Aufstand der letzten Generation
Der Aufstand der letzten Generation (auch Letzte Generation) ist ein Bündnis von Aktivisten aus der Umweltschutzbewegung mit dem erklärten Ziel, durch Mittel des zivilen Ungehorsams Maßnahmen der deutschen und der österreichischen Bundesregierung gegen die Klimakrise zu erzwingen.
Akteure
Ein Teil der Aktiven rekrutiert sich aus Teilnehmern des „Hungerstreiks der letzten Generation“, die vor der Bundestagswahl 2021 im Berliner Regierungsviertel in den Hungerstreik getreten waren, um auf den Klimawandel, dessen Auswirkungen und die Verantwortung der kommenden Bundesregierung aufmerksam zu machen.[1]
Ziele und Themenschwerpunkte
Als erste Aktionsreihe führten die Aktivisten die Kampagne Essen Retten Leben Retten durch. Dabei wird gefordert, dass die neue deutsche Bundesregierung gesetzliche Maßnahmen für eine Agrarwende bis 2030 festlegt und als erste Sofortmaßnahme gegen Lebensmittelverschwendung vorgeht. Große Lebensmittelhändler sollen so verpflichtet werden, noch genießbares Essen zu spenden, was ein Beitrag gegen den Hunger sei und den CO₂-Ausstoß sofort reduzieren würde. Damit dies passiere, müsse die Bundesregierung ein Essen-Retten-Gesetz nach dem Vorbild Frankreichs einbringen. Um eine umfassende Agrarwende einzuleiten, solle sich die Bundesregierung an den Vorschlägen des Bürgerrat Klima orientieren. So solle sichergestellt werden, dass nachhaltig wirtschaftende Landwirtschaftsbetriebe besser entlohnt würden und eine „gute Ernährung“ für alle Menschen erschwinglich werde.[2]
Um darauf aufmerksam zu machen, dass ein erheblicher Teil der heute produzierten Lebensmittel weggeworfen wird, was laut dem WWF und der WHO global bis zu einem Drittel der erzeugten Lebensmittel betrifft,[3][4] führt die Gruppe deutschlandweit Container-Aktionen durch. Dabei entnehmen Aktivisten weggeworfene Lebensmittel aus Supermarktmülltonnen und verschenken diese öffentlich mit dem Hinweis auf deren illegale Herkunft. Einige Aktivisten zeigten sich aus Protest gegen die rechtliche Einordnung des Containerns als Diebstahl selbst an.[5][6] Somit soll mediale Aufmerksamkeit auf das Thema gelenkt werden.[7] Wie in einem Gespräch der Aktivisten Henning Jeschke und Lea Bonasera mit Bundeskanzlerkandidat Olaf Scholz (SPD) im November 2021 angekündigt, sperren die Aktivisten seit Beginn des Jahres 2022 Autobahnzufahrten mittels Sitzblockaden.[8][9][10]
In Österreich fordert die Gruppe von der Bundesregierung Maßnahmen gegen eine weitere Bodenversiegelung und für eine Agrarwende bis 2030 zu treffen.[11] Es bestehen Überschneidungen mit der Umweltaktionsgruppe Extinction Rebellion sowie der Protestbewegung gegen die Stadtstraße Aspern.[12]
Aktionsformen
Vor allem zu Beginn der Kampagne wurden in verschiedenen Städten containerte Lebensmittel öffentlichkeitswirksam verschenkt.[13]
Bei ihren Aktionen, wie landesweiten Straßenblockaden, orientiert sich die Gruppe am Vorbild der britischen Klimaschutz-Aktionsgruppe Insulate Britain.[14] Um die Räumung von Straßenblockaden durch die Polizei zu erschweren, kleben sich wie auch in Großbritannien immer wieder einzelne Aktivisten mit ihren Hand- oder Fußflächen auf den Straßenbelag. Dabei wird meist Sekundenkleber oder Bauschaum benutzt.
Aktionen
Am 14. Dezember 2021 schrieben fünf Aktivistinnen der Gruppe die Forderung „Essen Retten Agrarwende Gesetz jetzt! 2030“ auf das Bundeskanzleramt in Berlin. Die Polizei schritt ein und ließ den Schriftzug von der Fassade entfernen.[15][16]
Am 24. Januar 2022 blockierten Aktivisten erstmals die Ausfahrten der Autobahnen A 103 und A 114 in Berlin, was sich später durch ähnliche Aktionen an der Berliner Stadtautobahn A 100 fortsetzte. Bis zum 20. Februar 2022 registrierte die Berliner Polizei 44 Blockaden, bei denen 180 Menschen vorläufig festgenommen wurden. In zwölf Fällen ordneten Richter einen 24-stündigen Gewahrsam an, um weitere Taten zu verhindern.[17] Zur Bündelung der Ermittlungen richtete das Landeskriminalamt Berlin die Ermittlungsgruppe „EG Asphalt“ ein.[18] Straßenblockaden gab es nach Angaben der Aktivisten auch in Bayreuth,[19] Frankfurt am Main, Freiburg,[20] Göttingen, Hamburg, München und Stuttgart.[21]
Am 7. Februar 2022 blockierten Vertreter der Initiative mit dem Wiener Gürtel erstmals auch in Österreich eine Hauptstraße. Am 8. Februar 2022 wurde mit dem Verteilerkreis Favoriten auch eine Autobahnzufahrt behindert.[22][23]
Am 12. Februar 2022 pflanzten Aktivisten auf einer Rasenfläche am Bundeskanzleramt in Berlin Kartoffeln.[24]
Mitte Februar 2022 kündigte die Gruppe eine neue Phase mit radikaleren Aktionsformen an, sollte Bundeskanzler Olaf Scholz (SPD) nicht bis zum 20. Februar 2022 auf ihre Forderung reagieren, einen Zeitplan zur Einbringung eines „Essen-Retten-Gesetzes“ in den Bundestag zu verkünden.[25][26] Dann wollte man anfällige Infrastruktur stören und „zum Innehalten bringen“. Als Beispiele wurden Häfen und Flughäfen genannt, die Ausdruck eines unverändert fossilen Alltags seien.[27] Am 21. Februar 2022 kam es nach Ablauf des Ultimatums[25] zu den zuvor angekündigten Aktionen. Dabei blockierten etwa 35 Aktivisten Teile des Hamburger Hafens und die Köhlbrandbrücke, um gegen Lebensmittelverschwendung zu protestieren. Nach eigenen Angaben vergoss die Gruppe 60 Liter Rapsöl auf der Fahrbahn der Brücke; sie wollte damit eine „Störung des todbringenden Alltags“ erreichen. Ein Aktivist sprang in das Hafenbecken, um den Schiffsverkehr zu stören. Politiker verschiedener Parteien lehnten die Aktion ab und verlangten teilweise eine strafrechtliche Ahndung.[28][29]
Am 23. Februar 2022 blockierten Aktivisten Zufahrtsstraßen zu Flughäfen in Berlin, Frankfurt am Main und München,[30] nachdem sie zuvor angekündigt hatten, mit Ballons in die Flugsicherheitszonen der Flughäfen einzudringen.[31] Am 25. Februar wurden in Frankfurt Aktivisten mit Ballons von der Polizei angehalten und die Aktion damit beendet.[32]
Rezeption
Laut dem Sozialphilosophen Robin Celikates riskieren die Aktivisten mit ihren Blockadeaktionen bis zur Einführung eines Essen-Retten-Gesetzes den Vorwurf der Nötigung, wenn sie keine zusätzliche Überzeugungsarbeit in der breiten Öffentlichkeit leisten. Den von konservativen Kreisen vertretenen Vorwurf der Erpressung hält er für eine Diffamierung, da die Aktivisten keine Bereicherung anstreben. Laut Celikates, der sich mit der Erforschung des zivilen Ungehorsams beschäftigt, wollen die Aktivisten die Politik zum Handeln bewegen und durch Blockaden die Kosten in die Höhe treiben. Für Celikates gehören Protestformen wie ziviler Ungehorsam zur Demokratie und seien keine antidemokratische Praktik.[33]
Der Soziologe Harald Welzer hält den Aufstand der letzten Generation für eine radikalisierte Bewegung. Sie fühle sich als angeblich „letzte Generation“ legitimiert, die Welt vor dem Untergang zu bewahren, und sei bereit, bis zum Äußersten zu gehen. Dies sei eine Form von Selbstermächtigung auf der Basis einer absurden Legitimation. Die Blockadeaktionen sieht Welzer als Mittel, um Aufmerksamkeit für das eigene Anliegen zu erzielen. Er bezeichnet das Vorgehen der Bewegung als „zutiefst antidemokratisch“ und „infantil“.[34]
Die Co-Vorsitzende der Partei Bündnis 90/Die Grünen Ricarda Lang verteidigte Anfang Februar 2022 mit Blick auf die Aktionen der Gruppe zivilen Ungehorsam, solange er niemanden gefährde. Die Gesellschaft müsse sich fragen, „warum junge Menschen zu solchen Mitteln greifen“.[35] Lang distanzierte sich jedoch wenige Tage später von den Aktionen der Gruppe, nachdem von den Blockaden auch ein Rettungsfahrzeug betroffen war.[36]
Später kritisierte der Co-Vorsitzende der Partei Bündnis 90/Die Grünen Omid Nouripour die Protestmethoden der Gruppe; ihm fehle das Verständnis für die Blockade von wichtigen Straßen. Für ihn habe das Angehen von kritischer Infrastruktur, die Bedrohung von Menschen und das Aussprechen von Ultimaten mit Demokratie nicht mehr viel zu tun.[37]
Bundesminister Cem Özdemir (Bündnis 90/Die Grünen) kritisierte die Straßenblockaden als schädlich für das gemeinsame Ziel eines Gesetzes gegen Lebensmittelverschwendung. Man könne keine Mehrheiten gewinnen, wenn man Krankenwagen, Polizei oder Erzieherinnen auf dem Weg zur Arbeit blockiere.[38]
Für Martin Heger, Professor für Strafrecht, stellt die Ankündigung einer Blockade „eine Drohung mit einem empfindlichen Übel“ dar, so dass es sich um eine Nötigung handele.[28]
Weblinks
Einzelnachweise
- Ingo Salmen: Klimaaktivisten versperren Zufahrten zu Berliner Autobahnen – 24 Festnahmen. In: Der Tagesspiegel Online. 24. Januar 2022, ISSN 1865-2263 (tagesspiegel.de [abgerufen am 26. Januar 2022]).
- Forderungen an die deutsche Bundesregierung. In: Aufstand der letzten Generation. Abgerufen am 26. Januar 2022.
- Lara Haller: Lebensmittelverschwendung | Ursachen & Fakten. Welthungerhilfe, abgerufen am 22. Februar 2022 (deutsch).
- Lebensmittelverschwendung. WWF, 17. Februar 2022, abgerufen am 22. Februar 2022 (deutsch).
- Enno Schöningh: Umweltaktivistin über ihre Selbstanzeige: „Wir fordern ein Essen-retten-Gesetz“. In: Die Tageszeitung: taz. 22. Januar 2022, ISSN 0931-9085 (taz.de [abgerufen am 26. Januar 2022]).
- Heidelberg: Lebensmittel-Retter wühlen im Müll und zeigen sich selbst an. Rhein-Neckar-Zeitung, 24. Januar 2022, abgerufen am 26. Januar 2022.
- Tom Schneider: Rewe: Mann zeigt sich selbst bei Polizei an – DAS ist beim Supermarkt tatsächlich strafbar. In: Der Westen. Funke Digital, 23. Januar 2022, abgerufen am 26. Januar 2022.
- Nach Gespräch mit Scholz: Klimaaktivisten drohen mit Autobahn-Blockade. Norddeutscher Rundfunk, 13. November 2021, abgerufen am 8. Februar 2022.
- Arte Journal. (Nicht mehr online verfügbar.) Arte, 24. Januar 2022, ehemals im Original; abgerufen am 26. Januar 2022. (Seite nicht mehr abrufbar, Suche in Webarchiven)
- Klimaschützer blockieren Straßen: 24 Menschen in Gewahrsam. In: RTL news. RTL interactive, 24. Januar 2022, abgerufen am 26. Januar 2022.
- Forderungen an die österreichische Bundesregierung. In: Aufstand der letzten Generation. Abgerufen am 13. Februar 2022.
- Teresa Wirth: Aktivisten blockieren Wiener Gürtel: "Möglichst viel stören". In: Die Presse. 7. Februar 2022, abgerufen am 10. Februar 2022.
- Cornelia Steiner: Braunschweiger verschenken gerettete Lebensmittel. 9. Dezember 2021, abgerufen am 22. Februar 2022 (deutsch).
- Bettina Schulz: Insulate Britain: Sie glauben nicht ans Reden. Zeit Online, 4. November 2021, abgerufen am 8. Februar 2022.
- Klimaaktivisten pinseln Forderungen ans Kanzleramt. In: Der Tagesspiegel. 14. Dezember 2021, abgerufen am 8. Februar 2022.
- Louisa Theresa Braun: Klimaaktivistinnen verzieren Bundeskanzleramt (nd-aktuell.de). Abgerufen am 3. März 2022.
- Polizei bereitet sich auf Störungen von Klimaaktivisten am BER vor, Der Tagesspiegel vom 20. Februar 2022
- Andre Zuschlag: Blockade nach Ultimatum in Die Tageszeitung vom 21. Februar 2022
- FOCUS Online: Straßen-Blockierer verlagern Klima-Protest, doch Autofahrer vereiteln ihren Plan. Abgerufen am 3. März 2022.
- S. W. R. Aktuell, S. W. R. Aktuell: "Letzte Generation" blockiert erneut B31 in Freiburg. Abgerufen am 3. März 2022.
- Pressemitteilungen 2022. In: Webauftritt: Aufstand der Letzten Generation. Abgerufen am 10. Februar 2022.
- „Letzte Generation“ sorgte für Stauchaos in Wien. In: Neue Kronen Zeitung. 8. Februar 2022.
- Aktivisten blockieren Verteilerkreis in Favoriten. In: Die Presse. 8. Februar 2022, abgerufen am 10. Februar 2022.
- Klimaaktivisten pflanzen Kartoffeln vor dem Kanzleramt in: Der Tagesspiegel vom 12. Februar 2022
- Klimaaktivisten blockieren Brücke im Hamburger Hafen in: Der Tagesspiegel vom 21. Februar 2022
- Blockaden, Sabotageakte und „grüne RAF“: Klimaschützer wollen radikaler werden, RND, 20. Februar 2022
- Blockieren und Zerstören – Klima-Aktivisten kündigen Radikalisierung an, Welt Online, 20. Februar 2022
- „Aufstand der letzten Generation“ – Aktivisten: Blockieren derzeit Teile des Hamburger Hafens, Deutschlandfunk, 21. Februar 2022.
- Klimaaktivisten stören Warenverkehr am Hamburger Hafen, Zeit Online, 21. Februar 2022.
- Aktivisten kleben sich an Straßen fest in Der Spiegel, 23. Februar 2022
- Ankündigung im Bayrischen Rundfunk: "Letzte Generation" möchte Flughafenbetrieb am BER mit Ballons lahmlegen. In: Der Tagesspiegel. 23. Februar 2022, abgerufen am 24. Februar 2022.
- Letzte Generation: Protestaktion verhindert. In: FAZ.NET. ISSN 0174-4909 (faz.net [abgerufen am 3. März 2022]).
- Ruth Lang Fuentes: „Absichtlich rechtswidrig“ in: Die Tageszeitung, 21. Februar 2022
- Letzte Generation: Klimaschutz-Gruppe mit „absurder Legitimation“, NDR, 22. Februar 2022
- Grünenchefin zu Straßenblockaden durch Klimaaktivisten »Dahinter steckt eine große Sorge um die Zukunft«. In: Der Spiegel. 6. Februar 2022, abgerufen am 8. Januar 2022.
- Koalitionszoff wegen Autobahnprotesten in Berlin Justizminister maßregelt Umweltministerin, auch Grünen-Chefin geht auf Distanz. In: Der Tagesspiegel. 10. Februar 2022, abgerufen am 10. Januar 2022.
- Omid Nouripour bezeichnet Klimaprotestblockaden als demokratiefern, Die Zeit vom 21. Februar 2022
- Özdemir kritisiert Straßenblockade für „Essen-Retten-Gesetz“. Zeit Online, 10. Februar 2022.