Bernhard Waldenfels
Bernhard Waldenfels (* 17. März 1934 in Essen) ist ein deutscher Philosoph. Er gilt als einer der wichtigsten Denker der gegenwärtigen deutschsprachigen Phänomenologie. Zentrale Themen seines Schreibens sind phänomenologische Studien zur Erfahrung, Fremdheit bzw. Alterität und Leiblichkeit.
Leben
Waldenfels studierte Philosophie, Psychologie, klassische Philologie, Theologie und Geschichte in Bonn, Innsbruck, München und Paris. Gefördert durch die Studienstiftung des deutschen Volkes promovierte er 1959 in München mit der Arbeit Das sokratische Fragen: Aporie, Elenchos, Anamnesis. 1960/61 legte er das Staatsexamen in den Fächern Griechisch, Latein und Geschichte ab. Von 1960 bis 1962 verbrachte er einen Studienaufenthalt in Paris, wo er bei den französischen Philosophen Paul Ricoeur und Maurice Merleau-Ponty studierte, die sein philosophisches Denken stark beeinflusst haben. Es folgte die Vorbereitung auf die Habilitation als Stipendiat der DFG und die anschließende Habilitation in München 1967 mit der Arbeit Das Zwischenreich des Dialogs: sozialphilophische Untersuchungen in Anschluss an Edmund Husserl. Von 1966 bis 1967 unterrichtete er Griechisch und Latein an einem Privatgymnasium. 1968–1976 hatte er eine Lehrtätigkeit als Universitätsdozent und außerordentlicher Professor an der Münchner Universität. 1976 wurde er zum ordentlichen Professor für Philosophie an die Ruhr-Universität Bochum berufen. Dort forschte und lehrte er bis zu seiner Emeretierung im Jahre 1999.
Er ist Mitbegründer der Deutschen Gesellschaft für phänomenologische Forschung.
Waldenfels hatte Gastprofessuren unter anderem in Rotterdam (1982), Paris: Maison des Sciences de l’Homme (1984), New York: New School (1987), Rom (1989), Louvain-la-Neuve (1990), Debrecen (1992) San José, Costa Rica (1991), Prag: Central European University (1993), New York: State University of New York at Stony Brook (1999), Wien (2002) und Hongkong: Chinese University of Hong Kong (2004).
Sein Bruder Hans Waldenfels (* 1931) SJ ist ein Fundamentaltheologe.
Wissenschaftliche Arbeit
In seiner wissenschaftlichen Arbeit beschäftigt sich Waldenfels mit einer responsiven, leiblich verankerten Phänomenologie ausgehend von den Philosophen Edmund Husserl, Martin Heidegger und Alfred Schütz bis hin zur neueren französischen Philosophie insbesondere Maurice Merleau-Ponty, Jean-Paul Sartre, Michel Foucault und Emmanuel Levinas. Durch seine Werke hat Waldenfels vor allem die neuere französische Philosophie in der deutschsprachigen Philosophie bekannter gemacht. Er übersetzte auch einige zentrale Werke Mearleau-Pontys in die deutsche Sprache, die sein eigenes Denken stark geprägt haben.
Waldenfels geht den Begriff des Fremden über eine Problematisierung der Ordnung oder der Ordnungen an.[1] Das Fremde erweise sich aus dieser Perspektive als das Außerordentliche, das was in einer Ordnung nicht sagbar, denkbar oder erfahrbar sei; in der Ordnung keinen Platz fände. Fremdheit ist bei Waldenfels immer in Relation zu einer Ordnung zu sehen. „Der Dialog zerteilt sich in Diskurse im Sinne Foucaults, die jeweils spezifischen Ordnungen unterliegen. Es gilt also der Satz: So viele Ordnungen, so viele Fremdheiten. Das Außer-ordentliche begleitet die Ordnung wie ein Schatten.“[2]
Außerdem wurden einige seiner phänomenologische Werke in zahlreiche Sprachen u. a. ins Englische, Französische, Italienische, Japanische, Spanische, Türkische, Serbokroatische und Russische übersetzt.[3]
Zu Waldenfels’ akademischen Schülerinnen und Schülern gehören u. a. Kathrin Busch, Iris Därmann, Petra Gehring, Hans-Dieter Gondek, Antje Kapust, Käte Meyer-Drawe, Friedrich Balke, Thomas Bedorf, Burkhard Liebsch, Andreas Gelhard, Tobias N. Klass und Marc Rölli. 2021 hat Jan Juhani Steinmann mit Exzess und Selbst. Hyperphänomenologische Bewegungen nach Waldenfels die erste umfangreiche Analyse seines gesamten bisherigen Werkes vorgelegt.[4]
Seit 2009 gibt es das Bernhard Waldenfels-Archiv an der Universität Freiburg. Waldenfels hat seinen umfangreichen „Vorlass“ als Schenkung an die Universität Freiburg übergeben, dort wo Edmund Husserl die moderne Phänomenologie begründet hatte.[5]
Schriften
- Das sokratische Fragen, Meisenheim: A. Hain 1961
- Das Zwischenreich des Dialogs. Sozialphilosophische Untersuchungen in Anschluß an E. Husserl, Den Haag: M. Nijhoff 1971 (japan. 1986)
- Der Spielraum des Verhaltens, F./M.: Suhrkamp 1980 (japan. 1987)
- Phänomenologie in Frankreich, F./M.: Suhrkamp 1983
- In den Netzen der Lebenswelt, F./M.: Suhrkamp 1985, ²1994 (serbokroat. 1991)
- Ordnung im Zwielicht, F./M.: Suhrkamp 1987 (engl. 1996)
- Der Stachel des Fremden, F./M.: Suhrkamp 1990, 1998 (slowen., tschech. 1998)
- Einführung in die Phänomenologie, München: Fink 1992 (span. 1997, korean. 1998, ukrain. 2002)
- Antwortregister, F./M.: Suhrkamp 1994
- Deutsch-Französische Gedankengänge, F./M.: Suhrkamp 1995
- Topographie des Fremden – Studien zur Phänomenologie des Fremden 1, F./M.: Suhrkamp 1997 (poln. 2002, ukrain. 2004, franz. 2009)
- Grenzen der Normalisierung – Studien zur Phänomenologie des Fremden 2, F./M.: Suhrkamp 1998 (ung. 2005)
- Sinnesschwellen – Studien zur Phänomenologie des Fremden 3, F./M.: Suhrkamp 1999
- Vielstimmigkeit der Rede – Studien zur Phänomenologie des Fremden 4, F./M.: Suhrkamp 1999
- Das leibliche Selbst. Vorlesungen zur Phänomenologie des Leibes. Hrsg. von R. Giuliani. Suhrkamp, Frankfurt am Main 2000 (japan. 2004)
- Verfremdung der Moderne, Wallstein: Göttingen; 2001
- Bruchlinien der Erfahrung, F./M.: Suhrkamp 2002
- Spiegel, Spur und Blick. Zur Genese des Bildes, Köln: Salon Verlag 2003
- Findigkeit des Körpers, Norderstedt: Books on Demand 2004
- Phänomenologie der Aufmerksamkeit, F./M.: Suhrkamp 2004
- Idiome des Denkens. Deutsch-Französische Gedankengänge II, F./M.: Suhrkamp (2005)
- Grundmotive einer Phänomenologie des Fremden, F./M.: Suhrkamp 2006 (poln. 2009)
- Schattenrisse der Moral, F./M.: Suhrkamp 2006
- Philosophisches Tagebuch. Aus der Werkstatt des Denkens 1980–2005, München: Fink 2008.
- Ortsverschiebungen, Zeitverschiebungen: Modi leibhaftiger Erfahrung, F./M.: Suhrkamp 2009.
- Sinne und Künste im Wechselspiel: Modi ästhetischer Erfahrung, F./M.: Suhrkamp 2010.
- Hyperphänomene: Modi hyperbolischer Erfahrung, Berlin: Suhrkamp 2012.
- Sozialität und Alterität: Modi sozialer Erfahrung. Suhrkamp, Berlin 2015.
- Platon: Zwischen Logos und Pathos. Suhrkamp, Berlin 2017.
- Erfahrung, die zur Sprache drängt. Studien zur Psychoanalyse und Psychotherapie aus phänomenologischer Sicht. Suhrkamp, Berlin 2019.
- Reisetagebuch eines Phänomenologen: Aus den Jahren 1978–2019. Ergon Verlag, Baden-Baden 2020.
als Herausgeber von Sammelbänden:
- Kunst – Bild - Wahrnehmung – Blick: Merleau Ponty zum Hundertsten. Hrsg. mit Antje Kapust, Fink: München 2010.
- Gewalt. Strukturen, Formen, Repräsentationen. Hrsg. mit Mihran Dabag und Antje Kapust, Fink: München 2000.
- Der Anspruch des Anderen. Perspektiven phänomenologischer Ethik. Hrsg. mit Iris Därmann, Fink: München 1998.
- Einsätze des Denkens. Zur Philosophie von Jacques Derrida. Hrsg. mit Hans-Dieter Gondek, Suhrkamp: Frankfurt/M. 1997.
- Spiele der Wahrheit. Michel Foucaults Denken. Hrsg. mit François Ewald, Suhrkamp: Frankfurt/M. 1991.
- Leibhaftige Vernunft. Spuren von Merleau Pontys Denken. Hrsg. mit Alexandre Métraux, Fink: München 1986.
- Sozialität und Intersubjektivität. Phänomenologische Perspektiven der Sozialwissenschaften im Umkreis von Aron Gurwitsch und Alfred Schütz. Hrsg. mit Richard Grathoff, Fink: München 1983.
als Editor und Übersetzer:
- Edmund Husserl: Die Krisis des europäischen Menschentums und die Philosophie. Beltz/Athenäum: Weinheim 1995.
- Maurice Merleau Ponty: Keime der Vernunft. Vorlesungen an der Sorbonne 1949–1952. Aus dem Franz. von Antje Kapust. Mit Anm. von Antje Kapust und Burkhard Liebsch, Fink: München 1994.
- Edmund Husserl. Arbeit an den Phänomenen. Ausgewählte Schriften. Fischer: Frankfurt/M. 1993.
- Maurice Merleau Ponty: Die Struktur des Verhaltens. Einleitung und Übersetzung, De Gruyter: Berlin 1976.
- Maurice Merleau Ponty: Das Sichtbare und das Unsichtbare. Übersetzung gemeinsam mit Regula Giuliani, Fink: München 1986.
Auszeichnungen
- 2012: Ehrendoktor der Universität Rostock[6].
- 2017: Sigmund-Freud-Kulturpreis[7]
- 2021: Dr.-Leopold-Lucas-Preis
Literatur
- Vernunft im Zeichen des Fremden. Zur Philosophie von Bernhard Waldenfels, hrsg. Matthias Fischer, Hans-Dieter Gondek, Burkhard Liebsch. Suhrkamp, Frankfurt/Main 2001.
- Philosophie der Responsivität. Festschrift für Bernhard Waldenfels zum 70. Geburtstag, hrsg. von Kathrin Busch, Iris Därmann, Antje Kapust. Wilhelm Fink, München 2007.
- Responsive Phänomenologie. Ein Gang durch die Philosophie von Bernhard Waldenfels. Huth, Martin, Peter Lang. Frankfurt/M. 2008.
- Jan Juhani Steinmann: Exzess und Selbst. Hyperphänomenologische Bewegungen nach Waldenfels. Cuvillier Verlag. Göttingen, 2021.
Einzelnachweise
- Bernhard Waldenfels: Ordnung im Zwielicht. Suhrkamp, Frankfurt am Main 1987 (engl. 1996)
- Bernhard Waldenfels: Topographie des Fremden. Studien zur Phänomenologie des Fremden I. Suhrkamp, Frankfurt am Main 1997, S. 33
- http://www.husserlarchiv.de/bernhard-waldenfels-archiv/publinkintern
- Jan Juhani Steinmann: Exzess und Selbst. Hyperphänomenologische Bewegungen nach Waldenfels. In: https://cuvillier.de/de/shop/publications/8564-exzess-und-selbst. Cuvillier Verlag, abgerufen am 10. Januar 2022 (deutsch).
- http://www.husserlarchiv.de/bernhard-waldenfels-archiv
- Universität Rostock verleiht Ehrendoktorwürde an den Philosophen Bernhard Waldenfels (Memento vom 8. Juli 2015 im Internet Archive)
- Bernhard Waldenfels-Archiv. Albert-Ludwigs-Universität Freiburg, archiviert vom Original am 24. Juli 2018; abgerufen am 24. Juli 2018.
Weblinks
- Literatur von und über Bernhard Waldenfels im Katalog der Deutschen Nationalbibliothek
- Literatur von und über Bernhard Waldenfels in der bibliografischen Datenbank WorldCat
- Homepage an der Ruhr-Uni Bochum
- Bernhard Waldenfels: Das Fremde im Eigenen (PDF; 40 kB), e-Journal Philosophie der Psychologie
- "Sinne und Künste im Wechselspiel". Bernhard Waldenfels im Gespräch mit Stephanie Metzger. Bayern 2 – hör!spiel!art.mix, Podcast zur Sendung vom 20. Januar 2012 (38 Min.) (Memento vom 10. Februar 2013 im Webarchiv archive.today)