Leib
Als Leib (von mittelhochdeutsch līp, „Leben, Leib, Körper“) bezeichnet man in Philosophie und Theologie den lebendigen Körper von Menschen oder Tieren. Mit der Rede vom Leib im Unterschied zum Körper können entweder eine besondere Steigerung des Körperlichen im metaphysischen Sinne (Theologie) oder Aspekte wie eine Selbstreferenz des Körpers auf den Körper gemeint sein (Philosophie).
Theologie
Im theologischen Sinne wird mit der Rede vom Leib die Idee einer individuellen Verbindung aus Person und immaterieller Seele artikuliert, da der biologische Körper-Begriff nicht ausreicht, um einen Träger für diese Einheit zu bestimmen. Man spricht auch vom „beseelten Körper“.
Der Leib-Begriff ist im Christentum insbesondere bedeutend in Bezug auf den Leib Christi und den Ritus der Heiligen Kommunion. Im Pantheismus steht er dagegen für die bewusstseinsfähige Erscheinung eines universalen Geistes in der Natur.
Philosophie
Leiblichkeitskonzepte in der Philosophie beziehen sich vor allem auf den Zusammenhang von Körper und Bewusstsein. Sie sind "in der modernen Philosophie wichtig geworden aus Ungenügen an der traditionellen Zerlegung des Menschen in Körper und Seele (oder Geist, mentale Inhalte), wobei die Seele als Innenwelt abgesondert ist und mit der übrigen Welt nur durch den Körper zusammenhängt, während der Körper dem Bewussthaber zwar unmittelbar vor Augen steht, von diesem aber als Objekt der Betrachtung, Überlegung und Benutzung distanziert ist. [...] Man sucht im Menschen einen Treffpunkt für das unmittelbar Ergreifende"[1].
In diesem Sinne ist der Leib-Begriff vor allem wichtig in der Phänomenologie. Hier wird mit seiner Hilfe die Rolle des Körpergefühls für die Kognition im Allgemeinen und für die philosophische Reflexion im Speziellen thematisiert. Der Leib steht einerseits für den körperlichen Wirklichkeitsbezug des Subjekts, wird andererseits jedoch vom Begriff des Körpers abgegrenzt: Der Körper ist das, was objektiv erfasst und gemessen werden kann, während der Leib (als subjektiv gespürter Leib) derartigen Objektivierungsverfahren nicht zugänglich ist. Einen Körper hat man, während man Leib ist. Diese Leib-Körper-Differenz ist in neueren Diskussionen über Kultur-, Sozial- und Neurowissenschaft wieder vieldiskutiert.
Edmund Husserl spricht vom Leib als "Nullpunkt" und beschreibt ihn als "merkwürdig unvollkommen konstituiertes Ding", das nur aus der Ersten-Personen-Perspektive erfahren werden kann, sich zugleich aber einer vollständigen Erfassung entzieht. Er steht hier für die Selbstreferenz des Leibes auf den Leib, gewissermaßen für den praktisch-motorischen Vollzug des Lebens, als "Medium zur Welt".[2]
Fundamental ausgearbeitet, in Bezug gesetzt zur Naturwissenschaft und als Grundbegriff wertvoll für die Philosophie wurde der Leib-Begriff mit der Phänomenologie der Wahrnehmung von Maurice Merleau-Ponty. Man kann davon sprechen, dass die Phänomenologie sich für eine 'Leib-Körper-Differenz' stark macht. Eine Phänomenologie der Leiblichkeit wurde im Anschluss an Merleau-Ponty im deutschen Sprachraum vor allem von Bernhard Waldenfels ausgearbeitet.[3]
In der sogenannten Neuen Phänomenologie bezeichnet Hermann Schmitz den Leib als das, „was jemand in der Gegend (nicht immer in den Grenzen) seines Körpers von sich selbst, als zu sich selbst gehörig, spüren kann, ohne sich der fünf Sinne, namentlich des Sehens und Tastens, und des aus deren Erfahrung gewonnenen perzeptiven Körperschemas (der habituellen Vorstellung vom eigenen Körper) zu bedienen.“[4]
Siehe auch
Literatur
- Emmanuel Alloa, Thomas Bedorf, Christian Grüny, Tobias Klass (Hrsg.): Leiblichkeit. Geschichte und Aktualität eines Konzepts, Mohr-Siebeck/UTB 2012.
- Axel W. Bauer: Körperbild und Leibverständnis. Die Sicht vom kranken und gesunden Menschen in der Geschichte der Medizin – dargestellt an ausgewählten Beispielen. In: Evangelische Akademie Iserlohn (Hrsg.), Tagungsprotokoll 82-1977: ‚Kalte Embryonen‘ und ‚Warme Leichen‘. Körperverständnis und Leiblichkeit. Christliche Anthropologie und das Menschenbild der Medizin. Tagung der Evangelischen Akademie Iserlohn vom 29. bis 31. August 1997. Iserlohn 1998, S. 21–38.
- Gernot Böhme: Ethik leiblicher Existenz: Über unseren moralischen Umgang mit der eigenen Natur. Suhrkamp, Frankfurt 2008, ISBN 978-3-518-29480-2.
- René Descartes: Beschreibung des Menschlichen Körpers (1648). und: Über den Menschen. Karl E. Rotschuh (Hrsg.). Lambert Schneider, Heidelberg 1968.
- René Descartes: Meditationen über die Erste Philosophie (1641). Übersetzt und herausgegeben von Gerhart Schmidt. Reclam, Stuttgart 1986, ISBN 3-15-002888-4.
- Stefan Grätzel: Die philosophische Entdeckung des Leibes. 1. Auflage. Steiner Franz Verlag, Stuttgart/ Wiesbaden 1989, ISBN 3-515-05430-8.
- Martin Hähnel, Marcus Knaup (Hrsg.): Leib und Leben. Perspektiven für eine neue Kultur der Körperlichkeit. 1. Auflage. Wissenschaftliche Buchgesellschaft, Darmstadt 2013, ISBN 978-3-534-25933-5.
- Michel Henry: Inkarnation: Eine Philosophie des Fleisches (Aus dem Franz. von Rolf Kühn). 3. Auflage. Karl Alber, Freiburg/ München 2011, ISBN 978-3-495-48051-9.
- Edmund Husserl: Ideen zu einer reinen Phänomenologie und phänomenologischen Philosophie. Martinus Nijhof, Haag 1950–1952. (u. a. Bd. 1, § 90, S. 225 f)
- Marcus Knaup: Leib und Seele oder mind and brain? Zu einem Paradigmenwechsel im Menschenbild der Moderne. Verlag Karl Alber, Freiburg 2013, ISBN 978-3-495-48626-9.
- Maurice Merleau-Ponty: Das Auge und der Geist. Philosophische Essays. Hans Werner Arndt (Hrsg.). Felix Meiner, Hamburg 1984, ISBN 3-7873-1545-4.
- Maurice Merleau-Ponty: Phänomenologie der Wahrnehmung. de Gruyter, Berlin 1966, ISBN 3-11-006884-2.
- Hilarion Petzold: Leiblichkeit: Philosophische, gesellschaftliche und therapeutische Perspektiven. Bd. 25, 2. Auflage. Junfermann-Verlag, Paderborn 1986.
- Guido Rappe: Leib und Subjekt. Projektverlag, Bochum 2012, ISBN 978-3-89733-255-3.
- Hermann Schmitz: Kurze Einführung in die Neue Phänomenologie. 3. Auflage. Verlag Karl Alber, Freiburg 2009, ISBN 978-3-495-48361-9.
- Hermann Schmitz: Der Leib (Grundthemen der Philosophie). de Gruyter, Berlin/ Boston 2011, ISBN 978-3-11-025098-5.
- Hermann Schmitz: Leib. In: Kirchhoff, Thomas (Hrsg.): Online Encyclopedia Philosophy of Nature / Online-Lexikon Naturphilosophie. Universitätsbibliothek Heidelberg, Heidelberg 2019: https://doi.org/10.11588/oepn.2019.0.65253, ISSN 2629-8821.
- Ernst Seidl u. a.: KörperWissen. Erkenntnis zwischen Eros und Ekel, MUT, Tübingen 2009, ISBN 978-3-9812736-1-8.
- Thorsten Streubel: Die Leibvergessenheit in der aktuellen Gehirn-Geist-Debatte. In: Perspektiven der Philosophie. Rodopi, Amsterdam 2010, ISBN 90-420-3182-4, S. 343–361.
- Bernhard Waldenfels: Das leibliche Selbst. Vorlesungen zur Phänomenologie des Leibes. 3. Auflage. Suhrkamp, Frankfurt am Main 2000, ISBN 3-518-29072-X.
- Unser Körper. Zwischen Ich und Welt (= Der blaue reiter. Journal für Philosophie. Nr. 26). Verlag der blaue reiter, Hannover 2008, ISBN 978-3-933722-24-9.
Weblinks
- DFG-Netzwerk „Kulturen der Leiblichkeit“
- Christian Julmi, Ewald Scherm: Subjektivität als Ausdruck von Lebendigkeit. In: Internationale Zeitschrift für Philosophie und Psychosomatik. 3. Jg., Nr. 1, 2012. (PDF; 343 kB)
- Phänomenologischer Leibbegriff im Topowiki
Einzelnachweise
- Hermann Schmitz: Leib. In: Kirchhoff, Thomas (Hg.): Online Encyclopedia Philosophy of Nature / Online-Lexikon Naturphilosophie. Universitätsbibliothek Heidelberg, Heidelberg 2019: https://doi.org/10.11588/oepn.2019.0.65253, hier: Abstract
- Emmanuel Alloa, Natalie Depraz: Edmund Husserl, der Leib, ein merkwürdig unvollkommen konstituiertes Ding. In: Leiblichkeit. Geschichte und Aktualität eines Begriffs. (= UTB-Handbuch.) 2012, S. 7–22.
- Bernhard Waldenfels, Das leibliche Selbst, Frankfurt/M. 2000.
- Hermann Schmitz: Kurze Einführung in die Neue Phänomenologie. München 2009, S. 35.