leben
Charlotte Salomon wurde als Tochter des Chirurgen Albert Salomon[2] (1883–1976) und seiner Frau Franziska, geb. Grunwald (1890–1926), in eine liberale jüdische Familie geboren. Sie wuchs in einem bürgerlichen Umfeld in Berlin-Charlottenburg auf. Nach dem Suizid ihrer Mutter 1926 bis zur erneuten Heirat ihres Vaters 1930 mit der Konzertsängerin Paula Lindberg war der Haushalt von wechselnden Kindermädchen geprägt.
Ab 1927 besuchte sie das Fürstin-Bismarck-Gymnasium, eine Schule für die höheren Töchter Charlottenburgs. Sie verließ die Schule 1933, ein Jahr vor dem Abitur, um den antisemitischen Anfeindungen zu entgehen, die dort seit der Machtergreifung der Nationalsozialisten zur Tagesordnung gehörten. Zum Wintersemester 1935/36 wurde sie – zunächst auf Probe – an den Vereinigten Staatsschulen für Freie und Angewandte Kunst (heute Universität der Künste Berlin) in Berlin-Charlottenburg aufgenommen. Trotz der immer weiter zunehmenden Schikanen gegen jüdische Bürger wurde sie im Februar 1936 regulär immatrikuliert, da ihr Vater als Frontkämpfer des Ersten Weltkrieges anerkannt war und sie daher von dem vorübergehenden Frontkämpferprivileg profitieren konnte. Nachdem ihr bei einem Wettbewerb der Kunsthochschule der erste Platz, der ihr von der Jury zuerkannt werden sollte, wegen ihrer jüdischen Herkunft versagt wurde, verließ sie die Hochschule im Herbst 1937.
Im Januar 1939 emigrierte Charlotte Salomon nach Frankreich. Dort lebte sie in Villefranche-sur-Mer bei Nizza bei ihren Großeltern, die dort bereits seit 1934 wohnten. Im Juni 1940 besetzten deutsche Truppen weite Teile Frankreichs; am 22. Juni unterschrieb Marschall Pétain einen kapitulationsähnlichen Waffenstillstand mit Deutschland, in dem auch die Auslieferung von 200.000 Juden an die Gestapo geregelt war (siehe Vichy-Regime). Charlotte Salomon und ihr Großvater (ihre Großmutter hatte sich im März das Leben genommen) wurden im Lager Camp de Gurs interniert, kurze Zeit später jedoch wegen des hohen Alters des Großvaters wieder freigelassen.
Der Tod der Großmutter und das Erlebnis der Internierung versetzten Charlotte Salomon in eine tiefe Krise. Um die Ereignisse zu verarbeiten, begann sie auf Anraten eines Arztes wieder zu malen. Am 11. November 1942 besetzte die Wehrmacht Südfrankreich. Im Juni 1943 heiratete Charlotte den österreichischen Emigranten Alexander Nagler, den sie nach ihrer Flucht kennengelernt hatte. Das Ehepaar wurde verraten, am 24. September 1943 in Nizza verhaftet und am 27. September in das Sammellager Drancy bei Paris verschleppt und am 7. Oktober in das Konzentrationslager Auschwitz-Birkenau deportiert. Charlotte Salomon, im fünften Monat schwanger, wurde vermutlich sofort nach ihrer Ankunft in Auschwitz ermordet. Ihr Ehemann starb am 2. Januar 1944 an den Folgen der unmenschlichen Haftbedingungen.
Werk
Zwischen 1940 und 1942 entstanden binnen 18 Monaten 1325 Gouachen expressionistischen Stils. Etwa 800 Blätter im Format 32,5 × 25 cm hat Charlotte Salomon ausgewählt und nummeriert. Zusammen mit erläuternden Texten und Hinweisen auf Musikstücke erzählen sie unter dem Titel Leben? Oder Theater? Charlotte Salomons Leben. Das Werk ist in seinem Aufbau einem Theaterstück mit allen seinen Bestandteilen in Akten und Szenen vergleichbar.
1961 wurde es zum ersten Mal öffentlich gezeigt. 1963 erschien der erste Bildband mit einer Auswahl ihrer Gouachen.
2012 wurden ausgewählte Gouachen aus Leben? Oder Theater? bei der dOCUMENTA (13) im Fridericianum in Kassel ausgestellt.
Nachlass
Seit 1971 befinden sich Charlotte Salomons Arbeiten im Joods Historisch Museum in Amsterdam (Charlotte Salomon Foundation).[4]
Gedenken
Am 21. April 2012 wurde vor dem ehemaligen Wohnhaus, in Berlin-Charlottenburg, Wielandstraße 15, ein Stolperstein für Charlotte Salomon verlegt. Außerdem erinnert eine Gedenktafel am Haus an sie. Im Jahr 2006 wurde eine Straße in Berlin-Rummelsburg nach ihr benannt, und bereits seit 1992 trägt eine Berliner Grundschule ihren Namen.[5]
Die Else-Lasker-Schüler-Gesellschaft beauftragte im Jahr 2007 das Künstlerkollektiv „Artcore“ um den Regisseur Andreas Schäfer mit der Inszenierung eines Live-Hörspiels aus Leben? oder Theater?. Im Rahmen des XIV. Else-Lasker-Schüler-Forums in Wuppertal kam es 2008 zur Uraufführung des von Claudia Gahrke adaptierten Werkes. Das Werk wurde später noch in Berlin, Wien und Tel Aviv aufgeführt.
Zum Gedenken an die Künstlerin komponierte Marc-André Dalbavie die Oper Charlotte Salomon, deren Libretto auf den Gouachen Leben? oder Theater? basiert und die als Auftragswerk der Salzburger Festspiele am 28. Juli 2014 unter Leitung des Komponisten in einer Inszenierung von Luc Bondy uraufgeführt wurde.[6] Charlotte Salomon wurde von Johanna Wokalek gespielt und von Marianne Crebassa gesungen. Für ihre Inszenierung der Oper am Theater Bielefeld, die deutsche Erstaufführung, wurde die Regisseurin Mizgin Bilmen im Jahr 2017 mit dem Götz-Friedrich-Preis ausgezeichnet.[7]
Das Musiktheater im Revier Gelsenkirchen (MiR) widmete Charlotte Salomons Leben und Werk die Ballettoper Charlotte Salomon: Der Tod und die Malerin von Michelle DiBucci, in der Choreografie und Inszenierung von Bridget Breiner, die im Februar 2015 uraufgeführt wurde. Dabei lag dem Text und der Choreografie ebenfalls Salomons autobiografisches Werk Leben? Oder Theater? zugrunde.[8] Parallel zur Ballettaufführung zeigte im Frühjahr 2015 das Kunstmuseum Bochum 250 Gouachen unter dem Titel Leben? oder Theater?. Die Werke sind Leihgaben aus dem Jüdischen Museum Amsterdam.[9] Eine Auswahl von 278 Gouachen wurde von Juli bis Oktober 2015 unter dem Titel Leben? oder Theater am Museum der Moderne Salzburg im Rupertinum gezeigt.[10]
Werke
- Ein Tagebuch in Bildern 1917–1943. Vorwort von Paul Tillich. Einleitung von Emil Straus. Rowohlt, Reinbek 1963. Zwischen 1940 und 1942 entstanden binnen 18 Monaten 1325 Gouachen „Das ist mein ganzes Leben“ – mit diesen Worten übergab Charlotte 1942 einem Vertrauten einen Koffer voller Bilder. In ihrer Bildsprache verwandte sie filmische und comicartige Elemente und fügte Musiktitel als Begleitmelodien hinzu.
- Leben Oder Theater? Ein autobiographisches Singspiel in 769 Bildern. Mit einer Einleitung von Judith Herzberg. Kiepenheuer und Witsch, Köln 1981, ISBN 3-462-01396-3
Filme
- Charlotte: a documentary film. Regie: Kurt Lindau, München 1972 (Dokumentarfilm)
- Charlotte S. (im niederländischen Original: Charlotte). Regie: Frans Weisz, Hauptdarstellerin: Birgit Doll, 1981 (Spielfilm)
- C’est toute ma vie. Regie: Richard Dindo, Paris 1992 (Dokumentarfilm)
- Die Liebe, mein Schatz, ist bodenlos. Regie: Sabine Willmann, mit Daniela Ziegler, Amalie Bizer, Michael Holz, 1998 (Spielfilm)
- Life? Or Theatre? Regie: Frans Weisz, Niederlande 2012 (Dokumentarfilm)
- Death & the Maiden, Israel 2014, 29 Min., Hebräisch und Englisch mit entspr. Untertiteln, Tel Aviv international dokumentary film festival Mai 2014[11]
- Charlotte. Regie: Eric Warin, Hauptdarstellerin: Keira Knightley, 2021 (Spielfilm)
Oper und Ballett
- 2014: Charlotte Salomon. Marc-André Dalbavie – Musik, Barbara Honigmann – Libretto, Premiere: 28. Juli 2014, Salzburger Festspiele.[12]
- 2015: Charlotte Salomon: Der Tod und die Malerin. Ballett mit Gesang von Bridget Breiner (Choreografie) und Michelle DiBucci (Musik), am Musiktheater im Revier[13]
- 2017: Charlotte: A Tri-Coloured Play with Music. Libretto: Alon Nashman, Musik: Aleš Březina, Bühnenbild und Regie: Pamela Howard. Theaturtle, Toronto, Canada.[14]
Archivalien
- Akademie der Künste Berlin, Abt. Musikarchiv: Paula Salomon-Lindberg-Archiv, 8 lfd. Meter, darin "Sammlung Albert Salomon" und "Sammlung Charlotte Salomon" Online
Literatur
- Christine Fischer-Defoy (Hrsg.): Charlotte Salomon. Leben oder Theater? Das Lebensbild einer jüdischen Malerin aus Berlin 1917–1943. Bilder und Spuren, Notizen, Gespräche, Dokumente. Arsenal, Berlin 1986, ISBN 3-92181076-0.
- Margret Greiner: Charlotte Salomon: „Es ist mein ganzes Leben“. Romanbiografie. Albrecht Knaus, München 2017, ISBN 978-3-81350721-8.[15]
- Harry Mulisch: Das Mädchen und der Tod. In: Reden zu den 2 Ausstellungen Die Welt der Anne Frank. Frankfurt 1929–1945. 6. April – 4. Mai 1986 Bergen-Belsen, sowie dsb.: Charlotte Salomon. Berlin 1917 – 1943 Auschwitz. Akademie der Künste Berlin, 27. April – 15. Juni 1986. Berlin 1986, ISBN 3-88331-946-5.
- Griselda Pollock: Encounters in the Virtual Feminist Museum. Taylor & Francis, 2007, ISBN 978-0-41541374-9. (engl.)
- 100 Notes – 100 Thoughts / 100 Notizen – 100 Gedanken. N° 028. Allo-Thanatografie oder Allo-Auto-Biografie. Überlegungen zu einem Bild in Charlotte Salomons "Leben? oder Theater?" 1941/1942. Hatje Cantz, Ostfildern 2012, ISBN 3-7757-2877-5 (engl./dt.)
- Hildegard Reinhardt: Charlotte Salomon, Malerin. In: Jutta Duck, Marina Sassenberg (Hrsg.): Jüdische Frauen im 19. und 20. Jahrhundert. Lexikon zu Leben und Werk. Rowohlt, Reinbek 1993, ISBN 3-499-16344-6
- Katia Ricci (Hrsg.): Charlotte Salomon. I colori della vita. Palomar di Alternative, Bari 2006, ISBN 8-87600151-4. (ital.)
- Salomon, Charlotte, in: Werner Röder; Herbert A. Strauss (Hrsg.): International Biographical Dictionary of Central European Emigrés 1933–1945. Band 2,2. München : Saur, 1983, S. 1012
- Astrid Schmetterling: Charlotte Salomon 1917–1943. Bilder eines Lebens. Jüdischer Verlag im Suhrkamp-Verlag, Frankfurt 2001, ISBN 3-633-54168-3.
- Astrid Schmetterling: Biographien jüdischer Frauen: Zur Aktualität Charlotte Salomons. In: Medaon. 9 (2015), 17 (online).
- Deborah Schultz, Edward Timms: Pictorial narrative in the Nazi period: Felix Nussbaum, Charlotte Salomon and Arnold Daghani. Routledge, London 2009, ISBN 978-0-415-49095-5.
- Michael P. Steinberg, Monica Bohm-Duchen: Reading Charlotte Salomon. B & T, 2005, ISBN 0-80143971-X. (engl.)
- Georg Stefan Troller: Charlotte Salomon. In: Ihr Unvergeßlichen. 22 starke Begegnungen. Artemis & Winkler, Düsseldorf 2006, ISBN 3-538-07216-7, S. 243.
- Edward van Voolen (Hrsg.): Charlotte Salomon. Leben? Oder Theater? Prestel, München 2004, ISBN 3-7913-3166-3.
Prosa
- David Foenkinos: Charlotte. Roman. Gallimard, Paris 2014, ISBN 978-2-07-014568-3. (Ausgezeichnet 2014 mit dem Prix Renaudot und dem Prix Goncourt des lycéens.)
Weblinks
- Literatur von und über Charlotte Salomon im Katalog der Deutschen Nationalbibliothek
- Literatur von und über Charlotte Salomon in der Bibliothek des Jüdischen Museums Berlin
- Eintrag im Joods Historisch Museum
- Charlotte Salomon: Leben? Oder Theater?, Website zur Ausstellung im Jüdischen Museum Berlin 2007
- Ausstellung: Fluchtpunkt Südfrankreich, Artikel von Christina Tilmann im Tagesspiegel, 16. August 2007
- FemBiografie Charlotte Salomon mit Zitaten, Links und Literaturangaben
- Die Masken des Orpheus oder Wie man in die Unterwelt steigt, um am Leben zu bleiben. Überlegungen zum intermedialen Bilderwerk Leben? oder Theater? von Charlotte Salomon. von Sarah Schmidt in Kultur & Gespenster Nr. 7, Herbst 2008
- Mary Lowenthal Felstiner:Charlotte Salomon. Jewish Women: A Comprehensive Historical Encyclopedia. 1. März 2009. Jewish Women’s Archive. (Abgerufen am 10. August 2015)
- Sharon Adler: David Foenkinos – Charlotte. Rezension vom 5. September 2015 auf AVIVA-Berlin.de, abgerufen am 2. Mai 2020
Einzelnachweise
- http://www.jhm.nl/collectie/museumstukken/01205
- Lebenslauf
- Leben? oder Theater? Ein singespiel | Museumstukken | Joods Historisch Museum | Joods Cultureel Kwartier. Jhm.nl. 23. Mai 2012. Abgerufen am 11. August 2014.
- www.jhm.nl
- Charlotte-Salomon-Grundschule: Charlotte Salomons Leben - eine kurze Biografie (Memento des Originals vom 25. Februar 2015 im Internet Archive) Info: Der Archivlink wurde automatisch eingesetzt und noch nicht geprüft. Bitte prüfe Original- und Archivlink gemäß Anleitung und entferne dann diesen Hinweis.
- Salzburger Festspiele Sommer 2014: Marc-André Dalbavie. Charlotte Salomon
- Götz-Friedrich-Preis ehrt Regisseurin Mizgin Bilmen. In: Westdeutsche Allgemeine Zeitung. (online).
- Archivlink (Memento des Originals vom 14. Juli 2014 im Internet Archive) Info: Der Archivlink wurde automatisch eingesetzt und noch nicht geprüft. Bitte prüfe Original- und Archivlink gemäß Anleitung und entferne dann diesen Hinweis.
- kunstmuseumbochum.de: Charlotte Salomon - Leben? oder Theater?, abgerufen am 15. März 2015
- Death & the Maiden auf docaviv.co.il
- Marc André Dalbavie: "Charlotte Salomon" (de) ORF. Abgerufen am 25. August 2019.
- Charlotte Salomon: Der Tod und die Malerin · Musiktheater im Revier Gelsenkirchen. Abgerufen am 5. Oktober 2017.
- Charlotte : A Tri-Coloured Play with Music (en) Theaturtle. Abgerufen am 25. August 2019.
- Deutschlandfunk, Büchermarkt, 15. April 2017, von Maria Riederer Überleben in Bildern. (15. April 2017)
- Kolb in der Übersetzer-Datenbank des VdÜ, 2019