Rumpfparlament (Deutschland)
Als Rumpfparlament wird eine Versammlung von Abgeordneten bezeichnet, die 1849 in Stuttgart tagten. Sie waren Mitglieder der Frankfurter Nationalversammlung gewesen, die im Frühjahr 1848 gewählt worden war, der ersten gesamtdeutschen Volksvertretung. Das Rumpfparlament tagte vom 6. Juni bis zu seiner gewaltsamen Ausweisung am 18. Juni 1849 in der Hauptstadt des Königreichs Württemberg. Der Begriff ist eine spöttische Anlehnung an die Bezeichnung Rumpfparlament für das englische Unterhaus, nachdem unter Oliver Cromwell 1648 alle missliebigen Abgeordneten aus dem Parlament vertrieben worden waren.
Das Rumpfparlament bestand im Wesentlichen aus den linken, revolutionsbereiten Abgeordneten der Nationalversammlung. Sie suchten die nicht mehr realisierbare Möglichkeit, nicht nur die bereits beschlossene Arbeit der Nationalversammlung fortzusetzen, sondern ein weitergehendes demokratisches und sozialrevolutionäres Programm umzusetzen. In Frankfurt verblieb eine kleine konservative Gruppe zusammen mit der Zentralgewalt. Die meisten übrigen Abgeordneten (darunter die liberalen) hatten ihr Mandat niedergelegt, nachdem Preußen und andere Staaten sie dazu gezwungen hatten. Außerdem hatten Spannungen zwischen Gemäßigten und Radikalen zu Austritten aus der Nationalversammlung geführt.
Das Stuttgarter Rumpfparlament war im Rahmen der liberalen und nationalstaatlichen Märzrevolution von 1848/49 in den Staaten des Deutschen Bundes der letzte Versuch, die verbliebenen parlamentarisch-demokratischen Strukturen dieser Revolution, die im Frühsommer 1849 kurz vor ihrer endgültigen Niederschlagung stand, noch zu retten. Zugleich war das Rumpfparlament ein Ausdruck der Spaltung der parlamentarischen Bewegung im Gebiet des damaligen geografischen Vorstellungsraums Deutschland.
Bekämpfung der Nationalversammlung
Nach der Ablehnung der von der Kaiserdeputation der Nationalversammlung angebotenen Kaiserkrone durch den preußischen König Friedrich Wilhelm IV. und der zögerlichen Annahme der Reichsverfassung durch die Staaten des Deutschen Bundes war die Arbeit der Frankfurter Nationalversammlung praktisch gescheitert. Die größeren Monarchien wie Preußen, Österreich, Bayern und Sachsen, aber auch das Königreich Hannover beriefen ihre Abgeordneten widerrechtlich ab. Viele gemäßigt liberale Abgeordnete, die hinter dem Konzept einer konstitutionellen Monarchie gestanden hatten, legten ihr Mandat auch wegen der gewaltsamen Aufstände (Badische Revolution, Dresdner Maiaufstand, Elberfelder Aufstand, Iserlohner Aufstand von 1849, Pfälzischer Aufstand) nieder. Am 26. Mai musste die Nationalversammlung aufgrund der dauerhaft geringen Präsenz ihre Beschlussfähigkeitsgrenze auf 100 Abgeordnete absenken. In der Paulskirche in Frankfurt verblieben im Laufe des Mai 1849 großteils linke und dazu einige konservative Abgeordnete. Dies wiederum führte dazu, dass die Stadt Frankfurt auf preußischen Druck die Ausweisung der restlichen Abgeordneten aus der Stadt vorbereitete.
Am 30. Mai beschloss die Mehrheit der Nationalversammlung daher, der Einladung des württembergischen Abgeordneten Friedrich Römer, der zugleich württembergischer Justizminister war, zu folgen und von der Paulskirche in die Hauptstadt Württembergs umzuziehen. Diese Lösung schien den Abgeordneten vorteilhaft, da Württemberg aufgrund innerer Spannungen und auf Betreiben Römers als erstes Königreich bereits am 28. April 1849 die Reichsverfassung anerkannt hatte und außerhalb des Einflussbereichs Preußens, aber nahe an den süddeutschen Hochburgen der demokratischen Bewegungen lag.
Radikalisierung des Rumpfparlaments
In Stuttgart tagten die 154 verbliebenen Abgeordneten ab dem 6. Juni im Halbmondsaal der württembergischen Ständekammer. Zum neuen Präsidenten des Parlaments wurde Wilhelm Loewe (Calbe) gewählt, da der bisherige Präsident Theodor Reh sein Abgeordnetenmandat niedergelegt hatte. Da Reichsverweser Erzherzog Johann das Stuttgarter Rumpfparlament nicht anerkannte, wurden die gesamte Provisorische Zentralgewalt von den Abgeordneten für abgesetzt erklärt. Stattdessen proklamierte das Rumpfparlament eine provisorische Reichsregentschaft, der die Abgeordneten Raveaux, Vogt, Simon und Schüler sowie August Becher angehörten.
Wichtigster Ausschuss war der nach der Anzahl der Delegierten benannte Fünfzehnerausschuss, der den Ausschuss zur Durchsetzung der Reichsverfassung ersetzte. Der neue Tagungsort und die Reichsregentschaft konnten jedoch nicht darüber hinwegtäuschen, dass das Rumpfparlament nicht nur ohne reale Macht war, sondern auch die tatsächliche Legitimation sowie die Verankerung mit dem politischen Geschehen in Deutschland kaum mehr vorhanden war. So schrieb Römer am 17. Juni an Loewe:
„Ich will mit Ihnen nicht streiten über den rechtmäßigen Bestand der bis auf hundert Mitglieder herabgesunkenen Nationalversammlung. Ich für meine Person erkenne an, dass der Nationalversammlung zusteht, ihre Geschäftsordnung hinsichtlich der Beschlussfähigkeit der Versammlung abzuändern und nach und nach selbst bis auf drei Mitglieder herabzusetzen. Aber wenn es sich um die Anerkennung der Beschlüsse einer solchen Versammlung handelt, so muß man nach meiner Überzeugung einen andern als den bloss juristischen Maßstab anlegen.“
Ende
Angesichts der revolutionären Unruhen im Rahmen der Reichsverfassungskampagne mit den nahen Brandherden in Baden und der Pfalz bereute die württembergische Regierung die nicht mit ihr abgestimmte Einladung an das Parlament schon nach wenigen Tagen, insbesondere da sich das Rumpfparlament und die Reichsregentschaft immer mehr radikalisierten und zur Steuerverweigerung sowie zum militärischen Widerstand gegen die Nichtanerkennung der Verfassung durch die Bildung eines Reichsheeres aufriefen.
Gleichzeitig fürchtete die württembergische Regierung ein Eingreifen der nach Baden vorrückenden preußischen Truppen aufgrund der Anwesenheit des Rumpfparlaments in Stuttgart.
Römer legte sein Abgeordnetenmandat bereits in der ersten Sitzung am 6. Juni nieder, nachdem die neue provisorische Reichsregentschaft dem eigenen Verständnis als Reichsregierung folgend, aber ohne politischen Realitätssinn, die Hoheit über alle Bundesstaaten des Deutschen Bundes beansprucht hatte und so auch die württembergische Autonomie beeinträchtigte. Bereits nach der Sitzung vom 8. Juni musste das Parlament die Ständekammer verlassen und sich einen provisorischen Tagungsort suchen.
Am 17. Juni teilte Römer dem Parlamentspräsidenten abends mit, „dass die württembergische Regierung sich in der Lage befindet, das Tagen der hierher übersiedelten Nationalversammlung und das Schalten der von ihr am 6. dieses Monats gewählten Reichsregentschaft in Stuttgart und Württemberg nicht mehr länger dulden zu können.“ Am 18. Juni besetzte württembergisches Militär vor Sitzungsbeginn den Tagungsort, das Fritz’sche Reithaus. Der von den noch 99 in Stuttgart befindlichen Abgeordneten daraufhin improvisierte Demonstrationszug in Richtung des Sitzungssaales wurde durch das Militär schnell und ohne Blutvergießen aufgelöst, die nicht-württembergischen Abgeordneten wurden des Landes verwiesen.
Die Reichsregentschaft um Raveaux floh über Freiburg im Breisgau nach Baden-Baden, wo sie am 22. Juni eintraf, um sich anschließend mit einigen Abgeordneten nach Karlsruhe an den Sitz der badischen Revolutionsregierung zu begeben und die Nationalversammlung dort weiterzuführen. Bereits am Tag zuvor hatten die badischen Revolutionäre im Gefecht bei Waghäusel jedoch eine entscheidende Niederlage zu verzeichnen und befanden sich im teilweise ungeordneten Rückzug, insbesondere, da eine zweite preußische Armee bei Germersheim den Rhein überschritten hatte. Daraufhin wandte sich die Reichsregentschaft wieder nach Freiburg, wo sie ab dem 24. Juni ihren Sitz nahm. Am 30. Juni floh sie vor den heranrückenden Truppen in die Schweiz.
Erinnern vor Ort
Das Rumpfparlament tagte in der Zeit vom 6. bis zum 18. Juni an folgenden Orten[1]: Im Alten Landtag, im Fritzschen Reithaus, in der Bierhalle August-Kolb und im Hotel Marquardt. Am 18. Juni 1849 machten sich die Abgeordneten zu Fuß auf den Weg vom Hotel Marquardt zum Fritzschen Reithaus. Auf Befehl von Friedrich Römer wurde das Reithaus zuvor schon von Truppen umstellt. Auf dem Weg wurden die Abgeordneten in der Leuschnerstraße, die sich im Hospitalviertel befindet, von einem Dragonerregiment gestoppt. An diesem Ort befindet sich heute eine Stele, die an das Rumpfparlament in Stuttgart erinnert.
Quellen
Die Sitzungsprotokolle und Dokumente des Rumpfparlaments sind im Bundesarchiv in Koblenz zusammen mit den Dokumenten der Nationalversammlung unter der Signatur DB 51 verwahrt.
Literatur
- Emil Adolph Roßmäßler: Die deutsche Nationalversammlung in Stuttgart. Ein Tagebuch von einem Mitgliede derselben. Georg Egersdorff, Hechingen 1849 Digitalisat
- Heinrich Best, Wilhelm Weege: Biographisches Handbuch der Abgeordneten der Frankfurter Nationalversammlung 1848/49. Droste-Verlag, Düsseldorf 1998. ISBN 3-7700-0919-3
- Johann Gustav Droysen: Aktenstücke und Aufzeichnungen zur Geschichte der Frankfurter Nationalversammlung. Neudruck der Ausgabe 1924. Biblio-Verlag, Osnabrück 1967. ISBN 3-7648-0251-0
- Michael Kienzle; Dirk Mende: „Wollt Ihr den alten Uhland niederreiten?“ Wie die 48er Revolution in Stuttgart ausging. Dt. Schillergesellschaft, Marbach am Neckar 1998 (= Spuren, vol. 44), ISBN 3-929146-83-5.
- Wilhelm Ribhegge: Das Parlament als Nation. Die Frankfurter Nationalversammlung 1848/49. Droste-Verlag, Düsseldorf 1998. ISBN 3-7700-0920-7
- Haus der Geschichte Baden-Württemberg (Hrsg.): Rettet die Freiheit. Das Rumpfparlament 1849 in Stuttgart – eine Revolution geht zu Ende. Stuttgart 1999 ISBN 3-933726-14-X
Weblinks
- Bernhard Wördehoff: Gegen Demokraten helfen nur Soldaten: Das schmähliche Ende des ersten deutschen Parlaments am 18. Juni 1849 in Stuttgart; Artikel in der Wochenzeitung Die Zeit vom 16. Juni 1989, Nr. 25/1989, S. 45/46
Einzelnachweise
- Südwest Presse Online-Dienste GmbH: Rumpfparlament: Sommerserie „Widerstand“: Das Stuttgarter „Rumpfparlament“. 17. August 2017, abgerufen am 3. Juni 2019.