Seilwurm
Der Seilwurm (lat. Homo funis vermis oder funis vermis, engl. rope worm) soll ein parasitärer Eingeweidewurm (Helminthe) sein, der angeblich den Darm des Menschen besiedelt. Bis heute gibt es keinen wissenschaftlich anerkannten Nachweis, dass eine solche Spezies überhaupt existiert. Nach dem gegenwärtigen Kenntnisstand ist davon auszugehen, dass es sich bei diesem Wurm um einen Hoax handelt, der rein geschäftlichen Zwecken dienen soll. Die Protagonisten der Seilwurm-Erkrankung kommen im Wesentlichen aus dem Umfeld von Befürwortern des Scharlataneriemittels Miracle Mineral Supplement (MMS) und alternativmedizinischen Darmreinigungpraktiken. Die einzigen Publikationen über Seilwürmer, die auf den ersten Blick wissenschaftlich scheinen, stammen von einer russischen Arbeitsgruppe in einem Online-Journal, in dem ohne Peer-Review veröffentlicht werden kann. Es existiert bis zum heutigen Tag keine ernstzunehmende wissenschaftliche Veröffentlichung über Seilwürmer.
Beschreibung
Der Seilwurm soll erstmals 2009 von Nikolai W. Gubarew[1] beschrieben worden sein.[2] In einer Veröffentlichung aus dem Jahr 2013 wird der Seilwurm wie folgt charakterisiert:
Die adulte Form des Seilwurms ist ein Anaerobier, der beim Menschen im Magen-Darm-Trakt lebt. Er soll sich im menschlichen Körper per Rückstoßantrieb („Strahlantrieb“) durch den Ausstoß von Gasblasen fortbewegen. Die Seilwürmer würden wie ein Seil aussehen und über einen Meter Länge erreichen können. Auf der Basis ihrer Morphologie seien fünf Entwicklungsstadien identifiziert worden:[2]
Im fünften Stadium soll der Seilwurm wie eine „harte Schnur von Schleim“[# 1] mit etwa einem Meter Länge aussehen. Da dies wie die verdrehten Fasern eines Seils aussehe, wäre der Name rope worm (Seilwurm) gewählt worden. Im Aussehen wären sie den menschlichen Fäzes recht ähnlich. In diesem Stadium seien die Seilwürmer vor allem nachts zwischen 1 und 6 Uhr aktiv. Die hohe parasitäre Aktivität und die von den Seilwürmern freigesetzten Toxine würden die Aufmerksamkeit und Reaktion des Wirtes verändern können. Die Farbe des Wurms sei abhängig von der Nahrung, die der Wirt aufgenommen hat, und könne von weiß bis schwarz variieren. Bei einem fastenden Wirt würden die Würmer nach einem Einlauf den Körper weiß verlassen, woraus die Autoren schließen, dass die Originalfarbe von Seilwürmern offensichtlich weiß sei. Seilwürmer könnten prinzipiell nahezu überall im menschlichen Körper gefunden werden, würden aber bevorzugt den Verdauungstrakt, und dort insbesondere den Dünn- und Dickdarm, besiedeln. Der durch die Darmperistaltik drohenden Ausscheidung aus dem Körper würden die Seilwürmer durch mehrere Mechanismen entgegenwirken. So würden sich die Seilwürmer mit Saugnäpfen oder Saugköpfen am Darm festheften. Adulte Exemplare würden mit einer Länge von über einem Meter die typische Länge des menschlichen Fäzes deutlich überschreiten. Die Wurmbewegung per Strahlantrieb würde eine Gegenkraft darstellen. Seilwürmer würden sich ähnlich wie ein Korkenzieher verdrehen können und seien damit in der Lage, das Lumen des Darms vollständig zu blockieren. Die Parasiten würden außerdem größere Gasblasen bilden, aus denen sich dann Saugnäpfe entwickelten.
Im Vorgängerstadium vier wäre der Seilwurm kürzer und hätte einen weicheren und schleimigeren Körper[# 2]. Da sie des Öfteren Seilwürmer des Stadium vier und fünf mit blutigen Köpfen vorfänden, schlossen die Autoren, dass sich Seilwürmer in diesem Stadium offensichtlich vom Blut des Wirtes ernährten.
Im dritten Stadium würde er wie eine „verzweigte Qualle“[# 3] aussehen.
Die zweite Entwicklungsstufe gleiche mehr einem „viskosen Rotz oder Schleim mit sichtbaren Gasblasen, die als Saugnäpfe wirken“[# 4] sollen.
Im Stadium eins sei der Seilwurm ein „schleimigerer Mucus mit weniger Blasen, die sich aber fast überall im Körper befinden können“.[# 5] Aufgrund von Ergebnissen lichtmikroskopischer Untersuchungen, Anfärbungen mit DAPI und der DNA-Analyse sei auf eine zelluläre Struktur der Seilwürmer geschlossen worden. Allerdings wären die gesammelten Daten nicht ausreichend gewesen, um die Spezies zu bestimmen.[# 6]
Im Gegensatz zu anderen Würmern hätten Seilwürmer keine Muskulatur, kein Nervensystem und keine eigenständigen Geschlechtsorgane.[3]
Prävalenz
Volinsky und Kollegen behaupten, dass die meisten Menschen Seilwürmer als Parasitäten beherbergen würden, ohne dies zu wissen. Hunderte ihrer Patienten wären von Seilwürmern befallen gewesen, und kein einziger Patient wäre ohne diesen Parasiten gewesen.[3]
Nach Darstellung der Autoren würden Patienten mit einer „alkalischen Blutreaktion“, mit Blut-pH-Werten im Bereich von 8 bis 10, den schlimmsten parasitären Befall aufweisen[# 7][3] Solche Blut-pH-Werte sind nach allgemein anerkannten medizinischen und chemischen Gesichtspunkten nicht möglich. Blut-pH-Werte oberhalb von 7,7 entsprechen dem Krankheitsbild einer schwerwiegenden Alkalose, die bei solchen Werten meist tödlich verläuft.[4][5][6]
Die Autoren liefern mehrere Erklärungsversuche für die mit der angeblich hohen Prävalenz im Widerspruch stehende sehr späte Entdeckung des Seilwurms: Seilwürmer würden nur selten als voll entwickelte Spezies ausgeschieden werden; sie würden dem menschlichen Fäzes sehr ähneln und häufig mit der Darmschleimhaut (Mukosa) bzw. MALT (Mucosa Associated Lymphoid Tissue)[7] verwechselt; als Anaerobier hätten sie außerdem keine Neigung, den menschlichen Körper zu verlassen.[3][2]
Schadwirkung
Seilwürmer sollen beim Menschen eine Reihe von unterschiedlichen Symptomen auslösen können. Diese reichen von Gewichtsverlust oder Gewichtszunahme über Lebensmittelallergien, Erkältungen, Husten, Rückenschmerzen, Exanthemen, Kopfschmerzen, Magenverstimmung bis zum Haarausfall.[3]
Der deutsche Medizinlaie, MMS-Befürworter und -Händler Andreas Ludwig Kalcker, der Volinsky recht nahe steht,[8] sieht einen Zusammenhang zwischen Seilwurmbefall und Autismus.[9]
Therapie
Da es nach dem Stand der Wissenschaft keine Seilwürmer gibt, ist eine entsprechende Behandlung nicht angezeigt. Von pseudowissenschaftlichen Kreisen werden die nachfolgenden Therapien empfohlen.
Nach Volinsky und Kollegen ist derzeit kein pharmazeutisches Anthelminthikum bekannt, mit dem Patienten von Seilwürmern geheilt werden können. Zur Entfernung von Seilwürmern – von Volinsky und Kollegen „Dehilminthation“ genannt[# 8] – empfehlen sie eine Abfolge von Einläufen, die mit „Reinigungswasser“ (cleaning water) beginnt, gefolgt von einem Einlauf mit Natriumhydrogencarbonat (baking soda) und Eukalyptusöl, auf den wiederum ein Einlauf mit Zitronensaft und abschließende Einläufe mit einer Mischung aus Milch und „Salz“ erfolgen.[3] Dieses Behandlungsverfahren orientiert sich an Patenten von Nikolai Gubarew u. a. aus den Jahren 2004 und 2005.[10][11]
Mögliche innere Blutungen, die angeblich nach der Entfernung von Seilwürmern im Entwicklungsstadium vier entstehen können, sollen durch die Behandlung mit dead water (‚totes Wasser‘) gestoppt werden. Dieses Wasser könne durch Elektrolyse erzeugt werden.[2] Dieses „tote Wasser“ soll in seiner Wirkung dem Chlordioxid sehr ähnlich sein.[12]
Rezeption und Bewertung
Die beiden Veröffentlichungen über den Seilwurm wurden bei arXiv eingereicht. Bei arXiv werden Publikationen ohne Begutachtung zur Archivierung akzeptiert. Ein Peer-Review-Prozess, bei dem unabhängige Gutachter aus dem gleichen Fachgebiet wie die Autoren herangezogen werden, um die Eignung zur Veröffentlichung zu beurteilen,[13] findet nicht statt. Der Hauptautor Alex A. Volinsky ist Associate Professor für Maschinenbau an der University of South Florida.[14] Auch von den Mitautoren ist keiner ein Parasitologe oder zumindest einer verwandten Disziplin zuzuordnen.[3]
Fußnoten
- Im Original: like a tough string of mucus
- Im Original: has softer slimier body
- Im Original: like branched jellyfish
- Im Original: viscous snot, or mucus with visible gas bubbles that act as suction cups
- Im Original: slimier mucus with fewer bubbles, which can reside almost anywhere in the body
- Im Original: the data collected is not sufficient to identify the specie [sic]
- Im Original: People with alkaline blood reaction (blood pH of 8-10) had the worst parasitic invasions
- Es handelt sich dabei um eine Begriffsfindung. Der Ausdruck findet ausschließlich im Seilwurm-Umfeld Anwendung
Siehe auch
Einzelnachweise
- N. V. Gubarev: Helminthes: known and....unknown, Special Literature. First Class Publishing, St. Petersburg, ISBN 978-5-903984-08-4.
- Alex A. Volinsky, Nikolai V. Gubarev, Galina M. Orlovskaya, Elena V. Marchenko: Development stages of the “rope” human intestinal parasite. In: [q-bio.OT], arxiv:1301.2845 vom 14. Januar 2013
- Alex A. Volinsky, Nikolai V. Gubarev, Galina M. Orlovskaya, Elena V. Marchenko: Human anaerobic intestinal "rope" parasites. In: [q-bio.OT], arxiv:1301.0953 vom 5. Januar 2013.
- M. Mennen, C. M. Slovis: Severe metabolic alkalosis in the emergency department. In: Annals of emergency medicine. Band 17, Nummer 4, 1988, S. 354–357, PMID 2833137.
- A. Khanna, N. A. Kurtzman: Metabolic alkalosis. In: Journal of nephrology. Band 19 Suppl 9, 2006, S. S86–S96, PMID 16736446 (Review).
- Dee U. Silverthorn: Physiologie. Pearson Deutschland GmbH, 2009, ISBN 978-3-827-37333-5, S. 960 (eingeschränkte Vorschau in der Google-Buchsuche).
- Alex A. Volinsky: Full Genome Sequencing & Study of Homo Funis Vermis, “Human Rope Worms”. (Memento des Originals vom 5. März 2016 im Internet Archive) Info: Der Archivlink wurde automatisch eingesetzt und noch nicht geprüft. Bitte prüfe Original- und Archivlink gemäß Anleitung und entferne dann diesen Hinweis. Chronic Disease Research Foundation, 2015
- annie: The Kalcker Parasite Protocol - Rope Worms - What are They? In: ropeworms.com. 30. Januar 2016, abgerufen am 5. März 2016 (englisch).
- annie: Andreas Kalcker Talks About Worms and Autism - "It's a Hunting Game" - Rope Worms - What are They? In: ropeworms.com. 31. Dezember 2013, abgerufen am 5. März 2016 (englisch).
- Gubarev Nikolay Vladimirovich, Gubarev Alexander, Sergey Lebedev, Orel Lyudmila Petrovna, Orel Galina, Pakulina Olga: Ousting of helminthes from human body. RU 2270688, 2005.
- Gubarev Nikolay Vladimirovich, Sergey Lebedev, Orel Lyudmila Petrovna, Pakulina Olga: Method for removing helminths out of human body. RU 2250111, 2004.
- THRiiiVE.com Summit #11 – Worms, Waves, Weed, and Whatever Works. 23.–24. November 2013, S. 10.
- Maria Gutknecht-Gmeiner: Externe Evaluierung durch Peer Review. Springer-Verlag, 2008, ISBN 978-3-531-16233-1, S. 57–60 (eingeschränkte Vorschau in der Google-Buchsuche).
- Profesor Alex A. Volinsky, Ph.D. In: eng.usf.edu. Abgerufen am 5. März 2016.