Reynaldo Hahn
Reynaldo Hahn (* 9. August 1874[1] in Caracas, Venezuela; † 28. Januar 1947 in Paris, Frankreich) war ein französischer Komponist.
Leben
Eltern waren die Venezolanerin spanisch-baskischer Abstammung Elena Maria Echenagucia (1831–1912) und der aus Hamburg stammende jüdische Kaufmann, Ingenieur und Erfinder Carlos Hahn. Reynaldo Hahn hatte vier Brüder (Hernán, Federico, Carlos, Eduardo) und fünf Schwestern (Elisa, Elena, Isabel, María, Clavita). Der Vater, Carlos Hahn, ging nach Venezuela, um sein Glück zu machen, und stieg dort zum Freund und Berater des Präsidenten Antonio Guzmán Blanco auf. Nachdem die siebenjährige Amtszeit des Präsidenten vorüber war, fühlte sich Carlos Hahn von den Gegnern des Präsidenten bedroht und siedelte mit der gesamten Familie 1878 nach Paris über. Der Familie, wohnhaft an der Rue du Cirque 6 (8. Arrondissement), gelang es bald, Kontakte zur Pariser Gesellschaft zu knüpfen. Hahns musikalische Begabung führte zum Eintritt ins Conservatoire de Paris im Oktober 1885, wo er Kompositionsschüler von Lavignac und Jules Massenet wurde. Unter seinen Mitschülern war auch Maurice Ravel. Bereits mit 13 schrieb er das Lied Si mes vers avaient des ailes, das für Zeitgenossen wohl seine bekannteste Komposition bleiben sollte.
Ende 1890 machte er Bekanntschaft mit der Familie Daudet. Hier wurde Hahns Liederzyklus Les Chansons Grises in Anwesenheit des Dichters Paul Verlaine uraufgeführt. Hahns Zyklus Les Études latines machte ihn schlagartig berühmt. In den vornehmen Pariser Salons (bei Prinzessin Mathilde, der Comtesse de Guerne,[2] Madeleine Lemaire) sang Hahn seine Melodien, wobei er sich selbst am Klavier begleitete. Hier konnte er Bekanntschaft mit Berühmtheiten wie Stéphane Mallarmé und Edmond de Goncourt machen. Bei Madeleine Lemaire lernte er 1894 Marcel Proust kennen, dem er bis zu dessen Tod verbunden blieb. Die ersten beiden Jahre ihrer Bekanntschaft verbrachten sie in einer leidenschaftlichen Beziehung, die sich nach dem Bruch 1896 in eine Freundschaft wandelte.
1890 schrieb er die Bühnenmusik zu L'Obstacle von Alphonse Daudet, 1897 die Symphonische Dichtung Nuit d'amour bergamasque. 1897 starb Hahns Vater, und die Familie zog in die Rue Alfred de Vigny 9 (17. Arrondissement). Ein Jahr später wurde Hahns Oper L'Ile du rêve uraufgeführt, ein Dreiakter nach Motiven von Pierre Loti. Im Jahr 1902 erschien La Carmélite, die wie das vorausgegangene Werk in der Opéra-Comique aufgeführt wurde. Eine Bildungsreise von Hamburg nach Bukarest, von Rom nach London ermöglichte Hahn, sich intensiver mit Malerei und Literatur auseinanderzusetzen.
Es folgten Bühnenmusiken zu Deux Courtisanes (1902) von Francis Croisset sowie zu Werther und Scarron. Weitere Liederzyklen erschienen, Chansons espagnoles, Rondels etc. und diverse Klavierstücke, Portraits de peintres, Premières Valses, Caprice mélancolique etc. Auch mehrere Ballettmusiken erschienen: Le Bal de Béatrice d’Este (1907), La Fête chez Thérèse (1910), Le Dieu Bleu (1912) für die Ballets russes von Diaghilev. 1912 erhielt er die französische Staatsbürgerschaft.[3] 1914 ging Hahn auf eigenen Wunsch an die Front, bis er 1916 zum Dienst im Kriegsministerium abgestellt wurde. Der Krieg unterbrach keinesfalls sein Schreiben (Le Ruban dénoué, pour deux pianos).
1920 erhielt Hahn eine Professur für Gesang an der Ecole Nationale de Musique de Paris, wo u. a. Pablo Casals, Jacques Thibaud und Nadia Boulanger lehrten. In dieser Zeit schrieb Hahn mehrere Operetten, die in Frankreich noch recht populär sind, wie Ciboulette (7. April 1923), Malvina (März 1935) und musikalische Komödien für Yvonne Printemps (Mozart, 1925) und Arletty (O mon bel inconnu mit einem Libretto von Sacha Guitry, Oktober 1933), le Oui des jeunes filles („drame espagnol“).
Neben dieser breitenwirksamen Musik näherte sich Hahn jetzt auch einem Genre, das er bislang vernachlässigt hatte – der Kammermusik. So erschienen ein Quintett mit Klavier 1921 und ein Stück für zwei Streichquartette (1939). Ein Klavierkonzert wurde 1931 uraufgeführt. Neben seiner vielseitigen kompositorischen Tätigkeit war Hahn gleichzeitig Musikkritiker beim Excelsior. Journal illustré quotidien (1919–1921) und später bei der Tageszeitung Le Figaro (Juni 1933 bis 1945).
Wegen seiner jüdischen Herkunft musste Hahn Paris 1940 verlassen. Er ging zunächst nach Cannes, dann nach Monte-Carlo. Als er 1945 nach Paris zurückgekommen war, wurde er Direktor der Pariser Oper. Die Beurteilung des Zeitgenossen und Hahn-Freundes Marcel Proust mag einiges von der Wirkung vermitteln, die Hahns Musik auf ihre Hörer ausübte:
« … cet ‹instrument de musique de génie› qui s’appelle Reynaldo Hahn étreint tous les cœurs, mouille tous les yeux, dans le frisson d’admiration qu’il propage au loin et qui nous fait trembler, nous courbe tous l’un après l’autre, dans une silencieuse et solennelle ondulation des blés sous le vent. »
Ehrungen
- 1924 Offizier der Ehrenlegion
- 1945 Mitglied der Académie des Beaux-Arts
- 1947 Kommandeur der Ehrenlegion
Werke (Auswahl)
Opern
- L’Île du rêve (1898),
- La Carmélite (1902),
- Nausicaa (1919),
- Colombe de Buddha (1921),
- Le Temps d’aimer (1926),
- Le Marchand de Venise (1935). Deutsche Erstaufführung: Stadttheater Bielefeld 28. April 2017.[4]
Operetten/musikalische Komödien
- Ciboulette (1923)
- Mozart (1925)
- Une Revue (1925)
- Brummel (1931)
- O mon bel inconnu (1933)
- Malvina (1935)
Ballette und Ballettpantomimen
- Fin d’amour (Ballettpantomime) (1892),
- Le Bal de Béatrice d’Este (1909),
- La Fête chez Thérèse (1910),
- Le Bois sacré (Ballettpantomime) (1912),
- Le Dieu bleu (1912),
- Aux bosquets d’Idalie (1937).
Instrumentalmusik
- Romance en la majeur pour violon et piano (1901/02)
- Sarabande et thème varié, für Klarinette und Klavier (1903)
- Nocture pour violon et piano (1906)
- Le Ruban dénoué, für zwei Klaviere (1916 ?)
- Quintette pour cordes et piano (1920/21)
- Sonate pour violon et piano en ut majeur (1926)
- Zwei Streichquartette (1939)
- Romanesque, für Flöte, Viola und Klavier
- Klavierkonzert E-dur, gewidmet Magda Tagliaferro
- Quatuor avec piano
- Premières valses pour piano
- Concerto inachevé pour violoncelle
- Soliloque et forlane pour alto et piano
- Venezia pour violoncelle et cordes
- Caprice mélancolique, für zwei Klaviere
Liederzyklen und einzelne Lieder
- Mélodies I (1895). Enthält u. a.: Si mes Vers avaient des ailes !, Seule, Offrande, Les Cygnes.
- Mélodies II (1920). Enthält u. a.: Quand je fus pris au Pavillon, Le Printemps, Ah ! Chloris.
Literatur
Siehe auch die Literaturangaben im Riemann Musiklexikon. Darüber hinaus:
- Daniel Bendahán: Reynaldo Hahn. Su vida y su obra. Italgráfica, Caracas 1973.
- Giuseppe Clericetti: Reynaldo Hahn. Compositore, Interprete, Critico, Zecchini, Varese, 2021, ISBN 978-88-6540-365-5.
- Jacques Depaulis: Reynaldo Hahn. Edition Atlantica, Biarritz 2007, ISBN 978-2-84049-484-3.
- Thea S. Engelson: The Melodies of Reynaldo Hahn. Dissertation, Universität von Iowa 2006.
- Bernard Gavoty: Reynaldo Hahn. Le musicien de la Belle Époque. Buchet/Chastel, Paris 1976.
- Mario Milanca Guzmán: Reynaldo Hahn, caraqueño. Contribución a la biografía caraqueña. ANH, Caracas 1989.
- Debra L. Spurgeon: A study of the solo vocal works of Reynaldo Hahn with analysis of selected melodies. Dissertation, Universität von Oklahoma 1988.
- Sylvain P. Labartette: Inventaire des mélodies imprimées de Reynaldo Hahn. mémoire de maîtrise, Sorbonne-Paris IV, 2005.
- Sylvain P. Labartette: Les Chansons Grises, premier recueil de mélodies de Reynaldo Hahn. mémoire de master 2, Sorbonne-Paris IV, 2007
- Sylvain P. Labartette: Les Feuilles blessées. L’Éducation musicale – Lettre d'information – no 128 janvier-février 2020
Weblinks
- Umfangreiche Website mit Bildmaterial, Quellen, Disko- und Biographie (französisch)
- Biographie mit Werkverzeichnis, Bibliographie, Bildern und Diskographie (französisch)
- Biographie mit Werkverzeichnis etc. (Nicht mehr online verfügbar.) Ehemals im Original; abgerufen am 7. August 2005 (französisch). (Seite nicht mehr abrufbar, Suche in Webarchiven)
- Werkübersicht (deutsch)
- Christoph Vratz: 09.08.1874 – Geburtstag von Reynaldo Hahn WDR ZeitZeichen (Podcast).
Einzelnachweise
- Bezüglich des Geburtsjahrs herrscht einige Verwirrung. IMSLP: Hahn, Reynaldo. Abgerufen am 10. Mai 2020 (englisch): „For some reason, one often sees "1875" for his birth year. According to Musicsack, New Grove has 1875, which may be the reason! BNF however has 1874, and is presumably based on authoritative sources; Musicsack notes 5 sources that have 1874.“ – Unzählige Lexika geben das Geburtsdatum mit 9. August 1875 an, beispielsweise: Hahn, Reynaldo. In: Marc Honegger, Günther Massenkeil (Hrsg.): Das große Lexikon der Musik in acht Bänden. Band 3. Herder, Freiburg/Basel/Wien 1980, ISBN 3-451-18053-7, S. 416. – Alfred Baumgartner: Propyläen Welt der Musik – Die Komponisten. Ein Lexikon in fünf Bänden. Bearbeitete Ausgabe. Band 2. Propyläen Verlag, Berlin/Frankfurt am Main 1989, ISBN 3-549-07832-3, S. 570. – Hans Heinrich Eggebrecht in Verbindung mit der Redaktion Musik des Bibliographischen Instituts (Hrsg.): Meyers Taschenlexikon Musik in 3 Bänden. Band 2. Bibliographisches Institut, Mannheim/Wien/Zürich 1984, ISBN 3-411-01995-6, S. 53. – Horst Seeger: Opernlexikon. 4. Auflage. Henschelverlag Kunst und Gesellschaft, Berlin 1989, ISBN 3-362-00014-2, S. 286. – Rolf Fath: Reclams Lexikon der Opernwelt in sechs Bänden. Band 3. Philipp Reclam jun., Stuttgart 1998, ISBN 3-15-030018-5, S. 194. – Peter Jost: Hahn, Reynaldo. In: Harenberg Komponistenlexikon. Harenberg Lexikon Verlag (sic!), Dortmund 2001, ISBN 3-611-00978-4, S. 383–384. – In neuerer Zeit finden sich Berichtigungen zu 1874. Daniel Bendahán habe die Geburtsurkunde ausfindig gemacht, die 1874 angebe. Daniel Bendahán: Reynaldo Hahn: su vida y su obra. Italgráfica, Caracas 1973, erweiterte 2. Auflage Monte Ávila Editores, Caracas 1992 (spanisch, zitiert nach fr:Reynaldo Hahn und LOC). – Hingegen führt die Library of Congress ihn weiterhin unter dem Jahr 1875: Library of Congress: Hahn, Reynaldo. In: LC Name Authority File (LCNAF). 8. April 2020, abgerufen am 10. Mai 2020 (englisch): „Sources: found: LC manual auth. cd.(hdg.: Hahn, Reynaldo, 1875–1947; d. of b. changed from 1874 to 1875 on the basis of further research)“ – Die widersprüchlichen Angaben gehen offenbar auf widersprüchliche amtliche Dokumente zurück: 1874 in der Geburtsurkunde und der Grabinschrift steht 1875 in der Carte d’identité und im Militärpass gegenüber, wie spätestens seit 1974 bekannt ist. Bernard Gavoty: Que savons-nous de Reynaldo Hahn. (mp3) Série de 5 émissions diffusées sur France-Musique en 1974 à l’occasion du 100e anniversaire de la naissance du compositeur. 1974, abgerufen am 10. Mai 2020 (französisch). – Philippe Blay fasst die Quellenlage zusammen und berichtet von einer Sängerin, die Hahn kannte und erzählte, er habe sich gerne jünger gemacht: Philippe Blay: L’Île du rêve de Reynaldo Hahn. Contribution à l’étude de l’opéra français de l’époque fin-de-siècle. Thèse pour l’obtention du titre de docteur de l'université de Tours et du prix de musicologie du C.N.S.M.D.P. 1999, S. 29–31 (französisch, reynaldo-hahn.net [PDF]). – Damit steht 1874 fest.
- i. e. Marie-Thérèse de Ségur (1859–1933).
- Reynaldo Hahn (1874–1947). In: www.musicologie.org. Abgerufen am 8. Oktober 2016.
- Melodischer Spott von schauriger Süße in FAZ vom 8. Mai 2017, S. 11.