Annemarie von Nathusius
Annemarie von Nathusius, eigentlich Anna Maria Luise von Nathusius (* 28. August 1874 in Ludom bei Posen; † 17. Oktober 1926 in Berlin), war eine deutsche Schriftstellerin. Ihr historischer Roman Das törichte Herz der Julie von Voß (1918) wurde bis 1937 neu aufgelegt. Ihre Novelle Malmaison wurde von Paul Ludwig Stein 1922 verfilmt unter dem Titel Es leuchtet meine Liebe.
Leben
Annemarie von Nathusius wurde als Tochter des konservativen Publizisten und Politikers Philipp von Nathusius-Ludom und der Anna Henriette von Nathusius, geborene Petzold (* 1842) geboren. Sie war eine Enkelin der Schriftstellerin Marie Nathusius und des Publizisten Philipp von Nathusius und damit Ur-Urenkelin der Dichterin Philippine Engelhard. Von 1882 bis 1884 lebte sie mit ihrer Familie auf dem Rittergut Nothwendig bei Filehne, wo ihr Vater mit dem Titel eines „fürstlich Hohenzollern’schen Hofkammerrathes“ den Besitz von Fürst Karl Anton von Hohenzollern zu Sigmaringen in Schlesien, Posen und Pommern verwaltete. In der Zeit von 1885 bis 1891 war Rudolstadt in Thüringen Wohnort der Familie. Ab 1887 war Nathusius Schülerin im Freiadeligen Magdalenenstift in Altenburg, das sie 1890 nach der Konfirmation verließ.
Schriftstellerin
Nach ihrer Heirat 1896 mit dem zweitgradigen Onkel und Maler Thomas von Nathusius lebte sie in Berlin. Nach der von ihr im Jahr 1900 durchgesetzten Trennung wurde die kinderlose Ehe 1904 geschieden. Nathusius hatte bereits Ende der 1880er Jahre in noch jungem Alter mit ersten schriftstellerischen Arbeiten im Bereich der Lyrik und Kurzprosa begonnen. Die ersten Veröffentlichungen fielen in die Jahre 1901 und 1902. Um 1902 lernte sie den Schriftsteller Paul Ilg kennen, mit dem sie Reisen ins Engadin, an die Riviera und nach Norditalien unternahm und in den Jahren 1904 und 1905 in finanziell sehr bedrängter Lage in München zusammenlebte. 1904 konnte sie ihren ersten Roman „Die Glücksucherin“ an die Berliner Illustrierte Zeitung verkaufen. 1905 kehrte sie nach Berlin zurück. In diesem Jahr erschien auch der zweite Roman „Die Herrin auf Bronkow“.
Zwischen 1905 und 1909 machte sie die Bekanntschaft von Fürst Christian Kraft zu Hohenlohe-Öhringen, der sie als Mäzen bis zu seinem Tod 1926 unterstützte, denn trotz aller literarischen Erfolge und des ihr zugeschriebenen Arbeitsfleißes konnte Annemarie von Nathusius zeitlebens nur mühsam ihre Existenz sichern. 1910 erfolgte die Veröffentlichung von „Der stolze Lumpenkram“, der als Schlüsselroman gilt. Es ist eine sehr genaue Verarbeitung familiärer Verhältnisse mit scharfer Distanzierung von den Lebensformen und politischen Ansichten des preußischen Adels. Die Veröffentlichung wurde von der preußischen Adelsgesellschaft und dem konservativen Lager als Kampfansage verstanden. Sie fand große Beachtung. Heftige Kontroversen mit Anfeindungen der Schriftstellerin waren die Folge. Mit diesem Roman forderte sie auch die politische und ökonomische Emanzipation der Frau. Dies machte sie in der radikalen Frauenbewegung bekannt, der sie aber nicht zugerechnet werden kann. Helene Stöcker und Minna Cauer gehörten zu ihrem engeren und ständigen Bekanntenkreis und mit Lily Braun war sie freundschaftlich verbunden.
Politische Betätigung
Im Jahr 1914 sorgte das Erscheinen ihres Romans „Ich bin das Schwert“ für eine erregte Debatte, die Öffentlichkeit und Presse polarisierte. Teile der Frauenbewegung und linksliberale Kreise begrüßten das Buch enthusiastisch, während Adel und gemäßigtes Bürgertum den Roman, so die Kreuzzeitung am 18. März 1914, als ein „von blindwütigem Haß diktiertes Pamphlet“ bezeichneten. Es ging um nicht weniger als um die Doppelmoral im Wilhelminischen Deutschland, um Diskriminierung, Abhängigkeit und Unterdrückung der Frau und des von einem männlichen Moral- und Ehrbegriff bestimmten Diktats vorehelicher Enthaltsamkeit der Frau. Nathusius schockierte mit der Feststellung, voreheliche Beziehungen seien nicht Privileg der Männer. Das Institut Ehe war für sie etwas Fragwürdiges geworden. Sie forderte dagegen über den Roman die Frauen auf, Frauenbefreiung und ein selbstbestimmtes Leben zu leben.
Bei Ausbruch des Ersten Weltkriegs im August 1914 zuerst kriegsbegeistert, kam sie in Verbindung mit der pazifistischen und antimilitaristischen Bewegung in Berlin, insbesondere ab Ende 1914 mit dem Bund Neues Vaterland und dessen wichtigsten Vertretern wie Georg Graf von Arco, Stefan Zweig, Albert Einstein, Alfred Hermann Fried und Clara Zetkin. Auch Helene Stöcker und Minna Cauer gehörten diesem Kreis an, und als ihre engeren Freunde im Bund sind der Publizist und Politiker Hellmut von Gerlach und Hans Paasche zu nennen. Annemarie von Nathusius war, so berichtete Hellmut von Gerlach, über militärische Verschlusssachen außergewöhnlich gut informiert und offenbar bereit, für den Erfolg ernsthafter Friedensbemühungen Geheimnisverrat zu begehen.
Über Hans Paasche begegnete sie 1916 Maximilian Kirsch (1893–1963). Es entwickelte sich aus dieser Bekanntschaft eine intensive aber auch konfliktträchtige Freundschaft. Hans Paasche hatte die Kriegserlebnisse des Lothringers unter dem Titel „Fremdenlegionär Kirsch – Eine abenteuerliche Fahrt von Kamerun in die deutschen Schützengräben in den Kriegsjahren 1914/15“ niedergeschrieben und veröffentlicht. Das Buch, offenbar als Antikriegsbuch konzipiert, fand eine große Leserschaft.
Die Freundschaft zu Maximilian Kirsch war wesentliches Motiv für eine Pkw-Reise von Nathusius durch Persien im Jahr 1924 und die gemeinsame Rückreise über Kurdistan. Ihr Reisebericht über diese Fahrt wurde 1926 unter dem Titel „Im Auto durch Persien“ mit einer Widmung an Christian Kraft zu Hohenlohe-Öhringen veröffentlicht.
Zwischen 1918 und 1926 griff Nathusius in rascher Folge historische Stoffe in Romanen und Erzählungen auf. „Das törichte Herz der Julie von Voß. Eine Hofgeschichte aus der Zopfzeit“ und „Rheinsberg. Ein märkischer Roman“ (1922) sind Frauengestalten aus der preußischen und märkischen Geschichte und Kultur gewidmet. In den zwei Erzählungen „Josephine“ und „Malmaison“ in „Es leuchtet meine Liebe“ (1921) ist die französische Revolution der historische Rahmen für Liebesgeschichten. Im Gesellschaftsroman „Im sinkenden Licht. Roman aus den achtziger Jahren“ (1922) bilden das gesellschaftspolitische Klima, Konflikte und Ereignisse der Bismarck-Zeit wie Sozialistengesetze und Afrika-Konferenz den Handlungsrahmen. Wie Gegenbilder zu den historischen Romanen schrieb Annemarie v. Nathusius in dieser Periode drei Zeitromane, in denen gesellschaftlicher Wandel und Umbruch der Nachkriegsjahre den Handlungshintergrund bestimmen, „Eros“ (1919), „Die Unerlösten. Eine Erzählung für Unmoralische“ (1921) und „Der Befreier“ (1923). Die Veröffentlichungen erreichten zum Teil hohe Auflagen, so dass sie durchaus als Erfolgsautorin in der Frühphase der Weimarer Republik bezeichnet werden kann.
Neben dem schriftstellerischen Wirken zeigte sie sich als eine engagierte politische Streiterin und Verteidigerin der Weimarer Republik. Sie war eine häufige Besucherin des „Reformisten-Stammtisches“ im Café Josty. Sie empörte sich über die Putschversuche der Rechten, die politischen Morde und Aktivitäten rechtsgerichteter Freikorps, der auch ihr Freund Hans Paasche am 21. Mai 1920 zum Opfer fiel. Ihr Nachruf auf Paasche in der von Maximilian Harden herausgegebenen Zeitschrift Die Zukunft (1920, S. 250f.) ist beredter Ausdruck ihrer Einstellung: „Ich höre immer die Soldateska sei tot. Nach fünf Jahren wahnwitzig hemmungslosen Wüthens, in denen Alle, deren Vernunft sich sträubte, in den Heldentod geschickt wurden, während die meisten derer, die ihn predigten und anpriesen, sich wohlweislich vor ihm hüteten (um jetzt einträgliche Memoiren zu schreiben), nach diesen Tollhausjahren kam die Revolution. Sie enthronte alle die komischen Leute, die längst schon ins Märchenbuch gehören, und schuf eine Republik. Allerdings: Eine Republik ohne Republikaner.“
Sie nahm demonstrativ und exponiert an den Trauerfeierlichkeiten für Rosa Luxemburg und Karl Liebknecht teil, obwohl sie niemals eine Zugehörigkeit zum linken Parteispektrum entwickelte. Sie schrieb bereits am 8. März 1910 an August Bebel: „Natürlich bin ich keine Politikerin – auch keine Frauenrechtlerin –, von den großen Segnungen und Riesenarbeiten der Sozialdemokratie habe ich wahrscheinlich sehr wenig Ahnung. Aber wo einer für Kultur und Gerechtigkeit kämpft, da bin ich dabei!“
Krankheit und Tod
1925 hielt sich Nathusius wegen ihres schon immer fragilen Gesundheitszustandes und einer durch die Persienreise verschlechterten Zuckerkrankheit zeitweilig in Baden-Baden auf. In dieser Zeit arbeitete sie an der Abfassung des persischen Reisetagebuches und an den Romanen „Die Trennung“ und „Im Rosengarten der Königin“. Am 15. Oktober 1926 reiste sie nach Berlin, um Einzelheiten eines Buchprojektes zu klären. Nathusius starb am 17. Oktober im Berliner Krankenhaus Bethanien. Die Einäscherung mit Trauerfeier fand am 21. Oktober im Krematorium Wilmersdorf statt. Die Beisetzung der Urne erfolgte am 31. Mai 1927 auf dem Friedhof Grunewald.
Bei allem politischen Engagement blieben die Anziehungskraft der Kunst und das Empfinden für eine Gemeinsamkeit von Schriftstellern und Künstlern die entscheidende Triebfeder ihres eigenen Lebens. Der Journalist und Schriftsteller Hermann Kesser, ein Wegbegleiter ihrer letzten Berliner Jahre, schrieb in einer Würdigung 1928 im Berliner Tageblatt. „Sie war nur zur Hälfte eine Schriftstellerin. Die andere Hälfte dieser Frau waren Glut und Protest... An ihrem Berlinischen, an ihrer Pausenlosigkeit ist sie, immer einen Lebenspunkt mit dem anderen verbindend, gestorben. Ein Hohlraum bleibt noch lange... Als ein Weib, das gezeigt hat, was Freiheit heißt, und doch keine Emanzipationsfrau gewesen ist; als ein Produkt Berlins, das große Exzesse im Durchstoßen von Wänden und Mauern vollbracht und jedes Herkommen aufgehoben hat... Einen Kranz auf ihr Grab!“[1]
Werke
- Mann und Weib. Geschichten und Gedanken, Richard Eckstein, Nachf. H. Krüger, Berlin o. J. (1901), Buchschmuck Marcus Behmer(ungenannt).
- Freie Worte! Lieder und Skizzen, mit Buchschmuck von Marcus Behmer, Richard Eckstein, Berlin ca. 1902
- Die Glücksucherin, Berliner Illustrierte Zeitung, 1904; Buchausgabe O. Janke, Berlin 1911. 1921
- Die Herrin auf Bronkow. Eine Gutsgeschichte, Otto Janke, Berlin 1905.1907
- Erika. Erzählung, Kürschners Bücherschatz: Roman und Novellensammlung, Nr. 548, Hermann Hillger, Berlin und Leipzig 1907
- Heimatklänge.5 Erzählungen und 16 Gedichte, Otto Janke, Berlin 1907
- Das Heidehaus, Webers moderne Bibliothek Nr. 126, Otto Weber, Heilbronn a.N., 1908
- Um die Heimat, Deutsche Roman-Zeitung 1908, Nr. 48–52; Buchausgabe. Otto Janke, Berlin 0.J. (1909)
- Der stolze Lumpenkram, Otto Janke, Berlin 1910, 10. Aufl. 1914
- Thekla, In: Deutsches Frauenbuch, hrsg. von Hermann Beuthenmüller, Franz Moeser Nachf., o. J. Leipzig, Berlin (um 1910), S. 329–343
- Der Herr der Scholle, Seyfert, Dresden 1911
- Die Reise nach Baden.Erzählung, Die Woche, Moderne Illustr. Zeitschrift, 13. Jg., Bd.IV (Heft 40–52), August Scherl, Berlin 1911; Buchausgabe, C.Reißner, Dresden-Blasewitz 1912
- Der Schatz von Sevengade. Prinzessin Leonor. 2 Erzählungen, Hermann Hillger, Berlin und Leipzig 1913; Kürschners Bücherschatz Nr. 805
- Ich bin das Schwert!, C. Reissner, Dresden 1914
- Das Haus mit den Rosen, Hillger, Berlin und Leipzig 1917
- Das törichte Herz der Julie von Voß. Eine Hofgeschichte aus der Zopfzeit, Mit 13 Zeichnungen von Dorothea Hauer, Deutsche Verlags-Anstalt, Stuttgart und Berlin 1918
- Schloss Wusterode. Erzählung, Hausfreund-Bibliothek, Bd. 183, Klambt Verlag, Neurode u. a. 1919
- Eros. Roman, Deutsches Verlagshaus Bong & Co., Berlin, Leipzig, Wien, Stuttgart 1919
- Jugendträume, Eckstein, Leipzig 1920
- Es leuchtet meine Liebe. Erzählungen, Deutsche Verlags-Anstalt, Stuttgart und Berlin 1921
- Die Unerlösten. Eine Erzählung für Unmoralische, W. Borngräber, Berlin 1921
- Die Glücksucherin, Otto Janke, Berlin 1921
- Rheinsberg. Ein märkischer Roman, Deutsche Verlags-Anstalt, Stuttgart und Berlin 1922
- Im sinkenden Licht. Roman aus den achtziger Jahren, Ullstein, Berlin 1922
- Der Befreier, Schwert-Verlag, Berlin 1923
- Heimat. Novellen, Schwert-Verlag, Berlin 1923
- Gräfin Dorothee. Erzählung, in: Westermanns Monatshefte, 70. Jg. (Sept. 1925 – August 1926, Bd. 140 II, H. 839, S. 501–508)
- Im Auto durch Persien (Reisebericht), C. Reissner, Dresden 1926
- Im Rosengarten der Königin, Illustrierte Kölnische Zeitung, 1926 (Heft 2,1.09.-Heft 13, 25. November 1926)
- Die Trennung. Roman, K.F.Köhler Verlag, Berlin 1927
Weblinks
Literatur
- Petra Budke und Jutta Schulze, Schriftstellerinnen in Berlin 1871–1945. Ein Lexikon zu Leben und Werk. Der andere Blick. Frauenstudien in Wissenschaft und Kunst, ISBN 3-929823-22-5, Orlanda Frauenverlag, Berlin 1995
- Ruth Stummann-Bowert, „Es leuchtet meine Liebe“. Annemarie von Nathusius (1874–1926). Eine adlige Rebellin. Biographie und Werk, ISBN 978-3-8260-4674-2, Königshausen & Neumann, Würzburg 2011
Einzelnachweise
- Herrmann Kesser: Das lineare Berlin. Grundriß eines Aufenthalts. In: Berliner Tageblatt, 10. Juni 1928.