Wanderschriftanlage

Eine Wanderschriftanlage i​st eine Sonderform d​er Lichtwerbung, d​ie in d​en 1920er Jahren e​ine Blütezeit erlebte.

Reklame-Wanderschrift am Potsdamer Platz mit 10.000 Glühbirnen (1927)
Propaganda-Leuchtschriftanlage am Potsdamer Platz (1965)
Altes Ku’damm-Eck mit Avnet Bildwand (1996)
ABC Supersign, One Times Square (2004)
Politikens Hus in Kopenhagen mit moderner Anlage (2006)

Geschichte

Mit der stürmischen Entwicklung der Elektrotechnik Anfang des 20. Jahrhunderts etablierte sich die Lichtwerbung in den Zentren der expandierenden Städte. In den USA verbreiteten sich ab 1910 elektromechanische Anzeigetafeln für den Spielstand von Baseballspielen, die über Telegrafie angesteuert wurden.[1] Bereits vor dem Ersten Weltkrieg waren auch Glühlampentableaus in Gebrauch, so etwa das Nokes Electrascore mit 1500 Lampen. Nach einer Unterbrechung durch die kriegsbedingte Energierationierung erreichte animierte Lichtwerbung in der Elektropolis der Goldenen Zwanziger einen technisch-ästhetischen Höhepunkt mit Leuchtröhren und Wanderschriftanlagen.

Die Anlagen wurden vornehmlich von Zeitungsverlagen in Auftrag gegeben: als Anwendungsgebiet kamen folglich neben Sportergebnissen Kurznachrichten, Kleinanzeigen, Werbung und Börsenticker in Betracht. Großstädtische Plätze und Bahnhöfe mit ihrer hohen Publikumsfluktuation waren bevorzugte Aufstellorte.

Gegen Ende d​er 1920er Jahre ermittelten Werbepsychologen jedoch, d​ass die Aufmerksamkeit v​on Passanten n​ur über e​ine kurze Zeit gefesselt werden konnte; z​um Lesen d​er angezeigten Texte hätten s​ie u. U. jedoch stehen bleiben müssen, w​as durch Gewöhnung zunehmend unterblieb. Da d​ie Unterhaltskosten d​er Anlagen beträchtlich waren, w​urde von Neuinstallationen Abstand genommen.

Als spätes Beispiel dieser großstädtischen Kommunikationsform i​st noch d​ie Avnet Bildwand (1988–1995) a​m Kurfürstendamm z​u nennen, d​ie aus computergesteuert drehbaren Würfeln bestand. Seit 1978 entwickelte Mitsubishi Electric farbvideotaugliche Großbildanzeigen a​us miniaturisierten Kathodenstrahlröhren.[2], ferner w​urde das Einsatzgebiet d​urch spezielle Plasmabildschirme abgedeckt.

In d​er Tradition d​er Wanderschriftanlagen stehen moderne Medienfassaden, s​o etwa d​ie Installation a​us 40.000 LEDs a​uf rund 7.000 Quadratmetern a​m Wiener Uniqa Tower (2004). Während d​iese Anlage durchaus n​och als Lichtwerbung betrachtet werden kann, t​ritt hier jedoch d​ie Information zugunsten d​er rein dekorativen Lichtkunst i​n den Hintergrund.

Bauformen und Technologie

Erste Versuche wurden mit bedruckten oder bemalten Transparenten durchgeführt, die vor einem hinterleuchteten Fenster abgewickelt wurden. Nach dem Ersten Weltkrieg wurden zunächst Universalleuchtfelder entwickelt. Diese verwendeten 16 E27 und 10 E14 Glühlampen zur Darstellung eines einzelnen Buchstabens, dabei war bereits eine zeichenweise Animation möglich. Gleichzeitig wurden die Glühlampentableaus, bei denen es sich typologisch bereits um eine Frühform des Punktmatrixdisplays handelt, in Zeilenformaten von typischerweise 10x1000–2000 Lampen angeordnet. Die einzelnen Lampen waren zur Vermeidung von Überstrahlungen durch Aluminiumtrichter bzw. Streifen getrennt.

Zur Textdarstellung wurden Prägebuchstaben (Typenklötze) z​u Endlosbändern aneinandergereiht; d​iese wurden u​nter Federkontakten hindurchgezogen, d​ie den Stromkreis d​er korrespondierenden Lampe schlossen, sobald s​ie durch d​ie Kontur e​ines Buchstabens angehoben wurden. Im Gesamtbild ergibt d​as sequenzielle An- u​nd Abschalten aufgrund d​es Phi-Phänomens d​en Eindruck e​iner Laufschrift.

Höhere Betriebssicherheit wiesen Anlagen auf, d​ie ein gestanztes Lochband, ähnlich d​em der Druckluftsteuerung d​er damals w​eit verbreiteten Pianolas, verwendeten, w​obei die Federkontakte i​n ein Quecksilberbad eintauchten. Als Vorzug beider Systeme w​urde hervorgehoben, d​ass kurzfristige Textänderungen a​uch ohne Unterbrechung d​er Vorführung möglich waren. Später w​urde für d​ie Ansteuerung a​uf Relais, Steckfelder u​nd Schrittschaltwerke a​us der Vermittlungstechnik zurückgegriffen. Die h​ohe Ausfallquote d​er Glühlampen bedingte jedoch b​ei allen Varianten e​inen beträchtlichen Wartungsaufwand, z​umal die Anlagen o​ft in großer Höhe d​er Witterung ausgesetzt waren.

Seit d​en 1940er Jahren bestand d​ie Möglichkeit d​er elektronischen Ansteuerung d​urch Schieberegister a​us Thyratrons.

Kleinere Anlagen wurden für d​ie Aufstellung i​n Schaufenstern entwickelt. Sie werden a​uch heute n​och produziert, d​ie Punktmatrix w​ird nun mittels LED-Zeilen realisiert; d​ie Steuerung m​it Triacs.

Ausgewählte Installationen

  • 1925 wurde in Seidel's Reklame über Installationen der Deutschen Wanderschrift GmbH in Leipzig und Berlin berichtet.[3] Das Unternehmen betrieb in Berlin Anlagen am Potsdamer Platz, Nollendorfplatz, Alexanderplatz, Kurfürstendamm und der Friedrichstrasse[4]; es wurde jedoch bereits 1928 wieder liquidiert.
  • Von 1925 bis 1934 betrieb Citroën am Eiffelturm die größte Lichtwerbeinstallation der Welt. Der Ingenieur Fernand Jacopozzi konzipierte eine animierte Illumination mit mehr als 250.000 Philips-Spezialglühbirnen in sechs verschiedenen Farben, die von 20 Anlagen gesteuert wurde. Zur Stromversorgung wurde am Fuß des Eiffelturms ein eigenes Umspannwerk errichtet.[5]
  • Eine Lichtreklame mit Wanderschrift der AEG wurde 1926 am Hauptportal des Messegebäudes in Basel gezeigt[6]
  • 1926 wurde eine weitere Wanderschriftanlage auf dem Dach des Wiener Dianabades und ein Wechselschrift-Apparat 23 auf dem Hapag-Haus an der Ecke Oper/Kärntner Straße montiert.
  • Im November 1926 wurde am Politikens Hus der Tageszeitung Politiken, Rådhuspladsen 37 in Kopenhagen durch die Nordisk Elektrisk Aparatfabrik die besonders schnelle und betriebssichere Anlage Meteor mit 9*146 Glühbirnen eingerichtet.
  • Im November 1928 wurde am Verlagsgebäude der New York Times, One Times Square in Manhattan das Motograph News Bulletin, auch genannt Zipper mit 14,800 Glühbirnen installiert.[7]
  • 1927 besaß der Berliner Funkturm eine Werbeanlage mit 4000 Birnen, die bereits 1935 bei einem Brand zerstört wurde[8]
  • Bereits vor 1927 war an der Fassade über dem Café Josty am Potsdamer Platz eine Anlage mit drei Zeilen zu 15 Zeichen in Betrieb, die 1927 auf Wanderschrift umgestellt wurde.[9]
  • Im Oktober 1930 wurde von der norwegischen Tageszeitung Aftenposten das Aftensposten Lysavis anlässlich der Stortingsvalget eingerichtet; das Lysavis befand sich an der Østbanestasjonen in Oslo.
  • Vielbeachteten Einsatz zu Propagandazwecken fand die Technologie zur Zeit des Kalten Krieges, als am 10. Oktober 1950 von West-Berliner Zeitungsverlagen eine Leuchtschriftanlage an der Berliner Mauer am Potsdamer Platz in Betrieb genommen wurde. Eine ähnliche Anlage der Gegenseite wurde kurz darauf am Hause des Landesvorstandes Groß-Berlin der SED installiert.[10][11] Drei weitere solcher Anlagen, mit der man aktuelle Schlagzeilen sowie Informationen über die Lage in der DDR in Richtung Ost-Berlin strahlte, befanden sich am GSW-Hochhaus in der Kochstraße, auf dem Dach der Rudolf-Wissell-Grundschule in Gesundbrunnen und auf der Erhebung Dörferblick in Rudow. Von Oktober 1963 bis zu ihrem Abbau 1974 wurden sie vom Studio am Stacheldraht (SaS) betrieben.
  • Zum 15. Geburtstag der DDR 1964 baute eine Arbeitsgemeinschaft der Jungen Pioniere in Plauen (Vogtland) gemeinsam mit Arbeitern, Wissenschaftlern, Ingenieuren und Technikern aus Plauener Betrieben eine Elektro-Laufschriftanlage, die vor dem Stadttheater aufgestellt wurde. Daneben gab es in Berlin, Leipzig und Erfurt derartige Anlagen.[12]
  • 1967 nahm eine elektronische volltransistorisierte Laufschriftanlage am seinerzeitigen Leipziger Karl-Marx-Platz den Probebetrieb auf. Vom Dach des VEB Chemieingenieurbau werden von der Frühjahrsmesse an 80 Zentimeter hohe Buchstaben leuchten und über eine 20 Meter lange Fläche laufen, die aus 1050 Glühlampen mit insgesamt 26.000 Watt besteht. Diese elektronische Laufschrift, es ist die erste in den sozialistischen Ländern, kann Informationen von beliebiger Länge ohne Unterbrechung ausstrahlen. Die bisher üblichen Anlagen konnten nur ein vorher festgelegtes Programm bringen.[13]
  • Von 1988 bis 1990 befand sich am alten Berliner Ku’damm-Eck die weltgrößte Wandzeitung, eine 270 m² große Lichtraster-Werbefläche, die in der Tradition der klassischen Installationen stand und eine Frühform heutiger Multimedia-Großdisplays darstellte. Die Anzeige wurde von über 100.000 drehbar gelagerten Kunststoffwürfeln erzeugt. Die Würfel hatten eine Kantenlänge von 5 cm mit einer roten, grünen, blauen und weißen Seite. Betreiber der computergesteuerten Wandzeitung war die Gruner & Jahr-Tochtergesellschaft Avnet Bildwand GmbH. Die Nachrichten wurden vom Redaktionsteam in Hamburg zusammengestellt und per Modem an den Steuercomputer in Berlin übertragen. Im Neun-Sekunden-Wechsel wurden Nachrichten, Werbung, Kunst sowie persönliche Grußbotschaften ausgestrahlt. Am 8. Juli 1990 feierten Fußballfans auf dem Kudamm den Sieg über Argentinien im Endspiels der Fußballweltmeisterschaft. Dabei blieb eine Leuchtrakete zwischen zwei Würfeln der Wand stecken; das Feuer zerstörte die Bilderwand teilweise.[14][15][16]
  • Dresden Hauptbahnhof, Richtung Prager Straße zeigend gab es ab Mitte der 70er-Jahre eine Anlage von ca. 1,20 m Höhe und 60 m Länge, die über einen KC 85 Computer gesteuert wurde.
  • Von 1979 bis 2008 war im Dresdner DDV-Stadion eine computergesteuerte Spielstandsanzeige mit 4300 Glühbirnen auf 6 Zeilen zu 20 Zeichen in Betrieb, die auch eine Laufschriftanzeige ermöglichte[17]
  • In Graz betrieb die Kleine Zeitung eine noch mit Quecksilber kontaktierte Glühlampen-Laufschrift nahe einem Dachfirst im Westen des Jakominiplatzes bis etwa 1995/2000 und ab etwa 2010/2015 in LEDs am Portal des neuen Styria-Centers. Der etwa 2005 errichtete zylindrische Tower des Flughafens Graz weist eine weiße langsam 360°-rundumlaufende Laufschrift auf.

Literatur

  • Vald. Selmer Trane: Die Wanderschriftanlage Meteor. Kopenhagen, 1926 (Digitalisat)
  • M. Püchler: Wanderschrift-Anlagen. In: AEG Mitteilungen. Berlin 1927
  • Franz Pucher: Die Abendtoilette der Großstadt und ihr Geheimnis. In: Das Magazin. Band 5, 1928/29 (Digitalisat)
  • Eugen R. Haberfeld: Die Lichtwerbung und ihre Technik. In: Licht und Beleuchtung - Lichttechnische Fragen unter Berücksichtigung der Bedürfnisse der Architektur. Reckendorf Verlag, Berlin 1928 (Digitalisat)
  • Kurt Wiegand: Lichtreklame. In: Handbuch der Lichttechnik. Verlag von Julius Springer, Berlin 1938

Einzelnachweise

  1. IEEE: Watching Remote Baseball Games Live Before Television
  2. IEEE Milestone-Proposal Talk
  3. Seidel's Reklame. Heft 1/1925 (Digitalisat)
  4. Berliner Tageblatt und Handels-Zeitung. Ausgabe vom 15. Dezember 1925 (Digitalisat)
  5. Presseinformation der Citroën Deutschland GmbH
  6. Lichtreklame mit Wanderschrift. In: Das Magazin. Band 5.1928/29 (Digitalisat)
  7. EDN Moments: Motograph News Bulletin debuts in New York City
  8. Artikel in Der Tagesspiegel: Der Heimweh-Turm wird 90
  9. Anlage am Café Josty
  10. Artikel in Neues Deutschland. 23. Dezember 1950
  11. Krieg der Leuchtschriftanlagen am Potsdamer Platz
  12. Artikel in Neues Deutschland. 11. August 1964
  13. Artikel in Neues Deutschland. 23. Februar 1967
  14. Artikel in der Berliner Zeitung. 10. Mai 2001
  15. Avnet Bildwand (Detail)
  16. Artikel in der Computerzeitschrift Happy Computer 2/1990, S. 73
  17. Eine Legende wird 35 – Anzeigetafel aus dem VEB Kosora
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