Charlotte Buff
Charlotte Sophie Henriette Buff (* 11. Januar 1753 in Wetzlar; † 16. Januar 1828 in Hannover) war das Vorbild der Lotte in Johann Wolfgang von Goethes Die Leiden des jungen Werthers.
Leben
Charlotte war das zweite von sechzehn Kindern des Wetzlarer Kastnereiverwalters (1740) und Deutsch-Ordens-Amtmanns (1755) Heinrich Adam Buff (1711–1795) und der Magdalena Ernestina Feyler (1731–1771). Ihr Neffe, Sohn ihres Bruders Wilhelm Karl Ludwig Buff, war der Chemiker Heinrich Buff.[1]
Charlotte wurde 1768 verlobt, heiratete aber erst am 4. April 1773 den kurhannoverschen Legationssekretär Johann Christian Kestner. Die Familie Kestner gehörte im 18. und 19. Jahrhundert zu den sogenannten Hübschen Familien, die an der Spitze des Bürgertums im Kurfürstentum Hannover standen.[2] Seit dem frühen Tod der Mutter 1771 führte Charlotte den väterlichen Haushalt und versorgte ihre zehn jüngeren Geschwister.
Goethe lernte „Lotte“ auf einem Tanzfest kennen: Am 9. Juni 1772 veranstaltete Goethes Wetzlarer Großtante Lange einen Ball im Jägerhaus (heute Goethehaus) in Volpertshausen, einem Dorf bei Wetzlar, vermutlich wegen des Geburtstages von Karoline Buff, der älteren Schwester von Charlotte, und der bevorstehenden Verlobung Karolines mit dem Sohn von Frau Lange, Dr. jur. Christian Dietz. Zu diesem Ball sollte Goethe Charlotte Buff abholen. Er umwarb zu der Zeit eigentlich die 17-jährige Johannette Lange. Doch sobald Goethe Charlotte kennengelernt hatte, war Johannette vergessen. Lotte bezauberte ihn sowohl durch ihre äußerliche Erscheinung als auch durch ihre offene Art. Wie im Werther beschrieben, tanzte er den ganzen Abend mit ihr, und es imponierte ihm sehr, wie Lotte die Festgesellschaft während des Gewitters mit einem Spiel ablenkte.
Nicht, wie im Werther geschildert, am Tag des Balls, sondern erst am Tag darauf fand die „reizende Szene“ im Hause Buff in Wetzlar statt, die Goethe so begeisterte. Als dieser wieder auf den Deutschordenshof kam, war Lotte gerade dabei, ihren Geschwistern das Brot zu schneiden. Diesen Anblick verewigte der Wetzlarer Maler Ferdinand Raab in einem Gemälde, angefertigt um 1865,[3][4] nach einem Kupferstich von Wilhelm von Kaulbach, das im Lottehaus in Wetzlar zu sehen ist. Goethe schildert das Erlebnis im Werther mit den Worten:
„Welch eine Wonne das für meine Seele ist, sie in dem Kreise der lieben, muntern Kinder, ihrer acht Geschwister, zu sehen!“
Auch mit den Geschwistern Lottes verstand Goethe sich bald sehr gut. Selbst zu Kestner, dem Verlobten Charlottes, hatte er nach dessen Rückkehr ein sehr gutes Verhältnis, er behauptet im Werther sogar, dass er Albert nach Lotte das Liebste auf der Welt gewesen sei. Dennoch belastete Goethe die Aussichtslosigkeit einer Beziehung zu Lotte so sehr, dass er Wetzlar wieder verließ. Unfähig, Zuneigung und Eifersucht zu zügeln, verließ Goethe nach einem brieflichen Abschied von beiden die Stadt und verarbeitete die Trennung literarisch im 1774 erschienenen Briefroman Die Leiden des jungen Werthers.
Charlotte heiratete Kestner 1773 und lebte mit ihm in Hannover in der Aegidienneustadt. Sie wurde Mutter von acht Söhnen und vier Töchtern und leitete das große Hauswesen in der Aegidienstraße,[5] später in der Großen Wallstraße (heute Georgswall). Auch nachdem ihr Mann im Jahr 1800 gestorben war, blieb sie Bezugspunkt der weit verstreuten Familie und nahm aktiv an deren Fortkommen und Wohlergehen Anteil.
Mit Goethe hatte sie weiter brieflichen Kontakt und veranlasste, dass er ihren Söhnen (u. a. August Kestner) behilflich war. Im September 1816 reiste sie für einige Wochen nach Weimar, wo ihre jüngste Schwester verheiratet war, und begegnete auch Goethe. Das Wiedersehen blieb jedoch einmalig und förmlich. Thomas Mann hat es in seinem 1939 erschienenen Roman Lotte in Weimar literarisch gestaltet.
Charlotte Kestners Grab befindet sich auf dem Gartenfriedhof in Hannover. Das klassizistische Grabdenkmal stammt vom Ehemann ihrer Enkelin, dem hannoverschen Architekten Georg Ludwig Friedrich Laves.
Direkte Nachfahren von Charlotte Kestner leben heute in Deutschland, der Schweiz und Frankreich. Nach den neuesten Forschungen gibt es bis heute über 1200 Nachfahren von Charlotte und ihren Geschwistern.
Kinder
- Georg Heinrich Friedrich Wilhelm Kestner (1774–1867), Archivar, Bankier, Kunst- und Autographensammler, verheiratet mit Henriette Partz
- Wilhelm Georg Konrad Arnold Kestner (1775–1848), Amtmann in Hagen, verheiratet mit Luise Iffland
- Philipp Karl Kestner (1776–1846), Fabrikbesitzer in Thann, Elsaß
- Georg August Christian Kestner (1777–1853), Diplomat und Kunstsammler
- Theodor Friedrich Arnold Kestner (1779–1847), Mediziner, Stadtphysikus in Frankfurt am Main, verheiratet mit Marie Lippert
- Charlotte Kestner (*† 1783)
- Eduard Kestner (1784–1823), Fabrikbesitzer in Thann, Elsaß
- Hans Ernst Hermann Septinus Kestner (-Lippert) (1786–1871), kgl. hannoverscher Geheimer Kammerrat
- Charlotte Kestner (1788–1877), lebte ledig in Basel
- Louise Amalie Henriette Antoinette Kestner (1791–1804)
- Clara Sophie Kestner (1793–1866), Konventualin im Fräuleinstift Marienwerder
- Friedrich Kestner (1795–1872), Kaufmann in Le Havre, kgl. hannoverscher Generalkonsul, verheiratet mit Mathilde Doormann
Großneffe
- Hans Buff-Gießen (1862–1907), Opernsänger (Tenor)[6]
Rezeption
Romane
- Thomas Mann: Lotte in Weimar, 1939
Filme
- 1974: Lotte in Weimar, nach dem Roman von Thomas Mann. Die Titelrolle spielte Lilli Palmer, Martin Hellberg spielte den Goethe.
- 2010: Goethe!, Lotte wird dargestellt von Miriam Stein
Gedächtnisfeiern
- 1928 und 2003 organisierte die Goethe-Gesellschaft Hannover Gedächtnisfeiern für Charlotte Kestner.[7]
Literatur
- Deutsche Biographische Enzyklopädie. Band 2, S. 217.
- Rüdiger R. E. Fock: Die Kestner. Eine deutsch-französisch-schweizerische Familie macht Geschichte(n). Schnell Buch und Druck, Warendorf 2009, ISBN 978-3-87716-706-9.
- Heinrich Gloël: Goethes Wetzlarer Zeit. Bilder aus der Reichskammergerichts- und Wertherstadt. Berlin 1911 (Nachdruck: Magistrat der Stadt, Wetzlar 1999).
- Thomas Mann: Lotte in Weimar. Roman. Bermann-Fischer, Stockholm 1939 (zahlreiche spätere Ausgaben, u. a. Taschenbuchausgabe: Fischer, Frankfurt am Main 1999, ISBN 3-596-29432-0).
- Jakob Minor: Kestner, Charlotte, geb. Buff. In: Allgemeine Deutsche Biographie (ADB). Band 15, Duncker & Humblot, Leipzig 1882, S. 662 f.
- Ruth Rahmeyer: Werthers Lotte: ein Brief – ein Leben – eine Familie. Die Biographie der Charlotte Kestner. Fackelträger, Hannover 1994, ISBN 3-7716-1575-5.
- Ruth Rameyer: Charlotte Buff-Kestner. In: Sophie & Co. Bedeutende Frauen Hannovers. Biographische Portraits. Hrsg. von Hiltrud Schroeder, Hannover 1991.
- Oskar Ulrich: Charlotte Kestner. Ein Lebensbild. Velhagen & Klasing, Bielefeld/Leipzig 1921.
- Nachdruck der Ausgabe von 1921 mit neuen Abbildungen und einem Nachwort von Hartmut Schmidt, Goslar: Verlag August Thuhoff, 1987, ISBN 978-3-923867-07-3 und ISBN 3-923867-07-7 Inhaltsverzeichnis.
- Wolfdietrich Rasch: Buff, Charlotte (Lotte) Sophie Henriette, verehelichte Kestner. In: Neue Deutsche Biographie (NDB). Band 3, Duncker & Humblot, Berlin 1957, ISBN 3-428-00184-2, S. 8 (Digitalisat).
- Siegfried Rösch: Ahnenliste für Charlotten Kestner, geb. Buff. Zu ihrem 200. Geburtstag am 11. Januar 1953. Selbstverlag, Wetzlar 1954.
- Astrid Seele: Frauen um Goethe. Rowohlt, Reinbek 2000, ISBN 3-499-50636-X.
- Ulrike Weiß u. a. (Redaktion): Goethes Lotte. Ein Frauenleben um 1800. Essays zur Ausstellung [in Wetzlar, Weimar und Hannover 2003]. (= Schriften des Historischen Museums Hannover; Bd. 21). Historisches Museum, Hannover 2003, ISBN 3-422-06443-5
- Gero von Wilpert: Goethe-Lexikon (= Kröners Taschenausgabe. Band 407). Kröner, Stuttgart 1998, ISBN 3-520-40701-9, S. 151 f.
- Hugo Thielen: Kestner, Charlotte Sophia Henriette. In: Dirk Böttcher, Klaus Mlynek, Waldemar R. Röhrbein, Hugo Thielen: Hannoversches Biographisches Lexikon. Von den Anfängen bis in die Gegenwart. Schlütersche, Hannover 2002, ISBN 3-87706-706-9, S. 196.
- Hugo Thielen: Kestner, (1) Charlotte Sophia Henriette. In: Klaus Mlynek, Waldemar R. Röhrbein (Hrsg.) u. a.: Stadtlexikon Hannover. Von den Anfängen bis in die Gegenwart. Schlütersche, Hannover 2009, ISBN 978-3-89993-662-9, S. 344.
- Gerhard Kölsch: Johann Heinrich Schröder. Porträt der Charlotte Kestner geb. Buff, in: Jahrbuch des Freien Deutschen Hochstifts 2010, S. 472–476.
- Hans Bühler: Charlotte Kestner und ihr Grabmal auf dem Kannenfeld-Gottesacker. In: Basler Jahrbuch 1955, S. 130-135.
Weblinks
- Literatur von und über Charlotte Buff im Katalog der Deutschen Nationalbibliothek
- Charlotte Buff. In: FemBio. Frauen-Biographieforschung (mit Literaturangaben und Zitaten).
- Nur ein einziger Kuss - Sie war Werthers Lotte, sie war Goethes Idol. In: Die Zeit, 3/2003
- Familienverband Buff-Kestner
- Lotte-Haus (Museum in Wetzlar)
- Kestner, Charlotte. Hessische Biografie. (Stand: 11. Januar 2021). In: Landesgeschichtliches Informationssystem Hessen (LAGIS).
Einzelnachweise
- Wolfdietrich Rasch: Buff, Charlotte (Lotte) Sophie Henriette, verehelichte Kestner. In: Neue Deutsche Biographie (NDB). Band 3, Duncker & Humblot, Berlin 1957, ISBN 3-428-00184-2, S. 8 (Digitalisat).
- Klaus Mlynek: Hübsche Familien. In: Stadtlexikon Hannover. S. 310.
- Information Lottehaus Wetzlar
- Lottehaus Gemälde von Ferdinand Raab (abgerufen 15. Februar 2014)
- Die Aegidienstraße verschwand nach dem Zweiten Weltkrieg, verlief in der Verlängerung der heutigen Heinrich-Kümmel-Straße Richtung Aegi.
- Karl-Josef Kutsch, Leo Riemens: Großes Sängerlexikon. Unveränderte Auflage. K. G. Saur, Bern 1993, Erster Band A–L, Sp. 400, ISBN 3-907820-70-3.
- Klaus Mlynek: Goethe-Gesellschaft. In: Stadtlexikon Hannover, S. 224
- Lotte. Lotte Japan, abgerufen am 15. Juli 2012 (englisch).