Stoppzeit
In der Stochastik bezeichnet der Begriff der Stoppzeit eine spezielle Art von Zufallsvariablen, die auf filtrierten Wahrscheinlichkeitsräumen definiert werden. Stoppzeiten sind nicht nur von Bedeutung für die Theorie der stochastischen Prozesse (beispielsweise bei der Lokalisierung von Prozessklassen oder Untersuchungen von gestoppten Prozessen), sondern auch von praktischer Relevanz, etwa für das Problem des optimalen Ausübungszeitpunkts für amerikanische Optionen.
In der aus dem Russischen in das Englische übersetzten Fachliteratur finden sich auch die Bezeichnungen Markov moment (dt. Markow-Moment) oder Markov time (dt. Markow-Zeit)[1].
Definition
Gegeben sei ein Wahrscheinlichkeitsraum .
Diskreter Fall
Ist eine Filtrierung in gegeben, so heißt eine Zufallsvariable
eine Stoppzeit (bezüglich ), wenn
ist.
Allgemeiner Fall
Gegeben sei eine geordnete Indexmenge , die ein Intervall aus ist. Ist eine Filtrierung in gegeben, so heißt eine Zufallsvariable
eine Stoppzeit (bezüglich ), wenn
- .
Endliche Stoppzeit
Eine Stoppzeit heißt eine endliche Stoppzeit, wenn
ist.
Bemerkung
Zu Beachten ist, dass die Eigenschaft, eine Stoppzeit zu sein, keine Eigenschaft der Zufallsvariable alleine, sondern eine Eigenschaft der Zufallsvariable in Verbindung mit einer Filtrierung ist. Daher muss bei Angabe oder Definition immer die Filtrierung mit angegeben werden.
Interpretation
Eine Stoppzeit kann man als die Wartezeit interpretieren, die vergeht, bis ein bestimmtes zufälliges Ereignis eintritt. Wenn wie üblich die Filtrierung die vorhandene Information zu verschiedenen Zeitpunkten angibt, bedeutet die obige Bedingung also, dass zu jeder Zeit bekannt sein soll, ob dieses Ereignis bereits eingetreten ist oder nicht.
Beispiele
- Ein Glücksspieler beginnt zum Zeitpunkt mit einem Startkapital von 10 € zu spielen; dabei absolviert er jede Minute ein Spiel (das der Einfachheit halber selbst keine Zeit in Anspruch nimmt), bei dem er mit 50-prozentiger Wahrscheinlichkeit einen Euro gewinnt und ansonsten einen Euro verliert (der Kontostand des Spielers ist dann ein Martingal). Die Wartezeit, bis der Spieler sein gesamtes Geld verspielt hat, ist dann ein Beispiel für eine Stoppzeit bezüglich der natürlichen Filtrierung des Experiments: Zu jedem Zeitpunkt weiß der Spieler, ob er bereits pleite ist oder nicht. Dagegen wäre die Wartezeit bis zum Augenblick seines vorletzten Spiels keine Stoppzeit: In dem Moment, da man sein vorletztes Spiel absolviert, weiß man noch nicht, dass das nächste Spiel das letzte sein wird.
- Die Trefferzeit (hitting-time) eines Wiener-Prozesses mit Drift zum Level ist definiert als .
- ist eine Stoppzeit. Sie ist nach einer inversen Gauß-Verteilung verteilt, die Dichte ist
- .
- Ist allgemeiner ein reellwertiger, adaptierter Càdlàg-Prozess, also ein stochastischer Prozess, dessen Pfade alle rechtsseitig stetig sind und Grenzwerte von links besitzen, und ist eine abgeschlossene Menge, so ist die Treffzeit von in , definiert als
- eine Stoppzeit. gibt also den infimalen Zeitpunkt an, an dem zum ersten Mal die Menge betritt. Dabei ist es essentiell, dass abgeschlossen ist: Zum Zeitpunkt könnte bereits auf dem Rand von , aber noch nicht in sein und die Menge direkt im Anschluss betreten. Dann wäre zwar (man beachte das Infimum), jedoch ist in noch nicht bekannt, ob gleich betreten wird oder nicht.
Abgeleitete Konzepte
Gestoppter Prozess
Ein gestoppter Prozess ist eine Kombination eines stochastischen Prozesses und einer Stoppzeit, die Werte in der Indexmenge ("Zeitmenge") des stochastischen Prozesses annimmt. Gestoppte Prozesse sind Prozesse, die nach einer zufälligen Zeit angehalten werden bzw. ihren Wert nicht mehr verändern. Sie modellieren beispielsweise Ausstiegsstrategien bei einer zeitlichen Abfolge von Glücksspielen.
Lokalisierung
Unter einer Lokalisierung versteht man die Erweiterung einer Prozessklasse, die eine gewisse Eigenschaft besitzt, um die Menge aller Prozesse, die gestoppt unter aufsteigenden Folgen von Stoppzeiten ebenfalls diese Eigenschaft besitzt. Typisches Beispiel sind die Martingale und die lokalen Martingale.
σ-Algebra der τ-Vergangenheit
Die σ-Algebra der τ-Vergangenheit ist eine spezielle σ-Algebra, welche über die Filtrierung und die Stoppzeit definiert wird. Sie findet beispielsweise Anwendung bei der Definition der starken Markow-Eigenschaft und dem Optional Sampling Theorem.
Rechenregeln
Es seien und Stoppzeiten bezüglich einer Filtration sowie
- .
Dann gilt
- Das Minimum ist eine -Stoppzeit.
- Das Maximum ist eine -Stoppzeit.
- ist eine -Stoppzeit.
- ist eine -Stoppzeit, wobei eine feste Konstante ist.
- ist eine -Stoppzeit.
- ist eine -Stoppzeit.
- ist eine -Stoppzeit.
- ist eine -Stoppzeit.
Weblinks
- Stopping Time. In: Michiel Hazewinkel (Hrsg.): Encyclopedia of Mathematics. Springer-Verlag und EMS Press, Berlin 2002, ISBN 978-1-55608-010-4 (englisch, online).
Literatur
- Heinz Bauer: Wahrscheinlichkeitstheorie, de Gruyter Lehrbuch, 2002, ISBN 3-11-017236-4
- Achim Klenke: Wahrscheinlichkeitstheorie. 3. Auflage. Springer-Verlag, Berlin Heidelberg 2013, ISBN 978-3-642-36017-6, doi:10.1007/978-3-642-36018-3.
- Christian Hesse: Angewandte Wahrscheinlichkeitstheorie, Vieweg + Teubner-Verlag, Wiesbaden 2003, ISBN 3-528-03183-2, doi:10.1007/978-3-663-01244-3
Einzelnachweise
- A.N. Shiryaev: Markov moment. In: Michiel Hazewinkel (Hrsg.): Encyclopedia of Mathematics. Springer-Verlag und EMS Press, Berlin 2002, ISBN 978-1-55608-010-4 (englisch, online).