Riegner-Telegramm
Das Riegner-Telegramm (auch Riegner-Bericht genannt) vom 8. August 1942[1] war die vermutlich erste Mitteilung an die Alliierten über die beginnende Judenvernichtung in Polen (Aktion Reinhardt) durch einen glaubwürdigen deutschen Informanten. Der Absender war Gerhart M. Riegner, Büroleiter des Jüdischen Weltkongresses in Genf. Der deutsche Industrielle Eduard Schulte hatte Riegner über die so genannte „Endlösung“ informiert. Das Telegramm fand zunächst keinen Glauben bei den Alliierten.
Über britische und amerikanische diplomatische Kanäle schickte er nach London und Washington folgenden, hier aus dem Englischen übersetzten Text:
„Erhielt alarmierenden Bericht in Führerhauptquartier werde Plan diskutiert und erwogen alle Juden in von Deutschland besetzten oder kontrollierten Ländern Anzahl dreieinhalb bis vier Millionen nach Deportation und Zusammenfassung im Osten mit einem Schlag auszurotten und damit die jüdische Frage in Europa ein für allemal zu lösen. Aktion geplant für Herbst. Methoden einschließlich Blausäure in Diskussion. Wir übersenden diese Information unter gebotenem Vorbehalt, da Genauigkeit von uns nicht überprüft werden kann. Unser Informant soll enge Verbindungen mit höchsten deutschen Behörden haben und seine Berichte sind im Allgemeinen zuverlässig. Bitte New York informieren und befragen.“
Obwohl bereits Nachrichten über Massenexekutionen in Polen und an der Ostfront in Europa nach England und in die USA gedrungen waren, wertete das amerikanische State Department den Inhalt des Telegramms als „wildes, von jüdischen Ängsten inspiriertes Gerücht“; das Foreign Office (Außenministerium) leitete das Telegramm erst einmal nicht weiter. Erst am 28. August 1942 gelangte es zum Leiter des Jüdischen Weltkongresses in New York, dem Rabbiner Stephen Wise, der daraufhin Felix Frankfurter, einen Richter am Supreme Court, informierte. Dieser sorgte dafür, dass der Bericht ins White House gelangte. Auch der Vatikan und das IKRK wurden informiert.[2][3] Beide hätten geltend gemacht, die Glaubwürdigkeit des Berichts nicht überprüfen zu können.[4]
Die danach erarbeitete und ab dem 17. Dezember 1942 veröffentlichte Interalliierte Erklärung zur Vernichtung der Juden machte jedoch den nunmehr umfassenden Kenntnisstand der Alliierten deutlich. Der damalige Finanzminister Henry Morgenthau jr. äußerte zu Beginn des Jahres 1944 gegenüber US-Präsident Roosevelt, dass „bestimmte Beamte unseres State Department“ versagt hätten und es Pflicht gewesen wäre, „die Auslöschung der Juden in dem von Deutschland kontrollierten Europa zu verhindern“.
Siehe auch
Literatur
- Heiner Lichtenstein: Warum Auschwitz nicht bombardiert wurde. Bund-Verlag, Köln 1980, ISBN 3-7663-0428-3.
- Walter Laqueur: Was niemand wissen wollte. Die Unterdrückung der Nachrichten über Hitlers „Endlösung“. Ullstein, Frankfurt am Main u. a. 1981, ISBN 3-550-07947-8.
- Gerhart M. Riegner: Niemals verzweifeln. Sechzig Jahre für das jüdische Volk und die Menschenrechte. Bleicher, Gerlingen 2001, ISBN 3-88350-669-9, (Zeugen der Zeit).
- Günter Schubert: Der Fleck auf Uncle Sams weißer Weste. Amerika und die jüdischen Flüchtlinge 1938-1945. Campus-Verlag, Frankfurt am Main u. a. 2003, ISBN 3-593-37275-4.
- Corrado Augias: Kapitel XIII in Die Geheimnisse des Vatikan, C.H. Beck, München 2011, ISBN 978-3-406-61363-0.
Weblinks
Einzelnachweise
- Das Originaltelegramm mit Riegners Bericht wurde am 8. August in Genf abgesetzt. Im Laufe der Übertragung über diplomatische Kanäle entstanden Kopien, die verschlüsselt und wieder entschlüsselt wurden. Siehe Gutman, Jäckel, Longerich, Schoeps (Hrsg.): Enzyklopädie des Holocaust. Die Verfolgung und Ermordung der europäischen Juden. Band 2. Argon Verlag, Berlin 1993, ISBN 3-87024-300-7.
- Jonathan Gorsky: Pius XII. and the Holocaust In: Carol Rittner, Stephen D. Smith, Irena Steinfeldt: The Holocaust and the Christian World. Yad Vashem 2000, S. 133–137 (englisch).
- Monty Noam Penkower: The World Jewish Congress Confronts the International Red Cross during the Holocaust. Jewish Social Studies 1979, S. 229–256 (englisch).
- Corrado Augias: Die Geheimnisse des Vatikan S. 340 ff, C.H. Beck, München 2011, ISBN 978-3-406-61363-0.