Paul Oestreicher
Paul Oestreicher (* 29. September 1931 in Meiningen) ist ein anglikanischer Pfarrer und Domkapitular Emeritus. Er war Domkapitular und Leiter des Versöhnungszentrums der Kathedrale von Coventry in England und Vorsitzender der britischen Sektion von Amnesty International. Er ist Träger des Bundesverdienstkreuzes 1. Klasse und Ehrenbürger der Stadt Meiningen.
Leben
Paul Oestreicher wurde als Sohn des Kinderarztes Paul Oestreicher (1896–1981) und der Sängerin Emma Oestreicher in Meiningen (Thüringen) geboren. Bis kurz nach seiner Einschulung im Herbst 1938 verlebte er dort eine sorglose Kindheit. Aufgrund der jüdischen Abstammung seines Vaters musste seine Familie Deutschland 1939 verlassen. Sie fanden in Neuseeland Asyl, wo er weiterhin aufwuchs.
Von 1949 bis 1955 studierte er Germanistik und Politische Wissenschaft. 1955 bekam er für ein Jahr ein Forschungsstipendium beim Bonner Professor Helmut Gollwitzer über das Thema Christentum und Marxismus. Danach folgte von 1956 bis 1958 eine Ausbildung am Priesterseminar in Lincoln, England, dem sich bis 1959 eine Tätigkeit als Gast-Pfarrvikar in der evangelischen Kirche Hessen-Nassau anschloss.
1960 erhielt er in London die Diakons- und Priesterweihe und wurde Kaplan im Osten Londons. Von 1961 bis 1964 war er als Programmdirektor für die Abteilung Kirche und Gesellschaft bei der BBC zuständig. Anschließend war er bis 1969 als Osteuropareferent des Britischen Kirchenrates tätig; die Finanzierung der Stelle hatten die Quäker durch den Rowntree Charitable Trust übernommen – Oestreicher folgte hier im gewissen Sinn dem 1963 verstorbenen Richard Karl Ullmann nach.[1] An der Arbeit der Christlichen Friedenskonferenz nahm er anfänglich aktiv teil, als 1964 die II. Allchristliche Friedensversammlung in Prag stattfand, in deren Arbeitsausschuss er sich wählen ließ. 1968 wurde er wegen seiner Kritik an der von der Christlichen Friedenskonferenz unterstützten Niederschlagung des Prager Frühlings aus dem Leitungskreis ausgeschlossen.
Weitere Stationen seines Lebens waren von 1968 bis 1981 Gemeindepfarrer in Blackheath im Süden Londons und von 1981 bis 1985 Leiter des Außenamtes des Britischen Kirchenrates. 1974 zog ihn Justizminister Hans-Jochen Vogel als Geistlichen zur Vermittlung mit der in Haft sitzenden RAF-Spitze hinzu, damit diese ihren Hungerstreik beenden. Dabei traf Paul Oestreicher in der JVA Stammheim mit Andreas Baader, Gudrun Ensslin und Ulrike Meinhof zusammen.[2]
Aus Anlass der 1000-Jahr-Feier von Meiningen im Jahr 1982 weilte er erstmals wieder in seiner Geburtsstadt, wo er unter Beobachtung der Staatssicherheit, die mindestens neun IM's auf ihn ansetzte, in der Stadtkirche predigte.[3] Seit der Wende besucht er mit seiner Frau regelmäßig die Stadt, mit der er sich nach wie vor eng verbunden fühlt. Seit 1983 ist er Mitglied in der „Religiösen Gesellschaft der Freunde“ (Quäker).
Von 1985 bis 1997 war er Domkapitular und Leiter des Internationalen Versöhnungszentrums der Kathedrale von Coventry. 1988 arrangierte er für Bärbel Bohley, Werner Fischer und Vera Wollenberger eine Einladung zu einem Studienaufenthalt nach Großbritannien, die es (je nach Einschätzung) ihnen möglich machte, aus der Haft freizukommen und die DDR zu verlassen bzw. den DDR-Behörden eine Möglichkeit gab, sie ins Ausland abzuschieben.
1995 wurde Paul Oestreicher Ehrenbürger der Stadt Meiningen. Seit 1998 ist er als Domkapitular Emeritus im Ruhestand. Paul Oestreicher ist seit 2001 in zweiter Ehe mit der Neuseeländerin Barbara Einhorn, Professorin an der Universität Sussex, verheiratet und lebt in Brighton, England. Einhorn war 1983 wegen ihrer Kontakte zu Frauengruppen kurzzeitig in der DDR in Haft, und Oestreicher war einer derjenigen, die ihre Entlassung erreichten.
Im Herbst 2010 reiste Oestreicher durch Deutschland, um Veranstaltungen durchzuführen. Einige Jahre war er im Sommer auf Hiddensee in der Urlauberseelsorge tätig.[4][5] Seinen 80. Geburtstag feierte er in seiner Heimatstadt Meiningen, wo er gemeinsam mit Gunter Demnig Stolpersteine verlegte und von ihm gespendete Bäume pflanzte.[6]
Am 22. September 2013 hielt Paul Oesterreicher auf dem Jenaer Eichplatz die Predigt beim Abschlussgottesdienst des Kirchentages der Evangelischen Landeskirche Mitteldeutschlands. Aus Anlass seines 90. Geburtstages ehrte ihn die Stadt Meiningen, in dem sie im Beisein seines Sohnes Martin am 29. September 2021 einem öffentlichen Platz in „Paul-Oestreicher-Platz“ benannte.[7] Des Weiteren erhielt das „Grüne Kabinett“ im Max-Reger-Konservatorium in der Struppschen Villa des Namens seiner Mutter und Sängerin Emma Oestreicher. Gleichzeitig wurde das Kinderbuch „Flucht aus Meiningen“, das seine Kindheitsgeschichte beschreibt, veröffentlicht.[7] Mit seiner Frau Barbara lebt Paul Oestreicher seit einigen Jahren beständig in Neuseeland.
Leistungen
Paul Oestreicher ist Journalist und Publizist auf den Gebieten Menschenrechte, Friede, Glaube und Gesellschaft. Als Vorsitzender der britischen Sektion von Amnesty International trat er für politische Gefangene in Osteuropa und Südafrika ein. Weiterhin förderte er als anglikanischer Pfarrer die Beziehungen zu den Kirchen in der DDR und in Südafrika.
Einen entscheidenden Anteil an der Ost-West-Versöhnung im Kalten Krieg hatte er als Vorsitzender des Versöhnungswerkes der Kathedrale von Coventry und als Vereinsgründer der „Dresden Trust“, die den britischen Anteil zum Wiederaufbau der Frauenkirche in Dresden beisteuerte.
Ehrenämter
- 1975 bis 1979: Vorsitzender der britischen Sektion von Amnesty International
- seit 1986: Vizepräsident der CND, die zentrale Friedensbewegung Großbritanniens
- seit 2004: Mitarbeiter der Hochschulseelsorge an der Universität Sussex in Brighton
Auszeichnungen und Ehrungen
Durch seine vielfältigen Bestrebungen für Versöhnung und Menschenrechte erhielt Paul Oestreicher eine Reihe von bedeutenden Auszeichnungen: das Bundesverdienstkreuz 1. Klasse, die Ehrenmedaille der Stadt Coventry und den Verdienstorden des Freistaates Sachsen (2004). Weiterhin wurde er zum Dr. litt. h.c. der Universität Coventry ernannt, ist Wartburgpreisträger und seit 1995 Ehrenbürger seiner Geburtsstadt Meiningen. Am 1. Juli 2008 erhielt er einen theologischen Ehrendoktor (DD), der von Rowan Williams, dem Erzbischof von Canterbury als Lambeth Degree verliehen wird. Nach ihm ist seit 2021 ein Platz in Meiningen benannt.
Veröffentlichungen
- Die Krankheit unserer Zeit als Problem für Arzt und Seelsorger. Friedrich, Pyrmont 1965.
- Erinnern und Gedenken. Steinmann 1991, ISBN 3-927043-15-X.
- Aufs Kreuz gelegt. Wichern-Verlag, Berlin 1993, ISBN 3-88981-040-3.
- Die Quäker: Ein Orden in der Gemeinschaft der Christen? Verlag Religiöse Gesellschaft der Freunde, Bad Pyrmont 1997, ISBN 3-929696-23-1.
- Der 9. November – ein deutscher Schicksalstag? Überlegungen zum 9. November im vergangenen Jahrhundert anläßlich der Eröffnung der Versöhnungskapelle am Standort der Potsdamer Garnisonkirche am 9. November 2006. Volltext (PDF; 81 kB)
Literatur
- Ursula Engel, in: Der Tagesspiegel. gedruckte Ausgabe von 10. November 2001.
- FW Meininger Tageblatt. Ausgabe 29. September 2006.
- Aktion Sühnezeichen Friedensdienste e.V., Berlin.
- Dieter Schneeberger, in: Sonntagsblatt. vom 8. Oktober 2006.
Weblinks
Einzelnachweise
- Merrilyn Thomas: Communing with the enemy: covert operations, Christianity and Cold War politics in Britain and the GDR. Peter Lang, Frankfurt am Main 2005, ISBN 3-03910-192-7, S. 125.
- Iris Helbing-Soudan: Im Gefängnis bei der RAF-Spitze – „Inmitten einer Kampfposition“. In: Meininger Tageblatt, erschienen am 28. September 2021 und (online) in inSüdthüringen.de am 27. September 2021.
- Marko Hildebrandt-Schönherr: „Eine meiner bedeutendsten Erfahrungen in der DDR“. In: Meininger Tageblatt, erschienen am 25. September 2021.
- Ein Leben für die Hoffnung auf Versöhnung, Mitteldeutsche Kirchenzeitung vom 26. September 2011, abgerufen am 11. Dezember 2011.
- Angelika Reiser-Fischer: Politologe Paul Oestreicher kehrt in Thüringer Heimat zurück, thueringer-allgemeine.de, 24. August 2011.
- Juden in Meiningen (Memento des Originals vom 14. Juli 2014 im Internet Archive) Info: Der Archivlink wurde automatisch eingesetzt und noch nicht geprüft. Bitte prüfe Original- und Archivlink gemäß Anleitung und entferne dann diesen Hinweis.
- Erik Hande: Paul Oestreicher: „Bleibt solidarisch!“. In: Meininger Tageblatt, erschienen am 30. September 2021.