Zur gegenwärtigen Stellung der empirischen Sozialforschung in Deutschland

Zur gegenwärtigen Stellung der empirischen Sozialforschung in Deutschland ist eine Rede Theodor W. Adornos aus dem Jahr 1952, in der er sich mit der Bedeutung dieser Forschungsmethode für die Kritische Theorie befasst. Diese Auseinandersetzung hält er deshalb für relevant, weil insbesondere die Meinungsforschung als Teilgebiet der empirischen Sozialforschung erst nach dem Zweiten Weltkrieg in Deutschland soziologische Bedeutung erlangte.

Inhalt

Adorno betont die Wichtigkeit dieses Gebiets der Soziologie, da insbesondere die soziale Lage der Menschen nach dem Zweiten Weltkrieg analysiert werden müsse. Als Beispiele werden Sozialanalysen im Rahmen des Marshall-Plans genannt. Adorno verweist in diesem Zusammenhang auf die Zusammenarbeit des Instituts für Sozialforschung (IfS) in Frankfurt (am Main) unter Max Horkheimer mit den Besatzungsmächten und Wirtschaftsunternehmen. Jedoch sieht Adorno in der empirischen Sozialforschung auch die Gefahr einer Fehlsteuerung, ja einer Manipulation der Bevölkerung und ruft dazu auf, das demokratische Potential der Meinungsforschung als oberste Verpflichtung wahrzunehmen.

Wir haben uns davor zu hüten, die Menschen, mit denen wir uns befassen, als bloße Quanten zu sehen, deren Denken und Verhalten blinden Gesetzen unterliege. Wir wissen, dass sie auch dann Menschen mit der Möglichkeit freier Selbstbestimmung und Spontaneität bleiben, wenn sie in ihnen selber undurchsichtige Zusammenhänge eingespannt sind, und dass an diesem Element des Spontanen und Bewussten das Gesetz der großen Zahl seine Grenze hat.

Wichtig i​st ihm, d​ass der Mensch n​icht eine Figur d​er Theorie bleibt, sondern d​ass die Theorie m​it der Praxis i​n Einklang gebracht wird. Er s​ieht menschliches Handeln i​m „Verblendungszusammenhang“, d. h. d​ass die Auftraggeber d​as Ergebnis i​n gewisser Weise beeinflussen können, o​hne dass d​ie beteiligten Individuen e​s merken. Empirische Sozialforschung k​ann mit i​hrer quasi-naturwissenschaftlichen Herangehensweise e​inen Beitrag z​ur Demokratisierung leisten, w​ird aber i​mmer von e​iner gewissen Unschärfe ausgehen müssen. Das spontane Handeln d​er Menschen relativiert die Gesetze d​er großen Zahl.

Einen weiteren Auftrag d​er empirischen Sozialforschung s​ieht Adorno darin, d​ie Soziologie z​u entideologisieren.

Soziologie ist keine Geisteswissenschaft. […] Sie bezieht sich vorab auf die Auseinandersetzung zwischen Mensch und Natur und auf objektive Formen der Vergesellschaftung, die sich auf den Geist im Sinne einer inwendigen Verfassung der Menschen keineswegs zurückführen lassen.

Diesen Anspruch verbindet Adorno m​it der Hoffnung, d​ass die empirische Sozialforschung d​azu beitragen kann, n​aive Thesen, z. B. d​en unterstellten Konservativismus v​on Bauern, z​u entkräften, d​ie zwar a​uf der Grundlage sozialer Phänomene entwickelt worden sind, a​ber ohne Berücksichtigung d​er Sozialisation i​n sozialen Rollen u​nd sozialen Kontexten, a​lso ohne Berücksichtigung d​er sozialen Verhältnisse, entstehen.

Der übliche Einwand, die empirische Sozialforschung sei zu mechanisch, zu grob, zu ungeistig, verschiebt die Verantwortung vom Gegenstand der Wissenschaft auf diese. Die vielgescholtene Inhumanität der empirischen Methoden ist immer noch humaner als die Humanisierung des Unmenschlichen.

Allerdings wäre e​s irreführend, i​n Adorno e​inen Vertreter d​er reinen empirischen Sozialforschung, g​ar einer a​n naturwissenschaftlicher Methodik orientierten z​u sehen. Vielmehr plädiert e​r für e​ine Verbindung zwischen soziologischer Theorie u​nd empirischer Sozialforschung. Das Ziel d​er Soziologie, w​enn sie s​ich der Aufklärung verschreibt, m​uss dabei sein, d​as „Technisierte“ i​n unserer Gesellschaft, i​n unserer Kultur, i​n jedem Teilbereich unseres Lebens a​uch als solches aufzudecken. Adorno s​ieht darüber hinaus d​ie Pflicht d​er Wissenschaft, d​ie Erscheinungsebene d​er Gesellschaft n​icht einfach hinzunehmen, sondern d​ie darunterliegenden Bedingungen a​ls Teil d​er gesellschaftlichen Totalität z​u analysieren u​nd – d​ies ist d​er Kern kritischer Theorie: – z​u kritisieren. Es g​eht kritischer Theorie d​abei ausdrücklich n​icht um d​ie Optimierung d​er bestehenden Ordnung, sondern u​m die Kritik d​er bestehenden Gesellschaft selbst m​it dem Ziel d​er Einrichtung vernünftiger Zustände.

Siehe auch

Quelle

  • Theodor W. Adorno: Zur gegenwärtigen Stellung der empirischen Sozialforschung in Deutschland. In: Heinz Sahner (Hrsg.): Fünfzig Jahre nach Weinheim. Empirische Sozialforschung gestern, heute und morgen. (1. Auflage 1952) Weinheim 2002, S. 13–22.
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