Annemarie Jacir
Annemarie Jacir (arabisch آن ماري جاسر, * 17. Januar 1974 in Bethlehem) ist eine palästinensisch-amerikanische Filmemacherin. International bekannt wurde sie mit ihrem Spielfilm Das Salz des Meeres.
Leben
Annemarie Jacir stammt aus einer der ältesten christlichen Familien Bethlehems.[1] Sie wuchs dort und in Riad auf. Mit 16 Jahren schickten ihre Eltern sie in die USA auf eine Privatschule in Dallas. Anschließend besuchte sie ein College in Kalifornien. Sie jobbte in der Filmindustrie von Los Angeles, bevor sie in New York ein Masterstudium im Fach Film an der Columbia University absolvierte. Ihre Karriere beim Film begann sie als Editorin und Kamerafrau. Nach dem Studium kehrte sie nach Palästina zurück, pendelte zwischen Ramallah und New York. Nachdem ihr im November 2007 die Einreise ins Westjordanland verwehrt worden war, lebte sie einige Zeit in Amman in Jordanien.[1] Um sich in Israel niederlassen zu können, nahm sie die US-amerikanische Staatsbürgerschaft an. Sie lebt mit ihrem Ehemann und Kind in Haifa.[2] Gemeinsam mit ihrer Schwester, der Künstlerin Emily Jacir, eröffnete sie 2019 in dem restaurierten, 1890 von ihrem Großvater erbauten Haus in Bethlehem ein Kulturzentrum, das „Dar Yusuf Nasri Jacir for Art and Research“.[3] Neben ihrer Filmarbeit schreibt Annemarie Jacir Gedichte, die u. a. in der Anthologie The Poetry of Arab Women. A Contemporary Anthology veröffentlicht wurden.[4]
Werk
Filmemacherin
Jacir arbeitet im Bereich des Independent-Films und hat als Drehbuchautorin, Regisseurin oder Produzentin an über 16 Filmen mitgewirkt.[5] Sie drehte Kurz- und Dokumentarfilme sowie bis 2017 drei Spielfilme, die als offizielle palästinensische Beiträge für den Oscar in der Kategorie „Bester ausländischer Film“ eingereicht wurden, aber nicht in die engere Auswahl kamen. Sie gehört zu der kosmopolitischen Generation arabischer Filmschaffender, die seit den 1960er Jahren geboren und in Europa oder den USA ausgebildet wurden.[6] Jacirs Filme beschäftigen sich aus einer transnationalen Perspektive mit palästinensischer Identität auf dem Hintergrund der „Nakba“ und mit der Suche nach kulturellen Wurzeln.
Sie war 1997 Mitbegründerin von Philistine Films, eine Produktionsgesellschaft der unabhängigen arabischen Filmszene,[7] die 2003 ihren Kurzfilm Like Twenty Impossibles produzierte. Der 17-minütige Film ist wie eine Dokumentation inszeniert. Er folgt einer Filmcrew von der West Bank bis Jerusalem. Der Titel zitiert eine Zeile aus dem Gedicht Here we shall stay des Dichters Tawfiq Ziad.[8] Er war der erste arabische Film in der Auswahl des Filmfestivals von Cannes und wurde für die Student Academy Awards nominiert.[9] Er gewann mehrere Preise bei internationalen Filmfestivals wie dem Palm Springs International ShortFest, dem Chicago International Film Festival, der Institute Du Monde Arabe Biennale und dem Internationalen Filmfestival Mannheim-Heidelberg.
Im Jahr 2004 war Jacir auf der Liste der „25 neuen Gesichter im Indie-Kino“ der amerikanischen Zeitschrift Filmmaker.[10]
Als erste palästinensische Regisseurin drehte sie einen abendfüllenden Spielfilm: Das Salz des Meeres erzählt die Geschichte einer in Brooklyn geborenen Amerikanerin mit palästinensischen Wurzeln, die das erste Mal durch das Land ihrer Vorfahren reist.[11] Jacir wurde für das beste Drehbuch beim Internationalen Dubai Filmfestival ausgezeichnet. Bei der Verleihung gab sie den Preis an den irakischen TV-Journalisten Muntaser al-Saidi weiter, der kurz zuvor während einer Pressekonferenz in Bagdad als Symbol des Protestes seine Schuhe nach dem damaligen US-Präsidenten George W. Bush geworfen hatte.[12]
Jacirs Spielfilm Lamma shoftak (englisch: „When I Saw You“) aus dem Jahr 2012 schildert das Leben eines zwölfjährigen Jungen und seiner Mutter nach dem Sechstagekrieg von 1967 im jordanischen Flüchtlingslager in Harir. Neben anderen Auszeichnungen erhielt er 2013 auf der Berlinale den NETPAC-Preis.[13][14]
In ihrem dritten Spielfilm aus dem Jahr 2017 begibt sich ein Vater mit seinem nach Italien ausgewanderten Sohn auf eine lange Autofahrt durch Nazareth, um nach einer palästinensischen Tradition – man nennt sie „Wajib“ – Hunderte Einladungen zur Hochzeit der Tochter persönlich zu überbringen.[15] Jacir wurde zu diesem Film durch den „Wajib“ ihres Ehemannes inspiriert.[16] Mit ihrer autobiographisch gefärbten Geschichte thematisiere sie „parabelartig die Krux jener clanartigen Großfamilien, die unter Muslimen ebenso anzutreffen sind wie im Kulturkreis arabischer Christen, aus dem sie stammt“, so die Kritik in epd Film.[17] Der auch als Komödie und kammerspielartiges Roadmovie beschriebene Film lief im Wettbewerb beim Locarno Film Festival und gewann u. a. den „Don Quixote-Preis“ des Filmclubs.[18]
Jacirs Werk wird mit den Filmen gleichaltriger iranischer Regisseurinnen und Regisseure verglichen: charakteristisch sei die scheinbar beiläufige, in Wirklichkeit durchdachte Kameraführung, natürlich wirkende Schauspiel-Performances und ein Hang zur Dramatik.[1]
Im Jahr 2018 war Jacir Jurymitglied der Reihe Un Certain Regard in Cannes.[19]
2020 wurde sie in die Wettbewerbsjury der 70. Internationalen Filmfestspiele Berlin berufen.[20]
Festivalkuratorin und Dozentin
Um das palästinensische Kino zu fördern, gründete sie zusammen Hamid Dabashi das Filmfestival „Dreams Of A Nation“, dessen Kuratorin sie 2003 und 2004 war.[21][22] Sie unterrichtete Filmarbeit an den Universitäten von Columbia, Bethlehem und Birzeit sowie in Flüchtlingslagern in Palästina, im Libanon und in Jordanien.[23]
Filmografie
Langfilme
- Wajib (2017), Drehbuch und Regie
- Lamma shoftak – When I Saw You (2012), Drehbuch und Regie
- Das Salz des Meeres (2008), Drehbuch, Regie und Produktion
Kurzfilme
- An Explanation – And Then Burn the Ashes (2006)
- Quelques miettes pour les oiseaux (2005)
- Like Twenty Impossibles (2003)
- The Satellite Shooters (2001)
- A Post Oslo History (2001)
Weblinks
Einzelnachweise
- Nicholas Blincoe: Annemarie Jacir: an auteur in exile. In: The Guardian. Guardian News & Media Limited, 5. Juni 2014, abgerufen am 21. Oktober 2019 (englisch).
- Christian Walther: Weshalb die einen feiern und die anderen gedenken, SFR, 15. Mai 2018
- Awad Hamad: Inaugural Exhibition of Dar Yusuf Nasri Jacir for Art and Research in Bethlehem. Bericht auf der Website der unabhängigen Qattan Foundation, 9. Juli 2019
- Fayeq Oweis: Annemarie Jacir, in: Encyclopedia of Arab American Artists. Greenwodd Publishing, London 2007, ISBN 978-0-313-33730-7, S. 165
- Annemarie Jacir will receive the 17th Human Rights Film Festival Award. In: Human Rights Film Festival Donostia / San Sebastian. 12. April 2019, abgerufen am 25. September 2019 (englisch).
- Roy Armes: New Voices in Arab Cinema, Indiana University Press, 2015, ISBN 978-0-253-01528-0, S. 20–21
- Filmmaker/Screenwriter Annemarie Jacir '02, Coumbia Film Alum, To Receive Andrew Sarris Award At Columbia University Film Festival. In: Columbia University School Of Arts. Columbia University, 21. April 2016, abgerufen am 18. Oktober 2019 (englisch).
- Anna Ball: Palestinian Literature and Film in Postcolonial Feminist Perspective, Routledge, London 2012, ISBN 978-1-138-10953-7, S. 122
- Barbara McGuire,Jill Feiwell, Barbara McGuire, Jill Feiwell: Acad unveils 28 student kudos finalists. In: Variety. 8. Mai 2003, abgerufen am 2. Oktober 2019 (englisch).
- 25 New Faces Of Indie Film 2004. In: Filmmaker Magazine. IFP (Independent Filmmaker Project), abgerufen am 26. September 2019 (englisch).
- Ian Mundell: ‘Salt’ to be Palestinian Oscar entry. In: Variety. Variety Media, LLC, 22. September 2008, abgerufen am 1. Oktober 2019 (englisch).
- Dubai-Filmfestival. Schuhwerfer von Bagdad bekommt Drehbuchpreis, Spiegel Online Kultur, 18. Dezember 2008
- Extra-Preise der 63. Berlinale. In: Welt Online. Axel Springer SE, 16. Februar 2013, abgerufen am 18. Oktober 2019.
- Ed Meza: ‘When I Saw You’ to be Palestinian Oscar entry. In: Variety. Variety Media, LLC, 6. September 2012, abgerufen am 18. Oktober 2019 (englisch).
- Geri Krebs: «Wajib» – Hochzeit mit Hindernissen, NZZ, 7. März 2018
- Leigh Singer: “Laughing is a way to resist”: Annemarie Jacir on her father-son wedding drama Wajib. In: BFI. British Film Institute, 7. Januar 2019, abgerufen am 21. Oktober 2019 (englisch).
- Manfred Riepe: Kritik zu Wajib, epd, 23. August 2019
- “Nazareth is a Violent City… But It’s also Hilarious”: Director Annemarie Jacir on Wajib, Filmmaler Magazine, 13. September 2017
- Palestinian director and writer Annemarie Jacir is also among the four additional jurors for the official sidebar. The Hollywood Reporter, 7. Mai 2018
- Berlinale 2020: Internationale Jury. In: berlinale.de, 4. Februar 2020 (abgerufen am 4. Februar 2020).
- „I Wanted That Story to Be Told“, Interview mit Annemarie Jacir, in: Alif. Journal of Comparative Poetics, No. 31/2011, The Other Americas, S. 241–254 (Preview)
- Hamid Dabashi: About Dreams of a Nation. In: The Center for Palestine Studies. Abgerufen am 2. Oktober 2019 (englisch).
- Carol Fadda-Conrey: Contemporary Arab-American Literature: Transnational Reconfigurations of Citizenship and Belonging. NYU Press, 2014, ISBN 978-1-4798-2692-6 (google.de [abgerufen am 2. Oktober 2019]).