Lotte in Weimar
Lotte in Weimar ist ein heiterer Roman Thomas Manns über Johann Wolfgang von Goethe: Die um 44 Jahre gealterte und verwitwete Charlotte Kestner, geb. Buff aus Wetzlar, das reale Vorbild für Lotte in Die Leiden des jungen Werthers, reist 1816 nach Weimar, vorgeblich, um ihre Schwester zu besuchen, eigentlich aber in der Hoffnung, Goethe wiederzusehen.
Das Werk entstand laut Thomas Manns Tagebuch zwischen dem 11. November 1936 und dem 25. Oktober 1939.
Das Werk
Mit der Postkutsche, die vor dem Gasthof Zum Elephanten hält, dem ersten Haus am Platze, trifft eines Septembermorgens in aller Frühe Charlotte Kestner mit Tochter und Zofe in Weimar ein. Ihr Ruf, das Urbild der Lotte in Die Leiden des jungen Werthers, dem erfolgreichsten Roman einer Epoche, zu sein, hat sie über die Jahrzehnte begleitet.
Kaum eingetroffen, wird sie in Beschlag genommen. Der enthusiastische und zitatenfeste Kellner Mager stiehlt ihr die Zeit mit seiner Redseligkeit. Anschließend wird sie von einer jungen irischen Zeichnerin behelligt (eine fahrende Stümperin wird Charlotte sie später nennen), die sich auf das Skizzieren von Berühmtheiten verlegt hat. Und dann geben sich jede Menge Besucher die Klinke in die Hand. Sie wollen – oder müssen – sich vor der Besucherin über Goethe aussprechen: Herr Dr. Riemer, der ehemalige Privatlehrer von Goethes Sohn August, ersucht um ein Gespräch. Sodann bittet Adele Schopenhauer, dem Hause Goethes nahestehend, dringend, vorsprechen zu dürfen. Schließlich kommt Goethes Sohn. Ihrer aller Leben – wie auch das Lottes – hat Goethe tief beeinflusst, und das nicht immer nur beglückend.
Formal sehr elegant, wird der 67-jährige Goethe zunächst nur im Goethebild seiner Umgebung gespiegelt. Sehr spät, erst im siebenten Kapitel, lernt ihn der Leser selbst kennen. Goethe ist gerade erwacht. Nach Wahrnehmung des angebrochenen Tags lässt er seinen Gedanken freien Lauf. Die aufgelockerten Assoziationen und Gedankensplitter ergeben eine Art inneren Monolog, der nur unterbrochen wird, wenn Goethe mit seinen Hausangestellten spricht.
Sein Sohn überbringt ihm die Nachricht von Charlottes Ankunft. Goethe reagiert ärgerlich: „Konnt' sie sich's nicht verkneifen, die Alte, und mir's nicht ersparen?“. Er beschließt – die Nachricht von Charlottes Ankunft hat sich mit Windeseile in der ganzen Stadt verbreitet – sie samt Tochter in größerem Kreis einzuladen. In dieser Tafelrunde wird beklemmend spürbar, wie ein Genie auf seiner Umgebung lasten kann. Der Hausherr fühlt sich verpflichtet, seine Gäste mit Anekdoten und improvisiertem Geplauder zu unterhalten. Dabei zitiert Goethe ein chinesisches Sprichwort: „Der große Mann ist ein öffentliches Unglück.“ Die Reaktion auf diese vermeintliche Absurdität ist demonstratives Gelächter.
Unter vier Augen – wie es Charlottes Wunsch gewesen ist – spricht Goethe bei dieser Gelegenheit nicht mit ihr. Und zu einem weiteren Treffen mit Charlotte kommt es während deren mehrwöchigen Aufenthalts[1] nicht, auch nicht, als Goethe ihr kurz vor ihrer Abreise einen Theaterbesuch ermöglicht.[2] Er lässt sie von seinem Diener Carl in seiner Kutsche zur Vorstellung bringen und wieder abholen. Während der Rückfahrt, im dunklen Wageninneren und im Nachsinnen über das Theatererlebnis, ein Stück, das künstlerisch die Grenzen der Menschheit gewiß und nach keiner Seite überschritten hatte, und sich nun fragend, was denn die Grenzen des Menschheit seien, meint sie in einer Art Wachtraum, Goethe sitze neben ihr. Das nun folgende Traumgespräch mit ihm tröstet sie über die kühle Tafelrunde hinweg. Thomas Mann paraphrasiert die Flammen-Metaphorik des Divan-Gedichtes Selige Sehnsucht. Gleichnishaft sieht Goethe im Roman den Dichter als Falter, der in der „tödlich lockenden Flamme“ der Kunst verbrenne, „Leben und Leib“ opfernd „zu geistiger Wandlung“. Lotte, sachlicher, vergleicht ihrer beider Schicksale: „Es ist etwas Fürchterliches um die Verkümmerung, das sage ich Dir! Und wir Geringen müssen sie meiden und uns ihr entgegen stemmen, aus allen Kräften. Wenn auch der Kopf wackelt, vor lauter Anstrengung. […] Bei Dir, da war es was anderes. […] Dein Wirkliches [das Lebenswerk], das sieht nach was aus. Nicht nach Verzicht und Untreue, sondern nach lauter Erfüllung und höchster Treue.“
Mit dem Ausblick auf ein Wiedersehen im Jenseits – „welch freundlicher Augenblick wird es sein, wenn wir dereinst wieder zusammen erwachen“[3] und einem geflüsterten „Friede deinem Alter!“ verklingt die frühvernommene Stimme. Charlotte erwacht und die Kutsche hält, wo der Roman begonnen hat: vor dem Gasthof Zum Elephanten.
Hauptpersonen
Der Kellner Mager
Ihm gilt sowohl der erste als auch der letzte Satz des Romans: „Der Kellner des Gasthofes Zum Elephanten in Weimar, Mager, ein gebildeter Mann, hatte an einem fast noch sommerlichen Tage ziemlich tief im September des Jahres 1816 ein bewegendes, freudig verwirrendes Erlebnis.“
Und am Schluss heißt es: „Frau Hofrätin“, begrüßt er Charlotte, „willkommen wie immer! Möchten Frau Hofrätin in unserem Musentempel einen erhebenden Abend verbracht haben! Darf ich diesen Arm offerieren zur sicheren Stütze? Guter Himmel, Frau Hofrätin, ich muß es sagen: Werthers Lotte aus Goethes Wagen zu helfen, das ist ein Erlebnis – wie soll ich es nennen? Es ist buchenswert.“
Mager ist die nicht unsympathische Karikatur des literarischen Enthusiasten. Vom Autor wird er zwar als ein „gebildeter Mann“ vorgestellt. Doch sein leitmotivisch wiederkehrender sprachlicher Schnitzer „buchenswert“ erinnert an die ungebildete Frau Stöhr in Der Zauberberg. Er steht für die fragwürdige Seite des Ruhms, für „die Seichtheit derer“, die den Ruhm bereiten. Als er im ersten Kapitel endlich die gerade angekommene Hofrätin in ihrem Gasthofzimmer allein lässt und nicht mehr auf sie einredet, muss er auf der Schwelle kehrtmachen, um eine letzte Frage anzubringen, die naive Frage nach der biographischen Authentizität von Werthers Abschiedsworten.
Hofrätin Charlotte Kestner, geb. Buff
Lotte trägt, und schon seit vierundvierzig Jahren, ein quälendes Rätsel mit sich herum, eine unbeglichene, quälende Rechnung. Lotte nennt das Rätsel, die unbeglichene Rechnung beim Namen: Dichter – Genügsamkeit. [...] Genügsamkeit mit Schattenbildern, Genügsamkeit der Poesie, schließlich gar Genügsamkeit des Kusses, aus dem, wie er [Goethe] sagt, keine Kinder werden.
Ein hinzukommender Dritter sei der Jüngling Goethe gewesen, der sich als der liebe Teilnehmer gleichermaßen an sie und ihren braven Verlobten angehängt habe. Er kam von außen und ließ sich nieder auf diesen wohlbereiteten Lebensumständen,[...] war verliebt in unsere Verlobtheit.
Gekränkt, dabei verstärkt mit dem Kopf zitternd, einem Altersleiden, beklagt sich die 63-Jährige: In ein gemachtes Nest habe er das Kuckucksei seines Gefühls gelegt. Sie finde kein anderes Wort dafür als – Schmarutzertum. Um die Liebe zu einer Braut sei es dem Dichterjüngling gegangen, der Braut eines Anderen. Vierundvierzig Jahre ist ihr diese Genügsamkeit ein Rätsel geblieben.
Doktor Riemer
Der Philologe Doktor Riemer war Hauslehrer von Goethes Sohn August. Danach hat ihn Goethe weiter an sich zu binden gewusst, um auf des Doktors lexikalische Gelehrsamkeit jederzeit zurückgreifen zu können. Eigenständigkeit und energische Tatkraft scheinen Doktor Riemer abzugehen. Er ist ein Freund des verlängerten morgendlichen Schlummers und hat erst kürzlich eine Berufung an die Universität Rostock ausgeschlagen.
Goethe ist er in „lebenslanger Hörigkeit“ verfallen. „Ein etwas verdrießlicher, gleichsam maulender Zug lag um seinen Mund“. Sein Verhältnis zu Goethe projiziert er, wohl nicht zu Unrecht, auf die Besucherin. Er hält Charlotte Kestner und sich für „Complizen in der Qual“.
Mit drängendem Mitteilungsbedürfnis spricht er bewundernd über Goethe, – doch dann beginnt er, sich mehr und mehr über die Kälte zu beklagen, die von dem Großen ausgehe.
In gut gesetzten Worten und gehobener Diktion berichtet Doktor Riemer über den nihilistischen Gleichmut Goethes, der so merkwürdig mit dessen persönlicher Anziehungskraft kontrastiere. Sich mehr und mehr in Verwirrung redend, vergleicht schließlich der Goethe-Verfallene – eine Bemerkung von ihm zitierend – das Gedicht mit einem Kuss, den man der Welt gibt, und bricht ab.
„Er war bleich, Schweißtropfen standen auf seiner Stirn, seine Rindsaugen blickten glotzend, und sein offener Mund, dessen sonst bloß maulender Zug dem Ausdruck einer tragischen Maske ähnlicher geworden war, atmete schwer, rasch und hörbar.“
August von Goethe und Ottilie von Pogwisch
Goethes Sohn August, siebenundzwanzigjährig und Kammerrat beim Großherzog, wird von seinem Vater zusätzlich als Sekretär und Gehilfe eingespannt. Über sich selbst entscheiden darf August nicht. Unter anderem hat ihm der Vater die Teilnahme als Freiwilliger an den Scharmützeln im Befreiungskrieg gegen Napoleon verboten, was ihm die Verachtung der Altersgenossen eingetragen hat. Die Trinkgewohnheiten seines Sohns beanstandet Goethe jedoch nicht, auch nicht dessen Umgang mit Frauen von zweifelhaftem Ruf.
Goethes Sohn tritt im sechsten Kapitel auf. Er kommt in Vertretung des Vaters, die Angekommene zu begrüßen und um mündlich eine Einladung zum Mittagessen „im kleinen Kreis“ zu überbringen. Stattfinden soll es allerdings erst in drei Tagen. Die Tischgesellschaft wird aus zwölf Personen bestehen.
Charlotte ist – trotz einiger markanter Unterschiede – gerührt von der Ähnlichkeit zwischen dem Sohn und dem Goethe ihrer Jugendjahre. August hingegen erkennt in den gealterten Zügen Charlottes das junge Mädchen von einst, das wohl einem Typus entsprach, zierlich, blond und blauäugig, der sich in Ottilie von Pogwisch wiederholt. Auf die merkwürdige Entsprechung Bezug nehmend äußert August, Charlotte könnte „Ottiliens Mutter“ oder gar ihre „Schwester“ sein.
Ottilie nun ist die Tochter einer verarmten Hofdame der Großherzogin Luise in Weimar. Goethe, seit einem Jahr verwitwet, möchte, dass das „Persönchen“ (so nennt er Ottilie scherzhaft) seine Schwiegertochter wird. August und sie sollen als Eheleute im Obergeschoss seines Hauses wohnen. Goethe hätte damit die muntere, aparte Ottilie täglich um sich.
Nach einem Gespräch mit Goethe unter vier Augen, über dessen Verlauf sie sich beharrlich ausschweigt, entschließt sich Ottilie, August zu heiraten. Über jene folgenreiche Unterredung mit Goethe gibt sie ihrer Freundin Adele Schopenhauer gegenüber lediglich preis: „Laß dir mit der Nachricht genügen, daß er reizend zu mir war.“
Charlotte durchschaut die Stellvertreter-Rolle, die der verliebte Greis seinem Sohn anweist. Trotzdem – oder vielleicht gerade deshalb – redet sie August zu: „Könnt ihr euch leiden, ihr jungen Leute, so nehmt euch, tut’s ihm zuliebe und seid glücklich in euren Oberstuben.“
Das Goethe-Porträt
Der junge Goethe, so erinnert sich Lotte, das war der tolle Junge, der ihr einen Kuss geraubt hatte. Was für ein merkwürdiger Mensch war er gewesen, barock wohl zuweilen von Wesen, in manchen Stücken gar nicht angenehm, aber so voller Genie und eigentümlich ergreifender Besonderheit. Er hatte Lotte den Hof gemacht damals. Entschieden hatte sie sich aber für ihren braven Hans Christian, der ältere Rechte hatte als der hinzugekommene Dritte. Nicht nur, weil Liebe und Treue stärker gewesen waren als die Versuchung, sondern auch kraft eines tiefgefühlten Schreckens vor dem Geheimnis im Wesen des anderen, dieses Unmensch[en] ohne Zweck und Ruh´. Wie sonderbar nur, daß ein Unmensch so lieb und bieder, ein so kreuzbraver Junge sein konnte […].
Doktor Riemer nennt Goethes Duldsamkeit eine Lässlichkeit, die der Gleichgültigkeit, der Geringschätzung entspringe. Und doch sei auch Menschenliebe dabei, so dass Liebe und Verachtung in dieser Duldsamkeit eine Verbindung eingegangen seien, die an das Göttliche erinnere. In mythologischen Kategorien denkend, spricht der Philologe Goethe das Sigillum der Gottheit zu.
Thomas Mann lässt Doktor Riemer die Apotheose des Dichtergenies immer weiter treiben: Neuschaffen Wort hat lächelnd verwunschenen Sinn in Goethes Dichtung, ins Heiter-Geisterhafte wallt es hinüber. An Goethe zeige sich, dass Poesie die Menschwerdung des Göttlichen sei. Und doch gehe von dessen Wesen eine eigentümliche Kälte, ein vernichtender Gleichmut aus. Diese umfassende Ironie, wie Doktor Riemer diese Haltung nennt, bedeute jene erschreckende Annäherung ans Göttlich-Teuflische, welche wir ´Größe´ nennen.
Die wortgewandte, scharf blickende Adele Schopenhauer, die Charlotte über den Klatsch in der kleinen Residenzstadt informiert, berichtet unter anderem über Goethes Einstellung zu Napoleon. In Erfurt hatte Napoleon Goethe empfangen. Es war seit Erfurt zwischen ihm und dem Cäsar ein Verhältnis von Person zu Person. Dieser hatte ihn sozusagen auf gleichem Fuße behandelt, und der Meister mochte die Sicherheit gewonnen haben, daß er für sein Geistesreich, sein Deutschtum nichts von ihm zu befürchten hatte, daß Napoleons Genius der Feind des seinen nicht war. Goethe erhoffte sich von Napoleon, dass ein geeintes Europa unter seinem Scepter des Friedens genießen könne.
Im neunten und letzten Kapitel fasst Lotte, einem ihrer Söhne schreibend, zusammen: Nur so viel, ich habe eine neue Bekanntschaft von einem alten Manne gemacht, welcher, wenn ich nicht wüsste, dass es Goethe wäre, und auch dennoch, keinen angenehmen Eindruck auf mich gemacht hat in seiner steifen Art.[4] Thomas Mann zitiert damit aus einem historischen Brief (Selbstkommentar Thomas Manns am 18. Juni 1951 an Charlotte Kestner, eine Nachfahrin der Titelheldin).
Autobiographische Bezüge
Thomas Manns Goetheporträt ist in vielen Zügen auch Selbstanalyse. Mann fühlte sich Goethe wesensverwandt. In dem autobiographischen Text Die Entstehung des Doktor Faustus (1949) berichtet er, „die besten Kapitel von Lotte in Weimar [...] unter den, Unerfahrenen nicht zu beschreibenden Qualen einer wohl über ein halbes Jahr sich hinziehenden infektiösen Ischias geschrieben“ zu haben. „Nach Nächten, vor deren Wiederholung mich Gott bewahre, [...] und in irgendeiner schräg angepaßten Sitzmanier an meinem Schreibtisch vollzog ich danach die Unio mystica mit Ihm, ‚dem Stern der schönsten Höhe‘“.[5] Auch daran, dass Mann Goethe Sätze in den Mund legt, die eigenen Gedanken zum Nationalsozialismus entsprachen,[6] zeigt sich seine intensive Identifikation mit der Hauptperson seines Romans.
Doktor Riemer bemerkt Charlotte Kestner gegenüber, man vernehme von Goethe oft Äußerungen, „die den Widerspruch zu sich selber schon in sich enthalten, – ob um der Wahrheit willen[7] oder aus einer Art von Treulosigkeit und – Eulenspiegelei.“ Thomas Mann: „Nun, was vom Gaukler in mir ist – und im Künstlermenschen überhaupt –, habe ich früh denunziert, bin humoristisch darüber zu Gericht gesessen [...].“[8]
Historischer Hintergrund
Charlotte Kestners Aufenthalt in Weimar, 44 Jahre nach dem Erscheinen des Werther, ist historisch verbürgt. „Goethe erwähnt in seinem Tagebuch am 25. September jenes Jahres sehr kurz und trocken: ‚Mittags Ridels und Madame Kestner von Hannover‘. Zu dem Mittagessen waren tatsächlich nur die Verwandten Charlottes, bei denen sie am 22. September eingetroffen war, geladen. Sie wohnte bei diesen und nicht, wie ich es darstellte, im Gasthaus zum Elephanten. Auch fand das Mittagessen nur in diesem engsten Kreise statt und war kein Diner von sechzehn Personen, wie ich es geschildert habe. Begleitet war Charlotte Kestner nicht von ihrer älteren Tochter Charlotte, sondern von einer jüngeren namens Clara. [...] Das Billet, das Charlotte aus dem Elephanten nach ihrer Ankunft an Goethe richtet, ist von mir frei erfunden.“[9]
Im Besitz der Universitätsbibliothek Leipzig befindet sich eine Nachricht von Goethes Hand an Charlotte Kestner: „Mögen [im Roman steht dafür ‚Wenn‘] Sie sich, verehrte Freundin, heute abend meiner Loge bedienen, so holt mein Wagen Sie ab. Es bedarf keiner Billette. Mein Bedienter zeigt den Weg durchs Parterre. Verzeihen Sie, wenn ich mich nicht selbst einfinde, auch mich bisher nicht habe selbst sehen lassen, ob ich gleich oft in Gedanken bei Ihnen gewesen. Herzlich das Beste wünschend – Goethe. W.d.9.Oktober 1816“[10]
Zur Rezeption des Romans
Wie alle Werke Manns in Deutschland bis zum Ende der Naziherrschaft verboten, wurde das Buch 1946 im Zusammenhang mit dem Nürnberger Prozess gegen die Hauptkriegsverbrecher Gegenstand besonderen Interesses, nachdem der Hauptankläger des britischen Königreiches, Sir Hartley Shawcross, am Ende seines Schlussplädoyers am 27. Juli 1946 unwissentlich Passagen aus dem Roman als Goethezitate ausgegeben hatte:
- "Vor vielen Jahren sagte Goethe vom deutschen Volk, daß eines Tages sein Schicksal es ereilen würde:
- Das Schicksal wird sie schlagen, weil sie sich selbst verrieten und nicht sein wollten, was sie sind. Daß sie den Reiz der Wahrheit nicht kennen, ist zu beklagen, dass ihnen Dunst und Rauch und berserkerisches Unmaß so teuer ist, ist widerwärtig. Daß sie sich jedem verrückten Schurken gläubig hingeben, der ihr Niedrigstes aufruft, sie in ihren Lastern bestärkt und sie lehrt, Nationalität als Isolierung und Roheit zu begreifen, ist miserabel.
- Mit welch prophetischer Stimme hat er gesprochen – denn dies hier sind die wahnwitzigen Schurken, die genau diese Dinge ausgeführt haben."[11]
Der Ankläger nannte die Fundstelle des Zitates nicht. Eine Woche später wurde bekannt, dass es dem Goethe-Monolog des 7. Kapitels aus Thomas Manns Roman „Lotte in Weimar“ entnommen war, wo es wie folgt lautet:
- Das Schicksal wird sie schlagen, weil sie sich selbst verrieten und nicht sein wollten, was sie sind. Daß sie den Reiz der Wahrheit nicht kennen, ist zu beklagen, dass ihnen Dunst und Rausch und all berserkerisches Unmaß so teuer ist, ist widerwärtig. Daß sie sich jedem verzückten Schurken gläubig hingeben, der ihr Niedrigstes aufruft, sie in ihren Lastern bestärkt und sie lehrt, Nationalität als Isolierung und Roheit zu begreifen, [...] ist miserabel.
Noch eine weitere Passage aus dem 7. Kapitel hatte Shawcross in seinem Plädoyer wiedergegeben, indem er ganz am Ende der Hoffnung Ausdruck gab, es möchten
- "jene anderen Worte von Goethe zur Tat werden, nicht allein, wie wir hoffen, für das deutsche Volk, sondern für die gesamte Menschheit:
- So sollten es die Deutschen halten... weltempfangend und weltbeschenkend, die Herzen offen jeder fruchtbaren Bewunderung, groß durch Verstand und Liebe, durch Mittlertum und Geist – so sollten sie sein, das ist ihre Bestimmung.[12]
Die Londoner Tageszeitung Times, die am 29. Juli 1946 Auszüge aus Shawcross' Plädoyer abdruckte, wies später in ihrer Literaturbeilage (Times Literary Supplement 12. Oktober 1946) noch einmal auf seinen Irrtum hin. Die Süddeutsche Zeitung widmete sich der Angelegenheit in ihrer Ausgabe vom 30. Juli 1946.
„In Londoner offiziellen Kreisen schuf“, wie Thomas Mann später in der „Entstehung des Doktor Faustus“ schrieb, die Meldung, „daß Shawcross nicht Goethe, sondern meinen Roman zitiert habe, ... gelinde Verlegenheit“. Vom britischen Botschafter in Washington erhielt Thomas Mann am 16. August 1946 in seinem kalifornischen Exil einen Brief mit der Bitte „um Aufklärung. In meiner Antwort gab ich zu, die ‚Times‘ hätten recht, es handele sich um eine von ihren Urhebern gutgemeinte Mystifikation. Doch verbürgte ich mich dafür, daß, wenn Goethe nicht wirklich gesagt habe, was der Ankläger ihm in den Mund gelegt, er es doch sehr wohl hätte sagen können, und in einem höheren Sinn habe Sir Hartley also doch richtig zitiert.“ Mann räumte allerdings ein, „komische Verwirrung (...) angerichtet“ zu haben und dass die Angelegenheit „ein peinliches Vorkommen“ bleibe.[13] Unsicher ist bis heute, ob Erika Mann, die Tochter Thomas Manns, die als Pressebeobachterin dem Prozess beiwohnte, eine Rolle bei der Aufklärung von Shawcross' Irrtum spielte. Über sein Zustandekommen schrieb Thomas Mann in der „Entstehung des Doktor Faustus“ Folgendes:
- Schon während des Krieges hatten einzelne Exemplare des Romans, aus der Schweiz eingeschmuggelt, in Deutschland kursiert, und Hasser des Regimes hatten aus dem großen Monolog des Siebenten Kapitels, worin das Authentische und Belegbare sich ununterscheidbar mit dem Apokryphen, wenn auch sprachlich und geistig durchaus Angepaßten mischt, einzelne dem deutschen Charakter recht nahetretende und Unheil prophezeiende Dikta ausgezogen, sie vervielfältigt und sie unter dem Tarnungstitel „Aus Goethes Gesprächen mit Riemer“ als Flugblatt unter die Leute gebracht. Ein Durchschlag davon oder die Übersetzung des eigenartigen Falsums war dem britischen Ankläger ... vorgelegt worden, und guten Glaubens, verführt durch das Schlagende der Äußerungen, hatte er in seinem Plaidoyer ausgiebige Anführungen daraus gemacht.
In der deutschen Öffentlichkeit wurde die „Anklage Goethes gegen die Deutschen“ mit geteiltem Echo aufgenommen: Einige betrachteten das Zitat als zutreffende Beschreibung der Mentalität während der Nazijahre und letztlich gerechtfertigte Kritik, andere sahen Shawcross' Missgeschick als einen Beleg dafür, dass der Nürnberger Prozess „Siegerjustiz“ und eine „inszenatorische Darbietung“ mit vorher feststehendem Ausgang gewesen sei.
In den 1960er Jahren entzündete sich eine ähnliche Debatte an dem Eingeständnis des monologisierenden Roman-Goethe: „Ich habe nie von einem Verbrechen gehört, das ich nicht hätte begehen können.“ Bei Goethe selbst, in den Maximen und Reflexionen, findet sich indes nur: „Man darf nur alt werden, um milder zu sein; ich sehe keinen Fehler begehen, den ich nicht auch begangen hätte.“ Allerdings auch: „Der Handelnde ist immer gewissenlos; es hat niemand Gewissen als der Betrachtende.“[14] Das Salzburger Volksblatt und die Deutsche National-Zeitung und Soldatenzeitung schrieben 1965 von einem „erbärmliche(n) Betrug“: „Mann fälschte Goethe in antideutschem Sinn“ [27. August 1965]. Louis Glatt nannte Manns Formulierung 1966 ein „unwürdiges Attentat auf die geistige und sittliche Gestalt Goethes“ („Zur Echtheit eines Goethe-Zitats bei Thomas Mann“, in: „Neue Folge des Jahrbuchs der Goethe Gesellschaft“ vom 28. August 1966, S. 310–314).[15]
Verfilmung
Der Roman wurde 1975 von der DEFA als Lotte in Weimar verfilmt. Regie führte Egon Günther, Lilli Palmer übernahm die Rolle der Lotte, während Martin Hellberg Goethe darstellte.[16]
Ausgaben
- Thomas Mann: Lotte in Weimar. Roman. Bermann-Fischer, Stockholm 1939 (Erstausgabe)
- Thomas Mann: Lotte in Weimar. Text und Kommentar. Große Kommentierte Frankfurter Ausgabe in zwei Bänden. Herausgegeben von Werner Frizen. S. Fischer Verlag, Frankfurt am Main 2003, Textband ISBN 3-10-048336-7, Kommentarband ISBN 3-10-048335-9.
Literatur
- Stefan Zweig: Thomas Mann, „Lotte in Weimar“, in: Rezensionen 1902–1939. Begegnungen mit Büchern. 1983 (E-Text)
Einzelnachweise
- Charlottes Weimar-Aufenthalt dauerte von tief im September (1. Kapitel) bis gegen Mitte Oktober 1816 (9. Kapitel)
- Es gibt viele Beweise dafür, dass jenes Gespräch in der Kutsche, entgegen gelegentlich geäußerten anderslautenden Meinungen, nicht als real vorzustellen ist. Zum einen betont Thomas Mann selbst in seinem Brief vom 28. Mai 1951 an Henry Hatfield, dass es sich dort durchaus um ein Geistergespräch, eine Träumerei der aus dem Theater kommenden Lotte handelt, die aus sich selbst heraus genötigt ist, dem Roman etwas wie ein happy end zu geben. Außerdem lässt der Wortlaut des Romans auf den ersten drei Seiten des neunten Kapitels ohnehin keine andere Lesart zu: Charlotte blieb noch bis gegen Mitte Oktober in Weimar [...] Wir wissen nicht allzuviel über den Aufenthalt der berühmten Frau in der ebenfalls so berühmten Stadt; [...] war er auch hauptsächlich dem Zusammensein mit den lieben Verwandten gewidmet, so hören wir doch von mehreren kleineren und selbst ein paar größeren Einladungen, denen sie in diesen Wochen freundlich beiwohnte, und die sich in verschiedenen gesellschaftlichen Cirkeln der Residenz abspielten. [...] Den Freund von Wetzlar sah sie bei keinem dieser Ausgänge wieder. [...] Aber auch der Jugendfreund hat ihr einmal, fast schon zu ihrer Überraschung, in diesen Wochen geschrieben und sie gebeten, sich zum Theaterabend am 9. Oktober seiner Kutsche zu bedienen. Die Erscheinung und Stimme Goethes in der Kutsche entspringen also Lottes Phantasie, auch wenn der Inhalt des Gesprächs (insbesondere das darin zum Ausdruck kommende künstlerische Credo Goethes) nicht ihrer Perspektive, sondern vielmehr der des Autors Thomas Mann entspricht.
- Thomas Mann lässt hier Goethe sich selbst zitieren. Der Schlusssatz des Romans Die Wahlverwandtschaften ist fast identisch: welch ein freundlicher Augenblick wird es sein, wenn sie dereinst wieder zusammen erwachen.
- Steife Art kann sich sowohl auf Goethes Förmlichkeit beziehen, als auch auf seine Art, sich zu bewegen. Goethes Rumpf-Motilität war in dieser Lebensphase eingeschränkt durch eine knöcherne Verwachsung von acht Brustwirbeln [T 5 –12]. Dazu waren rechts fünf Rippen [T 6 -10], die normalerweise mit den zugehörigen Wirbeln durch Gelenke verbunden sind, durch Verknöcherungen dieser Gelenke mit den jeweiligen Wirbelkörpern verfestigt. Vgl. Ullrich, Herbert: Goethes Skelett – Goethes Gestalt. In: Goethe-Jahrbuch 2006, S. 167–187
- S. 11; zu "Stern der schönsten Höhe" vgl. Dorothea Hölscher-Lohmeyer: Johann Wolfgang Goethe S. 112 in der Google-Buchsuche
- und später im Nürnberger Hauptkriegsverbrecherprozess zitiert wurden, siehe unten im Abschnitt Rezeption
- angesichts der Antinomien des Lebens
- am 29. Dezember 1953 an Hans Mayer
- am 18. Juni 1951 an Charlotte Kestner, Ur-ur-Enkelin von Charlotte Kestner, geb. Buff
- Katalog er Ausstellung «450 Jahre Universitätsbibliothek Leipzig 1543–1993, 2. Aufl., S. 78 mit Abb.»
- Der Prozess gegen die Hauptkriegsverbrecher vor dem internationalen Militärgerichtshof. Nürnberg 14. November 1945 – 1. Oktober 1946. Bd. 19, Nürnberg 1948, S. 592. http://www.zeno.org/Geschichte/M/Der+N%C3%BCrnberger+Proze%C3%9F/Hauptverhandlungen/Einhundertachtundachtzigster+Tag.+Samstag,+27.+Juli+1946/Vormittagssitzung
- Der Prozess gegen die Hauptkriegsverbrecher vor dem internationalen Militärgerichtshof. Nürnberg 14. November 1945 – 1. Oktober 1946. Bd. 19, Nürnberg 1948, S. 593. http://www.zeno.org/Geschichte/M/Der+N%C3%BCrnberger+Proze%C3%9F/Hauptverhandlungen/Einhundertachtundachtzigster+Tag.+Samstag,+27.+Juli+1946/Vormittagssitzung
- Brief an Viktor Mann vom 4. Oktober 1946
- http://www.zeno.org/Literatur/M/Goethe,+Johann+Wolfgang/Aphorismen+und+Aufzeichnungen/Maximen+und+Reflexionen/Aus+%C2%BBKunst+und+Altertum%C2%AB/F%C3%BCnften+Bandes+erstes+Heft.+1824
- Lotte in Weimar. Text und Kommentar. Große Kommentierte Frankfurter Ausgabe in zwei Bänden. Kommentar von Werner Frizen. S. Fischer Verlag, Frankfurt 2003, ISBN 3-10-048335-9, S. 171
- Lotte in Weimar auf progress-film.de (Memento vom 2. Oktober 2012 im Internet Archive)
Weblinks
- Goethe steigt vom Sockel Zur kommentieren Neuausgabe von Lotte in Weimar – Interview mit dem Herausgeber Werner Frizen