Moers Festival
Das Moers Festival (Eigenschreibweise seit 2006 mœrs festival) ist ein internationales Musikfestival in Moers am Niederrhein (Nordrhein-Westfalen). Gegründet 1972, zunächst mit zwei, ein Jahr später mit drei Festivaltagen, fand es von 1974 bis 2010 jährlich an vier Tagen zu Pfingsten statt und wurde wegen städtischer Sparmaßnahmen ab 2011 auf drei Tage gekürzt. Seit 2014 findet das Festival in der neuen Festivalhalle Moers und wieder auf vier Tage verteilt statt.
Geschichte
Internationales New Jazz Festival Moers (1972–2005)
Burkhard Hennen organisierte 1972 als künstlerischer Leiter das Internationale New Jazz Festival Moers mit Unterstützung von Kulturvertretern der Stadt Moers. Das Free-Jazz-Festival etablierte sich schnell in der nationalen und internationalen Szene der freien Jazzmusik.
In den ersten Jahren war der Schlosshof des Moerser Schlosses der Spielort für die Künstler. Dann verlagerte man 1975 das Festival in den nahe gelegenen Freizeitpark, da die Konzerte immer mehr Besucher anzogen. Nach einigen Jahren unter freiem Himmel mit vielen Regengüssen wurde das Jazzfestival von 1983 bis 1986 in die Moerser Eissporthalle verlegt; von 1987 bis 2013 fand das Festival im größten Zirkuszelt Europas wieder im Moerser Freizeitpark statt. Hennen erweiterte 1979 das Festival an den Vormittagen mit „Projekten“, bei denen Musiker verschiedener Gruppen zusammen improvisierten.
Ab 1979 zeichnete das WDR-Fernsehen das Festival regelmäßig auf und erweiterte später die Zusammenarbeit mit Radioübertragungen und -aufzeichnungen in den Sendern WDR 3 und WDR 5. Im Jahr 2002 drängte die Programmdirektion des WDR auf ein Mitspracherecht bei der Programmgestaltung. Da der WDR sich schon zuvor zunehmend aus der Fernsehaufzeichnung zurückgezogen hatte und die morgendlichen Improvisations-Projekte für „nicht sendefähig“ hielt, war für Hennen das Maß voll und er kündigte den Vertrag mit dem Sender auf.[1] Der öffentlich-rechtliche Radiosender NPS der nahe gelegenen Niederlande überträgt seit 2001 Live-Konzerte.[2]
1985 führte Hennen eine weitere Reihe in das Festival ein, die African Dance Night, die sich nicht nur einem neuen Musikspektrum öffnete, sondern auch zu einem attraktiven Angebot für Nicht-Jazzfans aus der Region wurde. Afrikanische Superstars wie Mori Kante, Salif Keïta, Cheb Mami oder Youssou N’Dour traten auf und brachten das Publikum zum Tanzen. Diese Veranstaltung wurde in der Moerser Eissporthalle durchgeführt, zuletzt im Jahre 2005.[3]
Im Laufe der Zeit erweiterte sich der Musikcharakter des Festivals vom reinen, freien Jazz über Weltmusik bis hin zu den Grenzgängern populärer Musik von heute wie Soul, Funk und Hip-Hop. Das Verständnis der Festivalmacher von Freier Musik entwickelte und differenzierte sich beständig, experimentelle und improvisierte Musik entdeckten und präsentierten sie zunehmend auch in den Musikstilen anderer Ethnien: „das jazz-typische Phänomen der Improvisation [wird] seit Jahrhunderten auch in anderen Musik-Kulturen … gepflegt“.[4] Einige Musikkritiker sahen darin eine Auflösung des Jazz, andere begrüßten diese Entwicklung. Die Liste der hochkarätigen Musiker, die im Laufe der Jahre auf dem Festival aufgetreten sind, ist lang. Unter anderem spielten Cecil Taylor, Lester Bowie, Anthony Braxton, Peter Brötzmann, John Carter, Archie Shepp, Sun Ra, Art Ensemble of Chicago, Mars Williams, Shibusa Shirazu, Jamaaladeen Tacuma, Ornette Coleman, um nur einige Musiker zu nennen.
mœrs festival (2006–2013)
Nach 34 Jahren gab Burkhard Hennen im Jahr 2005 die künstlerische Leitung des Festivals wegen weiterer Querelen mit der Moerser Stadtverwaltung auf.[5] Als neuer künstlerischer Leiter wurde Reiner Michalke durch die neu gegründete „Festival Moers Kultur GmbH“ eingesetzt. Seit 2006 trägt es die Wortmarke mœrs festival. Mit dem Wechsel des Veranstalters wurde ab 2006 die eintägige African Dance Night durch nächtliche Projekte rund um das Festivalgelände und in der Innenstadt abgelöst.
Der knappe Finanzetat der Stadt wurde im Mai 2010 zum Anlass genommen, erneut alle Bestandteile des Festivals radikal in Zweifel zu ziehen. So wurde erwogen, ab 2011 alle Camper an der Finanzierung zu beteiligen oder den Pfingstmontag zu streichen.[6] Aufsichtsratsmitglieder der 2005 gegründeten Festival Moers Kultur GmbH wollten auch den neuen künstlerischen Leiter Reiner Michalke ablösen: „Teile der politischen Elite von Moers hoffen auf eine Abschaffung des Festivals“.[7] Im Sommer 2010 beschloss der Moerser Stadtrat eine Streichung des Pfingstmontages als Veranstaltungstag.[8] Zusätzlich wurde seit 2011 eine Gebühr für die Übernachtung im Zelt von den Besuchern verlangt, die keine gültige Eintrittskarte für das Konzertzelt vorweisen konnten.[9]
Wegen der angespannten Finanzlage der Stadt Moers drohte den Kulturschaffenden 2012 eine weitere Sparwelle: „Große Kulturveranstaltungen wie das moers festival dürften endgültig zur Disposition stehen.“[10] Eine Anfang Juni 2012 im Rahmen des Haushaltssanierungsplanes veröffentlichte „Streichliste“ sah vor, auch dieses Festival ab 2014 nicht mehr zu fördern.[11] Um das Festival für Moers und NRW zu retten, war eine Förderung des Landes NRW im Gespräch.
mœrs festival seit 2014
Seit 2014 findet das Festival wieder viertägig in der neuen, 2000 Besucher fassenden Festivalhalle am Standort Solimare statt. Mit der ehemaligen Tennishalle, deren Ausbau vom Land und vom Bund finanziell unterstützt wurde, hat es zum ersten Mal in seiner Geschichte eine feste Spielstätte.[12] Für zahlende Festivalbesucher steht eine bewachte, kostenlose Campingfläche zur Verfügung. Besucher ohne Festivalticket können mit einer separat erhältlichen Campingkarte ebenfalls das Areal nutzen. Das Campen im Freizeitpark ist nicht mehr möglich. Der Händlermarkt wurde quantitativ stark reduziert und findet unmittelbar vor der Festivalhalle statt. 2014 kamen rund 12.000 Besucher zum Festival.[13] Im Jahr 2015 wurde dem Festival der Europe Jazz Network (EJN) Award for Adventurous Programming 2015 verliehen.[14]
Ab 2016 erhält das Festival für drei Jahre zusätzliche Mittel aus dem Bundeshaushalt. Der Veranstalter, die Moers Kultur GmbH, befindet sich nach erheblichen finanziellen Verlusten aus 2015 in einer finanziellen Schieflage, die die weitere Existenz der Moers Kultur GmbH und somit auch des Festivals bedroht.[15] Nur durch eine 417.267-Euro-Bürgschaft der Stadt Moers konnte das Festival 2016 stattfinden.[16] Im August 2016 erklärte Reiner Michalke nach weiteren Querelen finanzieller Natur mit dem Aufsichtsrat der Moers Kultur GmbH seinen Rücktritt als künstlerischer Leiter des Festivals.[17] Seit Dezember 2016 ist der Moerser Tim Isfort neuer künstlerischer Leiter des Festivals,[18] der ankündigte, ein „ganz neues Festival“ schaffen zu wollen.[19] Zusätzlich zu den 24 Konzerten in der Festivalhalle gab es fast 60 Konzerte in der Stadt, im Schlosspark und im neu gestalteten Festivaldorf, sowie an weiteren zwölf Spielorten wie Röhre und Bollwerk 107.[20]
Ähnlich wie bereits 2020 fand aufgrund der COVID-19-Pandemie auch 2021 das Festival überwiegend ohne Publikum statt und wurde stattdessen von arte übertragen; das neue Freiluftareal im Park erlaubte einige Konzerte mit vor Ort anwesenden Zuschauern.[21]
Improviser in Residence
Als Bestandteil des Festivals etablierte Michalke im Jahr 2008 (in Kooperation mit nimm! – Netzwerk Improvisierte Musik Moers) das Improviser-in-Residence-Projekt,[22] bei dem ein/e Musiker/in für ein Jahr in der Stadt Moers lebt, arbeitet und Konzerte organisiert. Als Ansprechpartner für Projekte und künstlerische Koproduktionen arbeitet er bzw. sie mit Kindern, Jugendlichen und Erwachsenen.
Bisherige Improviser in Residence:
- 2008: Angelika Niescier
- 2009: Simon Rummel
- 2010: Sanne van Hek
- 2011: Achim Tang
- 2012: Ingrid Laubrock
- 2013: Michael Schiefel
- 2014: Julia Hülsmann
- 2015: Hayden Chisholm
- 2016: Carolin Pook
- 2017: John-Dennis Renken[23]
- 2018: Josephine Bode[24]
- 2019: Emilio Gordoa[25]
- 2020: Mariá Portugal
- 2021: Talibam! (Matt Mottel & Kevin Shea)[26]
- 2022: Tomeka Reid[27]
Das Projekt wird von der Kunststiftung NRW gefördert.[28]
Literatur
- Frank Schemmann: Photography. Moers Festival 1995–2004. Mit einem Vorwort von Burkhard Hennen. Labonté Köhler Osnowski (LKO), Köln 2004, ISBN 978-3-933357-25-0, acht Bildbeispiele, (Memento vom 29. August 2004 im Internet Archive).
- Kerstin Eckstein, Kathrin Leneke (Hrsg.): [re]visiting Moers Festival. Verlag Wolke, Hofheim 2021, ISBN 978-3-95593-255-8.
Filme
- Moers Festival 2006. Musikdokumentation, Deutschland, 2006, 90 Min., Produktion: WDR, Reihe: Rockpalast, Erstsendung: 16. Juli 2006, Inhaltsangabe vom WDR, (Memento vom 13. Februar 2009 im Internet Archive).
Ein Jahr nach dem Rücktritt des Gründers Burkhard Hennen machte der WDR-Rockpalast die erste Dokumentation über das Festival. - moers festival 2009. Rau, schnell, bunt – eine Festivalcollage. Festival-Dokumentation, Deutschland, 2009, 30 Min., Produktion: Kunsthochschule für Medien Köln (KHM).
- moers festival – Shortcuts. Filmische Rückblicke der Jahre 2010 bis 2015, Produktion: KHM.
- Music of the Now – Offstage at Moers Festival 2012. Konzertdokumentation, 30 Min., Buch und Regie: Jana Heinlein, mit Jon Irabagon, Carla Bley & Steve Swallow, Pablo Giw und Mirek Pyschny; online-Video.
- Moers Festival 2013 – Highlights des Festivals vom 17. bis 19. Mai 2013. 59 Min., Produktion: WDR, Reihe: west.art Jazzline, Erstsendung: 14. Oktober 2013.
- Moers Festival 2014. Konzertmitschnitte 6. bis 9. Juni 2014, Produktion: arte concert, Konzertmitschnitte.
- Moers Festival 2014. Konzert-Reportage, Deutschland, 2014, 44:00 Min., Buch und Regie: Tobias Kremer, Kamera: Studierende der Kunsthochschule für Medien Köln, Produktion: WDR, Online-Video.
- Moers Festival 2016. Konzert-Reportage, Deutschland, 2016, 58:50 Min., Produktion: WDR, Reihe: west.art Jazzline, Erstsendung: 6. November 2016, Online-Video, aufrufbar bis 6. November 2017.
Hörfunk
- „In vielerlei Hinsicht das letzte Woodstock-Festival.“ Das New Jazz Festival in Moers. Hörfunk-Feature, Deutschland, 1992, ca. 55 Min., Buch und Regie: Gotthard Schmidt, Produktion: Sender Freies Berlin (heute: RBB).
Weblinks
- Offizielle Internetseite des mœrs festivals
- Thomas Neuhauser: moers festival 2014 – Ein Rückblick auf 43 Festivaljahre. In: arte, 6. Juni 2014, mit Titelbildern der Programmhefte.
- Festivalberichte
- Freiheiten jenseits von Free. (Memento vom 14. Juni 2009 im Internet Archive) In: Neue Zürcher Zeitung, 29. Mai 2009.
- Festival in Moers. Was Jazz darf und ist. In: Frankfurter Rundschau, 4. Juni 2009.
- Der Himmel über Moers. (Memento vom 4. Mai 2012 im Internet Archive) In: netzeitung, 17. Mai 2005.
- Wo Wogram Gram verpustet. (Memento vom 6. März 2009 im Internet Archive) In: Stattzeitung (Moers), 23. Oktober 2004.
- Die Grenzen des Genres. In: Tagesspiegel, 5. Juni 1998.
Einzelnachweise
- Stefan Pieper: Moers-Festival ohne WDR. Aufbruch am Niederrhein mit neuen Akzenten. In: JazzZeitung, 2003, Nr. 6, S. 10.
- jazzmexx.com (Memento vom 6. Februar 2006 im Internet Archive)
- Plakat der letzten African Dance Night 2005. (Memento vom 28. April 2005 im Internet Archive) (PDF; 377 kB).
- Burkhard Hennen: Moers 1994, in: Programmheft, Pfingsten, 20.–23. Mai 1994, S. 3
- 34. MoersFestival. Eine Ära geht zu Ende. (Memento vom 9. Februar 2006 im Internet Archive) (PDF; 530 kB), ExtraBlatt, Pfingsten 2005, archiviert.
- Michael Passon, Thomas Wittenschlaeger: Offene Fragen und Vorwürfe vor Moers-Festival. In: WAZ Online, 19. Mai 2010.
- Wolf Kampmann: 39. Moerser Musikfestival. Alles wieder offen. In: Frankfurter Rundschau, 28. Mai 2010.
- Heribert Brinkmann: Rot-gelb-grünes Sparen. In: Rheinische Post, 24. Juni 2010.
- Besucherinfos / Übernachten. (Memento vom 29. Juni 2011 im Internet Archive). In: moers-festival.de, 2011.
- Michael Passon: Die große Pleite. In: Der Westen, 24. Januar 2012.
- Michael Passon: Aus fürs Moers Festival – Spar-Pläne in Moers sind Liste der Grausamkeit. In: Der Westen, 7. Juni 2012.
- Anja Katzke: Moers. 500 000 Euro mehr für die Festivalhalle. In: Rheinische Post, 27. Juni 2013.
- moers festival 2014 – Ein voller Erfolg!. (PDF) In: moers-festival.de, aufgerufen am 3. Juli 2017, (PDF; 83 kB).
- Pressemitteilung: The EJN Award 2015 goes to Moers Festival in Germany. In: Europe Jazz Network (EJN), 22. April 2015, (englisch).
- Anja Katzke: Musik-Event. Moers Festival steht vor dem Aus. In: Rheinische Post, 25. Februar 2016.
- Jürgen Stock: Stadt übernimmt Garantie für Moers Festival. In: Rheinische Post, 10. März 2016.
- Tom Wittenschläger: Moers-Festival: Künstlerischer Leiter Reiner Michalke geht. In: Der Westen, 25. August 2016.
- Anja Katzke: Tim Isfort will das Moers Festival retten. In: Rheinische Post, 1. Dezember 2016.
- Christiane Peterlein: Das Moers Festival 2017. Neue Leitung – neue Acts. In: SWR2, 6. Juni 2017, Audio-Datei, 8:18 Min.
- Anja Katzke: Neustart: Das Moers Festival ist quicklebendig. In: Rheinische Post, 7. Juni 2017.
- Auch die Sonne ließ sich anstecken: Das 50. Moers-Festival gab alles und weckt Hoffnung. In: Jazzzeitung. 27. Mai 2021, abgerufen am 28. Mai 2021.
- Improviser in Residence. In: moers-festival.de.
- Gabi Gies: John-Dennis Renken ist neuer Moerser Improviser in Residence. In: Neue Ruhr Zeitung, 16. Dezember 2016.
Anja Katzke: John-Dennis Renken: „Selbst in New York ist Moers bekannt“. In: Rheinische Post, 10. Februar 2017, Interview mit Renken. - Moers: Improviser in Residence. Jazz thing
- Mexikaner Emilio Gordoa für ein Jahr in Moers
- über den Improviser. Abgerufen am 29. Januar 2021 (deutsch).
- Michael Rüsenberg: Tomeka Reid: Improviser in Residence 2022. jazzcity.de, 16. Dezember 2021, abgerufen am 21. Dezember 2021.
- Kunststiftung NRW. Abgerufen am 29. Januar 2021.