Wohnhausbrand in Ludwigshafen am Rhein
Bei einem Wohnhausbrand in Ludwigshafen am Rhein am 3. Februar 2008 kamen neun Menschen ums Leben,[1][2][3] sechzig Personen wurden verletzt; das rund 100 Jahre alte Gebäude am Danziger Platz wurde weitgehend zerstört.
Der Brand gilt als schwerstwiegendes Hausbrandereignis in Ludwigshafen nach dem Zweiten Weltkrieg. Besonderes Aufsehen erregte der Brand auch, weil es sich bei den Toten, vier Frauen und fünf Kindern, ausschließlich um Türken und türkischstämmige Deutsche handelte. So kam es zu Spekulationen, es könne sich um einen Brandanschlag aus ausländerfeindlichen Motiven handeln. Die Ermittler schlossen diese Möglichkeit am Ende jedoch aus. Dem Brand wurden noch Monate nach dem Ereignis Reportagen in Funk und Fernsehen gewidmet, so die SWR-Reportage Das Feuer von Ludwigshafen – Vorm Flammentod gerettet (Ende 2008).
Chronologie
Der Brand wurde um 16:24 Uhr bemerkt, unmittelbar nach dem Ende des gemeinsamen Ludwigshafener und Mannheimer Fastnachtsumzuges. Dieser Umzug fand 2008 in Ludwigshafen statt und zog in der Nähe des Gebäudes vorbei. Dadurch konnte rasch nach Ausbruch des Brandes Hilfe durch Polizei und Feuerwehr geleistet werden. Die ersten Einsatzfahrzeuge der Feuerwehr Ludwigshafen waren um 16:27 Uhr – nur zwei Minuten nachdem der erste Notruf eingegangen war – am Brandort.[4] Die ersten Rettungsaktionen wurden von der Polizei durchgeführt, die den Fastnachtszug begleitet hatte.
Um 16:30 schlugen bereits Flammen aus dem Dach. Der Brand zerstörte sehr schnell das hölzerne Treppenhaus, sodass eine Flucht aus den oberen Stockwerken über die Treppe nicht möglich war. Im Hausflur abgestellte Gegenstände erschwerten die Rettungsarbeiten. Über Leitern und eine Drehleiter konnten 47 Menschen gerettet werden. Einige Bewohner sprangen in die Tiefe. Die meisten späteren Todesopfer hielten sich im dritten Obergeschoss auf. Von diesem Stockwerk gibt es ein Pressefoto, das um die Welt ging und zeigt, wie ein Säugling aus dem Fenster geworfen wird. Der Säugling wurde von einem Polizisten aufgefangen und überlebte den Brand.
Nur drei bis vier Minuten lang konnte die Feuerwehr in das Gebäude eindringen, ehe es dort zu gefährlich wurde. Die Löscharbeiten wurden dadurch behindert, dass der Wasserdampf die im Haus verbliebenen Personen zusätzlich gefährdet hätte.[5]
In der Türkei erhielt das Ereignis besondere mediale Aufmerksamkeit, weil das Haus fast ausschließlich von türkischen Aleviten bewohnt wurde und es später Aussagen gab, die auf einen Anschlag hinzudeuten schienen. Nachdem es am Tag der Katastrophe noch keine Hinweise auf Brandstiftung gab, wurden in der deutschen und türkischen Presse verschiedene Möglichkeiten als Brandursache genannt. Diese umfassten einen technischen Defekt, Fahrlässigkeit oder die Brandstiftung durch deutsche Rechtsextremisten. Am Haus fanden Ermittler nach dem Brand SS-Runen, die jedoch, wie sich im Laufe der Ermittlungen herausstellte, älterer Herkunft waren. Auch wohnt ein stadtbekannter Neonazi-Führer in unmittelbarer Nachbarschaft des Unglücksortes. Genauso wenig konnte zu jenem Zeitpunkt ein Anschlag durch extremistische türkische Kreise oder ultraorthodoxe Sunniten gegen Aleviten ausgeschlossen werden. Im Erdgeschoss befand sich ein leer stehendes Lokal, auf das im August 2006 ein Anschlag mit Brandsätzen verübt worden war.
Aufgrund des Fastnachtsumzugs gab es stärkere Polizeipräsenz im Umfeld des Hauses. Dies wurde in Medienberichten als Indiz gegen einen Anschlag gewertet. Eine Anwohnerin äußerte:
- „Eine Polizeistreife stand die ganze Zeit vor dem Haus. Da konnte doch gar keiner rein, ohne gesehen zu werden.“[6]
Zwei kleine Mädchen, die einen Mann beim Zündeln beobachtet haben wollen, wurden vernommen. Eines der geretteten Kinder will nach Angaben eines Notarztes zudem einen lauten Knall gehört haben. Aufgrund widersprüchlicher Aussagen der Kinder in der polizeilichen Befragung konnten deren Angaben nicht wie erhofft für die Erstellung eines Phantombildes genutzt werden. Alle Aussagen und Spuren wurden von der Polizei dokumentiert, um gegebenenfalls wieder auf sie zurückgreifen zu können.
Die Polizei in Ludwigshafen am Rhein wurde aufgrund des besonderen öffentlichen Interesses an der Aufklärung des Falles durch Ermittler des Bundeskriminalamtes (BKA), des Rheinland-pfälzischen Landeskriminalamtes (LKA) sowie durch türkische Brandermittler unterstützt.
Ein Flugzeug der Turkish Airlines mit einem Staatsminister an Bord brachte die neun Toten und ihre Angehörigen von Deutschland in die Türkei; die Toten wurden in der Stadt Gaziantep beigesetzt.[7]
Am 28. Februar informierten die Ermittlungsbehörden über den Zwischenstand ihrer Ermittlungen. Danach gilt ein Schwelbrand unter der Kellertreppe, dessen Ursache unklar war und ist,[8] als Brandursache. Die Ermittler fanden keinerlei Hinweise auf Brandbeschleuniger.[9] Ein technischer Defekt wird ausgeschlossen.[10]
Am 4. März teilte die Staatsanwaltschaft in einer Pressekonferenz einen weiteren Zwischenstand mit. Demnach galten technische Brandursachen als ausgeschlossen. Hinweise auf einen fremdenfeindlichen Anschlag gebe es ebenfalls nicht; als wahrscheinlichste Brandursache werde fahrlässiges Handeln angenommen. Die ursprünglichen Aussagen der beiden Mädchen, die zunächst als mögliche Augenzeugen einer Brandstiftung angesehen wurden, hätten sich im Zuge weiterer psychologischer und polizeilicher Befragungen als unrichtig herausgestellt.[11]
Am 23. Juli 2008 gab die Staatsanwaltschaft die Einstellung der Ermittlungen bekannt. Die Ursache bleibt ungeklärt. Eine vorsätzliche Brandstiftung oder gar ein Brandanschlag sei mit an Sicherheit grenzender Wahrscheinlichkeit ausgeschlossen. Die Staatsanwaltschaft geht von Fahrlässigkeit aus. Der Brand sei an der Holztreppe durch eine Wärmequelle ausgebrochen, die zu einem Schwelbrand geführt habe.[12] Am Brandherd befanden sich keine Elektrokabel oder -geräte.
Das Haus wurde im August 2009 abgerissen;[13] seit 2010 befindet sich dort ein Neubau.
Reaktionen
Zahlreiche deutsche und türkische Politiker wie der rheinland-pfälzische Ministerpräsident Kurt Beck, die im Wahlkreis Ludwigshafen/Frankenthal in den Deutschen Bundestag gewählte Migrationsbeauftragte der Bundesregierung Maria Böhmer oder der türkische Ministerpräsident Recep Tayyip Erdoğan besuchten den Brandort und sprachen den Trauernden ihr Beileid aus.
Türkische Medien lancierten schnell den Verdacht, es könne sich um einen Brandanschlag handeln, und gaben Berichte wieder, nach denen die deutsche Polizei und Feuerwehr nicht schnell genug gehandelt hätten. Türkische Medien behaupten fälschlich, dass die Rettungskräfte 20 Minuten gebraucht hätten, bis sie am Unfallort eintrafen.[14] Dies sorgte für Unruhe in der türkischen Gemeinde Ludwigshafens und führte dazu, dass ein Feuerwehrmann an seinem Wohnort Limburgerhof von einem 37-jährigen Türken in einer Gaststätte geschlagen wurde[6] und Mitarbeiter des Technischen Hilfswerks (THW) beim Aufräumen bespuckt wurden. Der Ludwigshafener Polizeipräsident Wolfgang Fromm regte daraufhin an, womöglich Personenschutz für die Feuerwehrleute bereitstellen zu wollen, und sagte: „Es geht nicht an, dass diese Menschen beleidigt, bedroht und bespuckt werden.“ Hier würden Retter zu Tätern gemacht.[6]
Angesichts der Vorwürfe, die Rettungsarbeiten wären rascher angelaufen, wenn das Haus von Deutschen bewohnt gewesen wäre, kündigte der Deutsche Feuerwehrverband an, „die Integration von Migrantinnen und Migranten in die Feuerwehr voranzutreiben“, um die Kommunikation mit Betroffenen zu verbessern und die Brandschutzaufklärung zu stärken.[15]
Der türkische Ministerpräsident Erdoğan besuchte am 7. Februar gemeinsam mit Kurt Beck den Brandort und stellte den deutschen Ermittlern ein Team von vier Experten bei, um die Ursache des Brandes aufzuklären und eine Situation wie z. B. nach dem Lübecker Brandanschlag 1996 zu vermeiden. Bundesinnenminister Wolfgang Schäuble begrüßte dies.[16]
In den ersten 17 Tagen nach dem Brand kam es in Deutschland zu weiteren Bränden in Wohnhäusern, die vornehmlich von Türken bewohnt waren,[17] über die in der türkischen Presse im Zusammenhang mit dem Ludwigshafener Brand in großer Ausführlichkeit berichtet wurde und die in der türkischen Gemeinschaft weiter den starken Verdacht am Leben hielten, es könne sich in Ludwigshafen am Rhein um einen fremdenfeindlichen Anschlag handeln. So fragte beispielsweise die Cumhuriyet: „Sind die Brände in den meistens von Türken bewohnten 6 Häusern in 17 Tagen ein Zufall?“ Dilek Zaptçıoğlu sprach angesichts eines Dutzends Brände innerhalb von drei Wochen (darunter eindeutige Brandstiftungen) von „systematischen Brandanschlägen gegen Türken“.[18] Insbesondere in der Nacht vom 18. auf den 19. Februar 2007 ist in Dautphetal bei Marburg (Hessen) an einem von einer türkischen Familie bewohnten Wohnhaus ein Feuer gelegt worden. Hierbei wurde die Holzfassade der außen am Haus angebrachten Holztreppe beschädigt.[19] Brandbeschleuniger wurden jedoch nach ersten Erkenntnissen der Polizei nicht verwendet. An der Fassade des betroffenen Hauses wurde zudem mit Wachsmalstiften der Schriftzug „Hass“ hinterlassen.[20]
Die ARD verschob aus Respekt vor den Opfern von Ludwigshafen eine für den Sonntag nach der Katastrophe angesetzte Folge der Krimiserie Tatort. Der in der Folge behandelte fiktive Fall sollte in der türkischen Gemeinde Ludwigshafens spielen.
Aufgrund der tragischen Ereignisse in Ludwigshafen am Rhein und auf Initiative von Asım Güzelbey, dem Bürgermeister Gazianteps, wurde am 1. April 2009 ein Freundschaftsvertrag besiegelt, der 2012 in einer Städtepartnerschaft zwischen den beiden Städten mündete.[21]
Der 29-jährige Camil Kaplan, der bei dem Wohnhausbrand seine Frau und zwei Kinder verloren hatte, bekam am 27. Mai 2008 den mit 10.000 Euro dotierten erstmals vergebenen Genç-Preis verliehen. Er trägt den Namen von Mevlüde Genç, einer fünfzehn Jahre zuvor vom Mordanschlag in Solingen betroffenen türkischen Frau. Kaplan wurde, so die Zeitung Die Rheinpfalz, dafür ausgezeichnet, dass er trotz des großen Verlustes in der Öffentlichkeit vielbeachtete Worte des Ausgleichs, der Besonnenheit und der Verständigung gefunden habe. Kaplan hatte auch einen acht Monate alten Neffen gerettet, indem er ihn aus dem Brandhaus in die Arme eines Polizisten warf.
Am 17. Dezember 2011 wurde bekannt, dass im Zuge der Ermittlungen gegen die Terrorgruppe Nationalsozialistischer Untergrund neue Verdachtsmomente in Zusammenhang mit dem Brand aufgetaucht sind. Verdächtigt wird ein Neonazi aus der Region Ludwigshafen, der Mitglied der dortigen Neonazigruppierung LuNaRa (Ludwigshafener Nationalisten und Rassisten) gewesen sein soll.[22] Die Bundesanwaltschaft und die Staatsanwaltschaft in Frankenthal haben die Meldung dementiert, dass es eine Verbindung zwischen der rechtsextremen Terrorgruppe NSU und der Brandkatastrophe von Ludwigshafen gebe.[23]
Weblinks
Einzelnachweise
- Julia Jüttner: Wohnhausbrand in Ludwigshafen: „Pure Panik in den Gesichtern“. In: Spiegel Online. 4. Februar 2008, abgerufen am 26. Dezember 2011.
- Mindestens neun Tote bei Mietshausbrand in Ludwigshafen. Verheerendes Großfeuer. In: n24.de. 4. Februar 2008, archiviert vom Original am 7. September 2012; abgerufen am 26. Dezember 2011.
- Ludwigshafen: Wohnhausbrand fordert neun Todesopfer. In: stern.de. 4. Februar 2008, abgerufen am 26. Dezember 2011.
- Angaben aus der Lokalzeitung Die Rheinpfalz vom 5. Februar 2008
- SWR Fernsehen: Löschen, Retten, Helfen – Die Feuerwehr Ludwigshafen im Einsatz (ab 0:26:27) auf YouTube, abgerufen am 27. September 2020 („Die Feuerwehr kann nicht einfach einen Wasserstrahl in die brennenden Zimmer halten. […] Wasserdampf […] kommt dann wie eine Wolke von hinten auf diese Personen zu. … und verbrüht die komplett.“).
- Ferda Ataman, Jörg Diehl: Brand in Ludwigshafen – Deutsche und Türken fürchten Rückkehr der Feindbilder. In: Der Spiegel, 6. Februar 2008, abgerufen am 31. Dezember 2009.
- Rede des damaligen Ministerpräsidenten Erdoğan am 10. Februar 2008 in Köln, vgl. Peter Schilder: Erdogan warnt vor zu viel Anpassung: „Assimilierung ist ein Verbrechen gegen die Menschlichkeit“. In: Frankfurter Allgemeine Zeitung, 10. Februar 2008 (Übersetzung der vollständigen Rede bei der Süddeutschen Zeitung)
- Katja Becher: 10 Jahre nach dem Feuer – Ludwigshafener Brandkatastrophe mit neun Toten: Ursache noch ungeklärt! In: Ludwigshafen24. 3. Februar 2018, abgerufen am 27. September 2020.
- Ludwigshafen: Schwelbrand entfachte Feuer. In: Der Stern. 28. Februar 2008, abgerufen am 27. September 2020.
- Feuer in Ludwigshafen von Schwelbrand verursacht (Memento vom 29. Februar 2008 im Internet Archive), in: Financial Times Deutschland, 28. Februar 2008.
- Brandkatastrophe in Ludwigshafen kein Anschlag, Reuters vom 4. März 2008
- Brandkatastrophe in Ludwigshafen: Ermittlungen zum Wohnhausbrand eingestellt. In: Rheinische Post. 23. Juli 2008, abgerufen am 27. September 2020.
- Haus der Brandkatastrophe wird abgerissen (Memento vom 18. November 2009 im Internet Archive), Rhein-Neckar Fernsehen, 18. November 2009.
- Angabe aus der Lokalzeitung Die Rheinpfalz vom 7. Februar 2008
- „Integration von Migranten in der Feuerwehr vorantreiben“. In: Junge Freiheit. 7. Februar 2008, abgerufen am 27. September 2020.
- Schäuble hofft auf Zusammenrücken von Türken und Deutschen (Memento vom 28. Februar 2008 im Internet Archive), ad-hoc-news.de, 8. Februar 2008.
- Brandanschläge: Die Serie von Bränden in von Türken bewohnten Häusern reißt nicht ab und die Stimmung in den in Deutschland erscheinenden türkischen Zeitungen verdüstert sich wieder zunehmend. „Wer schütz uns noch?“ (Memento vom 27. Februar 2008 im Internet Archive), europress.de, 21. Februar 2008.
- Dilek Zaptçıoğlu: Systematische Brandanschläge gegen Türken - ein Fahndungsleiter wird gesucht. (Memento vom 24. April 2008 im Internet Archive), tazblog, 27. Februar 2008.
- Marburg: Brandanschlag auf Haus einer türkischen Familie, in: Süddeutsche Zeitung, 19. Februar 2008.
- Brandstiftung an Wohnhaus – türkische Familie kann sich retten, in: Der Spiegel, 19. Februar 2008.
- Gaziantep. Partnerstädte. In: Ludwigshafen.de. Abgerufen am 27. September 2020.
- Felix Helbig: Spur der Zwickauer Terrorgruppe führt an den Rhein. In: Frankfurter Rundschau online. 17. Dezember 2011, abgerufen am 25. Dezember 2011: „Laut Dokumenten, die der BLZ [Berliner Zeitung] vorliegen, gilt Malte R. den Behörden zudem als verdächtig, den Brand in einem Ludwigshafener Wohnhaus gelegt zu haben, bei dem am 3. Februar 2008 neun türkischstämmige Bewohner ums Leben gekommen waren.“
- Neonazi-Verdacht wegen Wohnhausbrand dementiert. In: swr.de. 17. Dezember 2011, archiviert vom Original am 25. Dezember 2011; abgerufen am 25. Dezember 2011: „Die Bundesanwaltschaft und die Staatsanwaltschaft in Frankenthal haben am Samstag eine Meldung zurückgewiesen, wonach es eine Verbindung zwischen der rechtsextremen Terrorgruppe NSU und der Brandkatastrophe von Ludwigshafen vor drei Jahren gibt.“