Stefan M. Seydel
Stefan Markus Seydel (* 22. März 1965 in Sorengo) ist ein Schweizer Künstler, Unternehmer, Autor und Sozialarbeiter.[1] Seydel gehört zu den Künstlern der Gegenwart, die ihre Aktivitäten, bzw. ihr Werk in den Alltag, ins Wissenschaftliche, und vor allem ins „globale Soziale“ hinein öffentlich ausbreiten.[2] Nach dem Verzicht auf „ewige Werte“ wollen sie dem Wandel der gesellschaftlichen Bedingungen und den künstlerischen Aktivitäten Raum geben, die eine sich verändernde, bzw. die nächste Kultur im Blick haben. Surrealismus und Dadaismus markieren den Anfang dieser Bewegung, die aus Sicht von Vertretern der damals etablierten Kunstszene als Ende der Kunst begriffen wurden.[3]
Kulturpessimismus ist Seydel fremd. Er praktiziert und reflektiert die Online-Aktivitäten unserer Gesellschaft – wie z. B. den Umgang mit Wissen – um „diese Spuren zu erfassen, zu archivieren und zirkulieren zu lassen“.[4] Er verfolgt Ideen, die er im Internet-Unternehmen rebell.tv zusammen mit Tina Piazzi umgesetzt hat. Über verschiedene Rubriken und Kanäle, inklusive Medien wie Blog, Print, Podcast und Online-Magazin praktizierten beide Künstler laut Dirk Baecker eine seltene „Kombination liberalen, ökologischen und sozialen Denkens, ...die es fast nur in der Schweiz gibt“.[5]
Kunst versteht Seydel als „Arbeit am Sozialen“, die er praktisch und im Diskurs mit verschiedensten wissenschaftlichen Theorien über die Bedingungen gesellschaftlichen Lebens bearbeitet. Er benutzt für seine Kunst das „WorldWideWeb“ als „Vermittlungsnetzwerk.“[6] Gleichzeitig dient dieses Netzwerk der Entwicklung eines „Workflows“, der die Prozesse seiner Arbeit dokumentiert. Der Ort der Feldforschung wurde seit kurzem durch das Umfeld der Wikimedia-Foundation erweitert.[7]
In regelmäßig stattfindenden „Arbeitstreffen“ (z. B. „Feedlogs“) zusammen mit diversen Gesprächspartnern gibt er über Streaming Videos Einblicke in seine eigenen Fragen und die Antworten seiner meist unbekannten Gesprächspartner.[8] Kommunikation ist sein Alltagsgeschäft im Netz. Er möchte öffentlich machen, wie durch Kommunikation „erhellende, abkühlende, praktische Unterscheidungen“ hervorgebracht werden, denen Lernen und Verändern folgen können.[9] Künstlerische Irritation bleibt, so Seydel, die einzige Möglichkeit des Nachdenkens über die Welten, die im Netz aufeinandertreffen.[10]
Seydel denkt Kunst als Arbeit am Sozialen verbunden mit Künstlerischer Forschung. Die Idee "Künstlerische Forschung" ist außer von vielen anderen durch Bruno Latour an die Künste herangetragen worden. Inzwischen taucht die Idee Künstlerische Forschung in den Künsten und an Kunsthochschulen mit und ohne Universitätsstatus europaweit auf. In der Schweiz ermöglicht ein Fördergefäß des Schweizerischen Nationalfonds die Förderung von Akteuren aus Künsten und Wissenschaften. Seither gibt es eine Reihe künstlerischer Forschungsprojekte, in denen unterschiedliche Methoden und Kooperationsformen Künstlerischer Forschung erprobt werden.[11]
Leben
Stefan M. Seydel studierte Soziale Arbeit in St. Gallen (Bachelor) und Berlin (Master). Er gründete 1997 mit seiner Partnerin Tina Piazzi[12] ein eigenes Unternehmen. Von 2006 bis 2010 führte er das von Daniel Model finanzierte Kunstprojekt rebell.tv.[13][14][15] 2010 beendete er mit einem «Social Media Suicide» in der Krypta vom Cabaret Voltaire (Zürich), unter der Begleitung von Kurator Philipp Meier, die Arbeit an rebell.tv. Er wurde massenmedial um 2005 bekannt durch seine Arbeit für das News-Startup rocketboom. Die Tageszeitung Die Welt titulierte rebell.tv 2010 als «Kanal Geisteswissenschaften»,[16] und der Tages-Anzeiger stellte ihn als Teil der «digitalen Bohème» vor.[17] Von 2011 bis 2014 war Seydel Leiter des Internats im Gymnasium Kloster Disentis.[18] Er war viele Jahre im Präsidium des Internationalen Bodensee Clubs und ist Mitglied im P.E.N.-Club Liechtenstein.[19]
Werk
Die enzyklopädische Darstellung des Werkes Seydels folgt seinen Aktivitäten und seinen Themen im Netz und anderen Medien. Beides lässt sich nicht abschließend zusammenfassen, einordnen oder bewerten. Wenn man sich von den Hyperlinks des Seydel-Netzes, den Texten und Videos leiten lässt[20], entstehen Eindrücke, Assoziationen, Ideen .... Eventuell springt Inhaltliches ins Auge und es ergeben sich erste Konstellationen.[21] Möglicherweise kann man herausfinden, wie Seydel denkt und welche Fragen er stellt.[22] Es gibt keine abschließenden Antworten, wohl Statements, Vermutungen, Gedanken und Texte, die Piazzis und Seydels gemeinsames Arbeiten spiegeln. Es wird beispielhaft manches zusammengefasst und es werden eigene Denk- und Forschungsrichtungen skizziert. Die Lektüre der beiden Bände "Die Form der Unruhe" kann Zusammenhänge erschließen.[23] Hyperlinks führen zu Twitter, die Bruchstücke von Gedanken und Kommentare anderer zeigen. Der Leser, bzw. Nutzer begegnet Sichtweisen, die irritieren. Fragwürdiges kann man auf einigen Seiten bei Seydel kommentieren oder persönlich erfragen.[24] So lassen sich mögliche Zugänge zur wissenschaftlichen Kunst bzw. zur künstlerischen Wissenschaft Seydels entdecken.
Innerhalb der Kunst der Gegenwart
Seydel möchte den sich verändernden Lebens- und Kommunikationsraum gestalten, der uns alle herausfordere. Er traue es seiner „multimedialen Feldforschung“ zu, einen beispielhaften Ansatz zu finden, mit dem dieser aktuellen Herausforderung künstlerisch begegnet, bzw. autonom gehandelt werden kann.[25] Dieser "entgrenzte Kunstbegriff" enthält Konfliktpotential.[26] Zum Vorteil des Künstlers – so ein Kunstwissenschaftler und Medientheoretiker - sei es traditionellerweise gestattet, die „intuitiven Verfahren spontaner Assoziation“ anzuwenden und in Diskursen seine kritische Position zu beziehen. So bewahre er seine Freiheit, seine Autonomie und befreie sich von kulturell bedingten (Sach)Zwängen der politischen und epistemischen Diskurse, könne aber die Welt nicht verändern. Anstatt eines denkbaren revolutionären Programms sei das "Verlernen von Urteilen" angesagt. Dabei könne eine „kleine Dosis Kunstgeschichte“ hilfreich sein.[27]
Ehrungen und Auszeichnungen
- 2010: Mitglied der Jury Next Idea Ars Electronica
- 2007: Gewinner Migros Jubilee Award (Kategorie Wissensvermittlung)[29]
- 2006: Nominierung Webby Award 2006 (mit rocketboom)
Werke (Auswahl)
Selbstständige Publikationen
- Die Form der Unruhe. Band 1. Junius Verlag, Hamburg 2009, ISBN 978-3-88506-456-5.
- Die Form der Unruhe. Band 2. Junius Verlag, Hamburg 2010, ISBN 978-3-88506-474-9.
Beiträge in Büchern
- Muss Heimat Provinz sein. In: Thurgauer Jahrbuch, Frauenfeld 2001.
- Verschwunden und neu erfunden (Schule). In: Thurgauer Jahrbuch, Frauenfeld 2002.
- 2003: 200 Jahre sind genug. In: Thurgauer Jahrbuch, Frauenfeld 2003.
- Wer ist meine Mutter, wer sind meine Brüder, Tage der Utopie. Bücher Verlag, Hohenems 2007.
- Ambiguität. In: Lexikon zur zeitgenössischen Kunst. Benteli, Weinfelden 2010, ISBN 978-3-7212-0734-7
Fachtexte und Kolumnen
- 2000–2003: Regelmässige Kolumne im Tagblatt (NZZ-Gruppe)
- 2001: Mit soft skills softer killen!? In: SozialAktuell, Magazin des Schweizerischen Berufsverbandes Soziale Arbeit (SBS/ASPAS), Bern.
- 2002–2003: Monatliche Kolumnen in: SOCIALmanagement, Nomos Verlag, Baden-Baden.
- 2003–2004: Teilnahmen in der Fernsehsendung Sonntagsrunde (Talkrunde), Tele Ostschweiz.
- 2003: «Win – in – in»-Situation. In: St. Galler Tagblatt.
- 2005: Div. Beiträge als erster «Field Correspondent» ausserhalb der USA von rocketboom.
- 2008: Interview in der FM4-Morningshow mit DaddyD, Wien.
- 2009: Pierre Bayard: Wie man über Bücher spricht, die man nicht gelesen hat. In: Revue für postheroisches Management.
- 2010: Interview in der Sendung «Reflexe», SRF2 Kultur.
- 2010: Es geht um den Klang. In: Zukunftsmusik. Ein Festival innovativer Musik in der KulturRegion Stuttgart.
- 2010: Sprche – dnkn – wrklchkt. Antrittsvorlesung, Zifferblatt 32, P.E.N.-Club Liechtenstein.
- 2011: Warum Twitter ein sicherer Ort ist. In: medienheft.ch.
- 2012: Anderes anders machen. In: Zeitschrift für Theaterpädagogik, Heft 60.
Vorträge/Reden (Auswahl)
- 2001: Was kommt nach dem Information-Overkill? Audimax Universität St. Gallen, Institut für Wirtschaftsinformatik
- 2002: Die Welt ist ein Gespräch! Diplomrede. Kindergartenseminar des Kantons Thurgau.
- 2002: Professionelles sozialarbeiterisches Handeln in einer Welt, welche ein Gespräch ist. Alice Salomon FH Berlin.
- 2002: Wissenschaft? - Neugieronautik! Herbstworkshop an der Uni Zürich, Wissenschaftskulturen Kulturwissenschaften, Schweizerische Gesellschaft für Kulturwissenschaften SGKW.
- 2003: Schweizerische Effektivität und Effizienz? - Offensive Neugieronautik! Alice Salomon FH Berlin.
- 2003: Selbstständigkeit: Anfang oder Ende professioneller Sozialer Arbeit? Alice Salomon FH Berlin.
- 2009: Bewegtbild im Internet. Center for Storytelling ZHdK
- 2012: Leben in der periferWie? Center sursilvan d’agricultura, Disentis/Mustér
- 2012: Stadt der Ströme – Statt der Ströme. Interdisziplinäre Perspektiven auf die digitale Stadt in analogen Räumen, Tagung des Innovationskollegs der Fachhochschule Potsdam in Kooperation mit der Stadt Potsdam.
Ausstellungen (Auswahl)
- 2008: Royal Academy of Arts, London (Titel: «Joseph Beuys Nightmare»; Typ: Performance; Einladung: Swiss Cultural Fund in Britain; Kuration: Philipp Meier und Adrian Notz)
- 2009: Cabaret Voltaire, Zürich (Titel: «Kunst Macht Probleme»; Typ: Einzelausstellung, ohne Katalog; Kuration: Philipp Meier)
- 2010: Deutsches Historisches Museum, Berlin (Titel: «Hacken als form der erkenntnis: das orakel zu weh!weh!weh!»; Typ: Performance; Kuration: Bazon Brock.)
- 2010: Museum Bärengasse, Zürich (Ausstellungstitel: «Unterdessen – Dialog gestern heute morgen»; Typ: Gruppenausstellung, mit Katalog; Kuratorin: Annalies Walter.)
Weblinks
- Literatur von und über Stefan M. Seydel im Katalog der Deutschen Nationalbibliothek
- Kurzbiografie und Rezensionen zu Werken von Stefan M. Seydel bei perlentaucher.de
- Persönliche Website von Stefan M. Seydel
- Multimedia-Rebell Stefan M. Seydel, Michael Sennhauser im Gespräch mit Stefan M. Seydel, Sendung «Reflexe» im «Radio SRF 2 Kultur», 28. Mai 2010
- Stefan M. Seydel, Wiki-Dissident aus dissent.is, Sendung «Kontext», Radio SRF 2 Kultur, 7. Januar 2021
Einzelnachweise
- Ronnie Grob: Ruhe in Unruhe, Rebell.tv, Medienwoche, 18. Februar 2011
- Vgl. Torsten Meyer u. Gila Kolb: What’s Next? Ein Reader. Berlin 2013, Bd. II, S. 6.
- Vgl. Hans Sedlmayr: Verlust der Mitte. Gütersloh. Ungekürzte Ausgabe nach der 10. Auflage 1983 der Originalausgabe. Ibs. S. 103–157.
- Vgl. Torsten Meyer u. Gila Kolb ebd.- Dirk Baecker, Johannes M. Hedinger / 2012: THESEN ZUR NÄCHSTEN KUNST. What’s Next I, S. 35.
- Siehe Organisation der Form der Unruhe
- Vgl. Philipp Meier: Kunstvermittlung im Zeitalter von Social Media (2013) in What’s Next II, S. 215/7.
- Vgl. WikiDienstag.ch ProdUsing #DataLiteracy. https://dfdu.org/blog/2020/03/01/konstellatorische-kommunikation/
- Die Liste der Arbeitstreffen unter Wikidienstag.
- Vgl. Piazzi u. Seydel: Die Form der Unruhe. Hamburg Bd. II, S. 12.
- In der Stadt der Stroeme
- Vgl. Florian Dombois: Kunst als Forschung. Ein Versuch, sich selbst eine Anleitung zu entwerfen. What's Next Bd.I, S. 181. Wiederabdruck in G. Bast und B. Felderer (Hg.): ART and NOW. Über die Zukunft künstlerischer Produktivitätsstrategien. Wien/New York 2010, S. 79–89.
- Infos zu Tina Piazzi
- Ronnie Grob: Ruhe in Unruhe, Rebell.tv. In: Medienwoche, 18. Februar 2011.
- Wolfgang Steiger: «Avalon»: Dr. Model und die Nebel von Müllheim In: Die Wochenzeitung, Nr. 02/2010, 14. Januar 2010.
- https://rebell.tv/
- Marc Reichwein: Kanal Geisteswissenschaften. Die Welt, 28. Dezember 2010.
- Michael Soukup: Elektrisierter Vagabund. Tages-Anzeiger/Sonntagszeitung, 26. November 2006.
- Gymnasium Kloster Disentis trennt sich von Internatsleiter. In: Südostschweiz, 8. Juli 2014.
- PEN-Club Liechtenstein - – Kontakt & Impressum. Abgerufen am 3. Juni 2020.
- Ausgangspunkt könnte z. B. seine Homepage sein.
- Der Blog Seydels Blog
- Soziale Arbeit
- Links zum kostenlosen Download Form der Unruhe Bd. 1 pdf und Form der Unruhe Bd. 2 pdf
- Für Gespräche mit ihm trägt man sich unter WikiDienstag in einem freien Termin ein oder schreibt eine Mail an Hallo!
- Vgl. Piazzi/Seydel: Die Form der Unruhe. Bd. II. Hamburg 2010 S. 20.
- Ingo Niermann (2013): Eine kleine Kunstgeschichte des 21. Jahrhunderts. In What's Next. Bd. I, S. 412.
- Vgl. Beat Wyss (HfG Karlsruhe): Abschied von der Postmoderne und die Wende zum Realen. Laboratorien des kreativen Dilettantismus. 2012 In: What’s Next. Bd. I, S. 619.
- Stefan M. Seydel: Corona-Krise: Was #CoronaVirus mit Wikipedia zu tun hat. In: Neue Zürcher Zeitung. (nzz.ch [abgerufen am 3. Juni 2020]).
- Bloggen als Lebensform: Stefan M. Seydel und rebell.tv, Digital Brainstorming, 8. Januar 2009