Zentrum für Nachrichtenwesen der Bundeswehr
Das Zentrum für Nachrichtenwesen der Bundeswehr (ZNBw; bis 2002 Amt für Nachrichtenwesen der Bundeswehr; ANBw) war die zentrale Dienststelle der Bundeswehr zur Feststellung, Analyse und Bewertung der militärischen und politischen Lage anderer Staaten sowie der militärischen Sicherheitslage der Bundesrepublik Deutschland. Es wurde zum 31. Dezember 2007 aufgelöst. Standort war zuletzt die Philipp-Freiherr-von-Boeselager-Kaserne in Grafschaft, Ortsteil Gelsdorf, bei Bonn.
Zentrum für Nachrichtenwesen der Bundeswehr | |
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Internes Verbandsabzeichen | |
Aktiv | 24. April 1956 bis 31. Dezember 2007 |
Staat | Deutschland |
Streitkräfte | Bundeswehr |
Organisationsbereich | Streitkräftebasis |
letzter Standort | Grafschaft |
Alte Bezeichnungen | |
Mai 1956 – 1958 | Dienststelle für Fernmeldeaufklärung und Schlüsselwesen |
1958 – 31.03.1964 | Fernmeldedienststelle der Bundeswehr |
01.04.1964 – 30.09.1979 | Amt für Fernmeldewesen der Bundeswehr |
01.10.1979 – 30.06.2002 | Amt für Nachrichtenwesen der Bundeswehr |
Geschichte
Generalleutnant Hans Speidel, damals Chef der Abteilung IV „Gesamtstreitkräfte“ im Bundesministerium der Verteidigung, gab am 24. April 1956 den Befehl zur Aufstellung der Dienststelle für Fernmeldeaufklärung und Schlüsselwesen in Ahrweiler. Bereits am 16. April 1956 hatte sich ein Vorkommando der Fernmeldedienststelle der Streitkräfte (VP FmDstStStKr) in Ahrweiler etabliert, unter anderem zur Einrichtung des ersten Dienstgebäudes, das Haus Wiess. Zum 1. Mai 1956 wurde Brigadegeneral Friedrich Boetzel erster Leiter der Dienststelle.[1] Zum 15. Juli 1958 erfolgt die Umbenennung in Fernmeldedienststelle der Bundeswehr (FmDstStBw), zum 1. April 1964 in Amt für Fernmeldewesen der Bundeswehr (AFmWBw). In Amt für Nachrichtenwesen der Bundeswehr (ANBw) wurde die Dienststelle am 1. Oktober 1979 umbenannt. Im Mai 1983 wurde die ehemalige Kurklinik Ahrblick als Dienstgebäude bezogen. 1985 begannen die Planungen für einen Neubau in Grafschaft-Gelsdorf. 1996 zog das Amt in die neue Liegenschaft nach Grafschaft-Gelsdorf um. Die Kaserne wurde 2009 nach Philipp Freiherr von Boeselager benannt. Das Amt wurde zum 1. Juli 2002 in Zentrum für Nachrichtenwesen der Bundeswehr umbenannt und umgegliedert. Es lieferte und analysierte Informationen für das Einsatzführungskommando der Bundeswehr und das Bundesministerium der Verteidigung in enger Zusammenarbeit mit dem Bundesnachrichtendienst, dem Auswärtigen Amt und weiteren Sicherheitsorganen der Bundesrepublik.
Das Bundesministerium der Verteidigung kann dem Bundesnachrichtendienst keine Weisungen erteilen, weil dieser nicht dessen Geschäftsbereich angehört, sondern eine dem Bundeskanzleramt nachgeordnete Bundesoberbehörde ist. Daher betrachtete sich das ZNBw nicht als überflüssig, auch wenn der Bundesnachrichtendienst ähnliche Aufgaben wahrnahm. Gestaffelte Geheimhaltungsgrade oder der Schutz von Quellen des Bundesnachrichtendienstes ließen meist nur eine sehr eng umgrenzte Weitergabe einzelner Informationen durch den Bundesnachrichtendienst zu. Das Zentrum für Nachrichtenwesen der Bundeswehr lieferte an das Bundesministerium der Verteidigung seine Informationen dagegen vollständig und verzuglos.
Das ZNBw wurde mit Wirkung zum 31. Dezember 2007 außer Dienst gestellt. Die Aufgaben des Zentrum für Nachrichtenwesen der Bundeswehr wurden von zehn Dienststellen übernommen. Die Kernaufgaben fielen an den Bundesnachrichtendienst; weitere Aufgaben wurden an das Kommando Strategische Aufklärung, das Streitkräfteunterstützungskommando sowie Ämter und Führungskommandos der militärischen Organisationsbereiche übertragen.[2] Die Lehrgruppe Militärisches Nachrichtenwesen – die Ausbilder und die Lehrgangsdurchführung – wurde schrittweise in die Schule für Strategische Aufklärung der Bundeswehr in Flensburg integriert.[3] Die Ausbildung der Militärattachés ging zum Kommando Strategische Aufklärung (KdoStratAufkl). Die Ausbildung der Lehrgruppe in Bad Ems endete am 30. September 2008.
Auftrag
Das ZNBw hatte den Auftrag zur Feststellung, Analyse und Bewertung militärischer und politischer Lagen anderer Staaten sowie zur Lageeinschätzung der militärischen Sicherheitslage Deutschlands beizutragen.
Die Hauptinformationsquellen des Zentrums waren der Bundesnachrichtendienst, die Einsatzkontingente, das Zentrum Operative Information, Militärattachés, das Feldnachrichtenzentrum der Bundeswehr, Botschafter, das Kommando Strategische Aufklärung, Verbindungselemente in befreundeten Nachrichtendiensten der NATO und vor allem Presseberichte (OSINT). Da das Zentrum für Nachrichtenwesen der Bundeswehr, anders als der Bundesnachrichtendienst und die Presse, nicht über eigenes Nachrichtenaufkommen aus Krisengebieten verfügte, verstand sich das ZNBw als wachsames Auge mit vorausblickenden aktuellen Analysen in der Hinterhand.
Organisation
Das Zentrum für Nachrichtenwesen der Bundeswehr gliederte sich zuletzt in die Abteilungen:
- Grundlagen
- Einsatz
- Zentrale Aufgaben
- Systemzentrum JASMIN (Joint Analysis System Military Intelligence) und
- Lehrgruppe Militärisches Nachrichtenwesen
Die Abteilung Grundlagen analysierte die teilstreitkraftübergreifenden und -spezifischen Elemente zur Bearbeitung der Lage anderer Staaten einschließlich ihrer Land-, Luft- und Seekriegspotenziale.
Das Lagezentrum des Zentrums für Nachrichtenwesen der Bundeswehr war der Abteilung Einsatz zugeordnet und übernahm permanent eine zentrale Warn- und Schutzfunktion für das Bundesministerium der Verteidigung und die Bundeswehr sowie deren Einsatzkontingente. Das Zentrum für Nachrichtenwesen der Bundeswehr war damit rund um die Uhr auskunftsfähig.
Das ZNBw verfügte über etwa 650 Dienstposten, wovon allerdings rund 30 Prozent mit zivilen Mitarbeitern besetzt waren.
Unterstellt war die Schule für Nachrichtenwesen der Bundeswehr.
Die Lehrgruppe Militärisches Nachrichtenwesen der Bundeswehr wurde von Oberst Karl-Bernhard Müller (1. Juli 2003 bis 1. April 2006) und von Oberst Gerhard Hagner (1. April 2006 bis 30. Juni 2008) geführt.[4]
Kritik („JASMIN-Panne“)
Im Juni 2007 wurde nach Recherchen von Report Mainz und tagesschau.de bekannt, dass durch eine Panne im Datenverarbeitungssystem JASMIN (Joint Analysis System Military Intelligence) Geheimdienstinformationen aus den Jahren 1999 bis 2003 offenbar unwiederbringlich vernichtet wurden. Öffentlich wurde dies, als der Verteidigungsausschuss des Deutschen Bundestages Informationen des Datenbestandes der Bundeswehr aus dem Jahre 2002 anfordern wollte. Der Ausschuss benötigte die Informationen im Verfahren zum damaligen Häftling Murat Kurnaz und zur Verwicklung der Kommando Spezialkräfte darin. Staatssekretär Peter Wichert räumte ein, dass die Daten seit Ende 2004 verloren seien[5]. Er begründete dies damit, dass der Speicherungsroboter von JASMIN bereits wenige Jahre nach seiner Inbetriebnahme an die Grenzen seiner Speicherkapazität geraten war und deswegen im Jahr 2004 Archive und Datenbackups in Form von Magnetbändern angelegt worden seien – dies aber lediglich einmal. Später habe sich herausgestellt, dass die Bänder nicht mehr lesbar gewesen seien. „Entsprechend den gültigen Vorschriften zum Umgang mit Verschlusssachen wurden die nicht mehr lesbaren Kassetten am 4. Juli 2005 vernichtet“, teilte das Zentrum für Nachrichtenwesen der Bundeswehr schließlich mit.[6][7]
Datensicherungsexperten wie Peter Böhret[8][6] und Geheimdienstexperten wie Erich Schmidt-Eenboom bezweifelten die Unrettbarkeit der beschädigten Daten mit dem Hinweis auf moderne Datenrettungsmethoden. Schmidt-Eenboom vermutete zudem eine vorsätzliche Datenvernichtung im Zusammenhang mit Informationen über illegale Geheimverhöre des Militärischen Abschirmdienstes (MAD) 2001 in Tuzla, die sich mit Hilfe der verschwundenen Daten hätten rekonstruieren lassen.[9] Andere Aussagen gehen davon aus, dass die Daten noch vorhanden seien, unter Umständen aber nicht weitergegeben werden sollen.[10] Pressemeldungen zufolge konnten nun auch alle Daten oder zumindest Teile davon rekonstruiert werden.
Weblinks
- Joachim Mogwitz: Das Zentrum für Nachrichtenwesen der Bundeswehr in Grafschaft-Gelsdorf auf der Seite der Kreisverwaltung Ahrweiler.
- Ralf R. Zielonka: Geheim! Besuch beim Zentrum für Nachrichtenwesen der Bundeswehr (PDF, 68 KB, ursprünglich aus der Zeitschrift loyal, April 2005).
Einzelnachweise
- Informationen zur Provenienz des Bestandes Amt für Nachrichtenwesen der Bundeswehr. Bundesarchiv, abgerufen am 3. September 2021.
- Günther Schmitt und Volker Jost: „Eulen“ verlassen die Grafschaft. In: General-Anzeiger. 27. Dezember 2007, abgerufen am 3. September 2021.
- Manfred Bischoff: Kommando Strategische Aufklärung. Abgerufen am 12. November 2019.
- Jürgen Eigenbrod: Die Bundeswehr im Standort Bad Ems. In: Verein für Geschichte/Denkmal- und Landschaftspflege e.V. Bad Ems (Hrsg.): Bad Emser Hefte. Band 570, 1 und 2, 2021, ISSN 1436-459X.
- Datenverlust im Zentrum für Nachrichtenwesen der Bundeswehr. (PDF) In: Drucksache 16/6011. Deutscher Bundestag, 23. Juli 2007, abgerufen am 8. September 2014 (Antwort der Bundesregierung auf die Kleine Anfrage der Abgeordneten Birgit Homburger, Elke Hoff, Dr. Rainer Stinner, weiterer Abgeordneter und der Fraktion der FDP).
- Alexander Richter, Thomas Reutter: Brisantes Material aus Auslandseinsätzen verloren. Bundeswehr vernichtete Geheimdaten. In: tagesschau.de. 25. Juni 2007, archiviert vom Original am 20. Oktober 2008; abgerufen am 24. Januar 2015.
- Schwere Panne im Bundesverteidigungsministerium. In: Report Mainz. Das Erste, 25. Juni 2007, abgerufen am 24. Januar 2015 (Presseinformation).
- Peter Böhret, Geschäftsführer des Datenrettungsunternehmens Kroll Ontrack in Deutschland; vgl. „Sehr fragwürdig“. Zweifel am Datenschwund. n-tv, 26. Juni 2007.
- Andreas Förster: Geheimberichte verschwunden. Unter Rot-Grün wurden brisante Datenbestände der Bundeswehr gelöscht. Berliner Zeitung, 26. Juni 2007.
- Es sei möglich, dass die Bundeswehr versuche, „Informationen nicht nach außen zu geben“, sagte Grünen-Politiker Hans-Christian Ströbele: „Sehr fragwürdig“. Zweifel am Datenschwund. n-tv, 26. Juni 2007.