Roma in Bulgarien
Roma stellen in Bulgarien die zweitgrößte ethnische Minderheit dar und machen 4 bis 9 % der Bevölkerung aus.[1][2]
Geschichte
Die Roma stammen aus dem nördlichen Indien, ihre Sprache Romani ist mit Hindi, Panjabi und Marwari verwandt. Sie sind im Mittelalter aus unbekannten Gründen über Persien und Anatolien nach Europa und Nordafrika gewandert. Wahrscheinlich haben sie sich zu Beginn des 13. Jahrhunderts im heutigen Bulgarien niedergelassen. Durch die Diskriminierung durch die slawische Mehrheit waren sie darauf angewiesen, von Dorf zu Dorf zu ziehen. Von Bulgarien ausgehend breiteten sie sich über ganz Südosteuropa aus.
Unter der Osmanenherrschaft kamen weitere Roma aus Anatolien als Arbeitskräfte. Muslimische Roma wurden im osmanischen Reich bevorzugt, sodass die meisten Roma zum Islam konvertierten. Es gibt aber auch bulgarisch-orthodoxe Roma und konfessionslose (Zur heutigen Situation siehe Abschnitt zu Religion). Im 16. Jahrhundert gab es antiziganistische Gesetze. Zum einen mussten Roma mehr Steuern als andere Volksgruppen bezahlen, außerdem gab es Heiratsbeschränkungen. Roma wurden als ehl-i fesad (Menschen der Bosheit) bezeichnet und Verbrechen wie Prostitution, Mord, Diebstahl, Landstreicherei und Fälschung beschuldigt.[3]
Im Zeitalter der Nationalstaaten im 19. Jahrhundert ging der Vielvölkerstaat, das Osmanische Reich, langsam unter. In der Zeit entwickelte sich ein starker bulgarischer Nationalismus. Roma wurden stärker diskriminiert.
Trotz des Antiziganismus in der Bevölkerung wurden in der ersten Hälfte 19. Jahrhundert keine Maßnahmen gegen Roma unternommen, selbst während des Zweiten Weltkriegs, in dem Bulgarien mit Nazideutschland verbündet war. Deutschland und einige Verbündete haben im Zweiten Weltkrieg hunderttausende Roma ermordet (Porajmos).[4]
In der kommunistischen Volksrepublik Bulgarien wurde die traditionelle Roma-Lebensweise nicht anerkannt, sodass sie marginalisiert blieben. Viele Roma haben sich in dieser Zeit an die Lebensweise der Mehrheitsbevölkerung angepasst und leben sesshaft, wenn auch in großer Armut.
Nach der Wende wurden die Roma ebenfalls nicht berücksichtigt und ihre schlechte Lage verschärfte sich. Sie machen die ärmste Bevölkerungsgruppe aus. Sie haben häufig eine niedrige Bildung und ihr Anteil an Arbeitslosen ist deutlich höher als bei Bulgaren.[5] Seitdem gab es auch häufig antiziganistische Proteste und Hetzreden von teilweise hochrangigen Regierungspolitikern.[6]
Durch die COVID-19-Pandemie 2020/21 droht sich die Lage der Roma noch weiter zu verschlechtern. Grund sei die schlechte Gesundheitsversorgung, die Wirtschaftskrise und Lockdown-Maßnahmen, die für Roma besonders hart treffen, und die Spaltung der Gesellschaft, die zu noch mehr Antiziganismus führt.[7][8]
Demografie
Gemäß der Volkszählung lebten 2011 in Bulgarien 325.343 Roma und machten mit 4,4 % der Gesamtbevölkerung[1] den höchsten Anteil in der Europäischen Union aus. Schätzungen reichen bis zur doppelten Anzahl. Die EU-Kommission schätzt, dass von den rund 7 Millionen Einwohner Bulgariens 750.000 Roma sind.[2] Der Roma-Anteil ist je nach Oblast (Distrikt) sehr unterschiedlich: Während sie im Oblast Montana etwa 13 % der Gesamtbevölkerung ausmachen, leben in Smoljan nur 0,5 % Roma.[1]
Die größte Roma-Siedlung in Bulgarien ist Stolipinowo. Dort leben 45.000 Roma in meist slumartigen Behausungen.
Oblast | Roma (Absolut, Zensus 2011)[1] | in % |
---|---|---|
Blagoewgrad | 9.739 | 3,43 |
Burgas | 18.424 | 4,97 |
Chaskovo | 15.889 | 6,99 |
Dobritsch | 15.323 | 8,81 |
Gabrovo | 1.305 | 1,13 |
Kardschali | 1.296 | 0,99 |
Kjustendil | 8.305 | 6,36 |
Lovetsch | 5.705 | 4,38 |
Montana | 18.228 | 12,71 |
Pasardschik | 20.350 | 8,27 |
Pernik | 3.560 | 2,84 |
Pleven | 9.961 | 4,15 |
Plowdiw | 30.202 | 4,87 |
Rasgrad | 5.719 | 5,00 |
Ruse | 8.615 | 3,98 |
Schumen | 13.847 | 8,24 |
Silistra | 5.697 | 5,11 |
Sliwen | 20.478 | 11,82 |
Smoljan | 448 | 0,47 |
Sofia (Stadt) | 18.284 | 1,55 |
Sofia (Distrikt) | 17.079 | 7,40 |
Stara Sagora | 24.018 | 7,80 |
Targovishte | 7.767 | 7,27 |
Warna | 13.432 | 3,16 |
Veliko Tarnovo | 3.875 | 1,66 |
Widin | 7.282 | 7,66 |
Wraza | 10.082 | 6,18 |
Jambol | 10.433 | 8,48 |
Total | 325.343 | 4,87 |
Bevölkerungsstruktur
Das Durchschnittsalter ist niedriger als bei der restlichen Bevölkerung. Der Anteil von Kleinkindern (0–9 Jahren) beträgt bei bulgarischen Roma 12 %, bei ethnischen Bulgaren nur 4,4 %.[9] Grund für diese Entwicklung ist die hohe Fertilitätsrate. Die Zahl der Roma wächst, während die Zahl der ethnischen Bulgaren sinkt.
Kultur
Die Kultur unterscheidet sich von den Christlichen und Muslimischen Roma.
Sprache
Die meisten Roma sprechen heute Romani, eine indoarische Sprache, die mit Hindi, Panjabi und Marwari verwandt ist. Es werden in Bulgarien verschiedene Dialekte gesprochen, z. B. Erli (Arli, Yerli), Cocomanya und Džambazi. Diese Dialekte wurden stark durch die bulgarische Sprache geprägt und sind nicht für alle Sprecher anderer Roma-Dialekte verständlich. Mit den Erli-Dialekten ist der Futadžides-Dialekt von Chaskowo verwandt.[10]
Einige Roma sprechen Bulgarisch oder Türkisch als Muttersprache und bezeichnen sich selbst als Türken, da die eigene Sprache in der Vergangenheit keine Anerkennung bekam.
Religion
Christliche Roma nennen sich Dasikane-Roma, muslimische Roma nennen sich Horahane-Roma.[11] Heute sind etwa 50 % der Roma konfessionslos. 26 % gehören der bulgarisch-orthodoxen Kirche an, 13 % sind muslimisch und 7 % protestantisch.[12] Religion spielt bei den meisten Roma jedoch keine größere Rolle, viele haben sich nur den osmanischen und bulgarischen Herrschern angepasst. Der Protestantismus verbreitete sich meist durch westeuropäische Missionare.
Familie und Lebensweise
Spätestens seit der Zeit des Sozialismus wurden die nomadischen Dasikane-Roma sesshaft, daneben gab es schon seit der Osmanischen Zeit sesshafte Horahane-Roma. Ein großer Teil lebt in slumartigen Siedlungen in Vororten von Großstädten, ähnlich wie in anderen Balkanstaaten. Die Roma leben traditionell in Großfamilien. Die stark patriarchische Familienstruktur und Reste des Kastensystems sind Überbleibsel der indischen Abstammung. Roma mit höherer Bildung lehnen aber diese Lebensweise ab und leben in kleinen Haushalten nach westlicher Lebensweise. Ein großer Unterschied besteht zwischen (christlichen) Dasikane- und (muslimischen) Horahane-Romagruppen in Bulgarien. Vor allem die türkischsprachigen muslimischen Roma verleugnen ihre eigentliche Roma-Herkunft und bezeichnen sich selbst als Türken.
Marginalisierung und Antiziganismus
Armut
Die Roma sind europaweit die Volksgruppe mit dem niedrigsten Durchschnittseinkommen. Die Armutsquote ist bei Roma überrepräsentiert,[13] die Arbeitslosigkeit ist deutlich höher als bei ethnischen Bulgaren oder Türken im Land. Auch wenn mancherorts Städte und Gemeinden Versuche unternehmen die Romasiedlungen zu urbanisieren und mit der notwendigen Infrastruktur wie Kanalisation auszustatten, leben die meisten von Ihnen in slumartigen Vororten der Großstädten.[8] Die Bildung ist ebenfalls häufig niedriger als bei der Restbevölkerung, es gibt nicht wenige Analphabeten unter den Roma.[14]
Durch die geringe Bildung, Perspektive und Beschäftigung sind viele Roma im informellen Sektor tätig (Prostitution, Schwarzarbeit, Betteln).[15][16] Da sie deswegen nicht sozialversichert sind und im Alter nicht abgesichert, sind sie darauf angewiesen, viele Kinder zu bekommen. Ähnliche Prozesse existieren auch in der dritten Welt.
Durch die COVID-19-Pandemie 2020/21 droht sich die Lage der Roma noch weiter zu verschlechtern. Grund sei die schlechte Gesundheitsversorgung, die Wirtschaftskrise und Lockdown-Maßnahmen, die Roma besonders hart treffen, und die Spaltung der Gesellschaft, die zu noch mehr Antiziganismus führt.[7][8]
Antiziganismus
Antiziganismus war in Bulgarien immer weit verbreitet, egal ob im osmanischen Reich, im Königreich Bulgarien, in der bulgarischen Volksrepublik oder heute. Es gibt immer wieder Anti-Roma-Demonstrationen und antiziganistische Ausschreitungen von Rechtsextremisten. Ein Beispiel war der Boykott der bulgarischen ESC-Teilnehmerin Sofi Marinowa von bulgarischen Nationalisten, weil sie eine Roma ist.[17] Doch nicht nur unter Rechtsextremisten und Nationalisten, sondern auch in der Mitte der Bevölkerung gibt es antiziganistische Vorurteile.[18] Diese werden auch durch teilweise hochrangige Regierungspolitiker angetrieben, die antiziganistische Positionen offen vertreten und gegen die Roma-Minderheit hetzen.[6]
Es gibt aber auch Bulgaren, die sich aktiv gegen den Antiziganismus in Bulgarien einsetzen, vergleichbar mit den Anti-Rassimus-Bewegungen in Westeuropa.
Seit dem EU-Beitritt Bulgariens kamen türkischsprachige muslimische Roma, die sich selbst als Türken bezeichnen, nach Deutschland zum Arbeiten.
Einzelnachweise
- Zensus 2011. Abgerufen am 18. März 2021 (englisch).
- Roma inclusion in Bulgaria. EU-Kommission, abgerufen am 18. März 2021 (englisch).
- Faika Celik: Exploring Marginality in the Ottoman Empire: Gypsies or People of Malice (Ehl-i Fesad) as Viewed by the Ottomans_2004. (academia.edu [abgerufen am 18. März 2021]).
- Roma in Bulgarien. In: Burgenland-Roma. Abgerufen am 18. März 2021.
- Deutsche Welle (www.dw.com): Roma in Bulgarien: Sozialmaßnahmen laufen ins Leere | DW | 04.05.2005. Abgerufen am 18. März 2021 (deutsch).
- Deutsche Welle (www.dw.com): Hass und Antiziganismus in Bulgarien | DW | 30.10.2017. Abgerufen am 18. März 2021 (deutsch).
- Es drohen Rassismus, Pogrome, Hungersnot. In: Tagesspiegel. Abgerufen am 18. März 2021.
- Barbara Oertel: Roma in Bulgarien: Im Viertel eingesperrt. In: Die Tageszeitung: taz. 23. April 2020, ISSN 0931-9085 (taz.de [abgerufen am 18. März 2021]).
- Census Results in Bulgaria. 2011, abgerufen am 18. März 2021.
- Norbert Boretzky: GRP 06. Der Romani-Dialekt der Futadžides von Chaskovo/Bulgarien. Publikationsreihen des Forschungsbereichs Plurilingualismus am Treffpunkt Sprachen der Universität Graz, Graz 2018 (Inhalt)
- ROMA GROUPS | Център за междуетнически диалог и толерантност АМАЛИПЕ. Abgerufen am 4. August 2021 (britisches Englisch).
- Национален съвет за сътрудничество по етническите и интеграционните въпроси. 13. Januar 2016, abgerufen am 18. März 2021.
- Deutsche Welle (www.dw.com): Malen ohne Stifte - Das Leben der Roma am Rande der Gesellschaft | DW | 21.02.2020. Abgerufen am 18. März 2021 (deutsch).
- Equal Access to Quality Education For Roma. 27. Februar 2009, abgerufen am 18. März 2021.
- Marginalisierte Roma in Osteuropa. In: Neue Zürcher Zeitung. Abgerufen am 17. Januar 2003.
- earthlink e.V: Bulgarien. In: Aktiv gegen Kinderarbeit. Abgerufen am 18. März 2021 (deutsch).
- Nationalismus und Antiziganismus in Südosteuropa am Beispiel Bulgariens - Rosa-Luxemburg-Stiftung. Abgerufen am 18. März 2021 (deutsch).
- Peter K. Wagner und Denise Hruby: Und immer sollen die Roma schuld sein. In: Zeit Online. ZEIT, 14. Mai 2019, abgerufen am 18. März 2021.