Lateinamerikanische Stadt
Lateinamerikanische Städte weisen oft typische gemeinsame Merkmale auf, die aus ihrer sozio-historischen Vergangenheit erklärbar sind.
Typisierte Entwicklungsphasen
Vorkoloniale Zeit
Vor der Kolonialzeit bevölkerten Hochkulturen wie die Azteken, Maya, Olmeken, Zapoteken und Inka das heutige Lateinamerika. Ein Großteil ihrer Städte war an der West- und Ostküste angesiedelt. Im Zentrum dieser Städte befanden sich um Hauptplätze und Hauptwegeachsen Tempelanlagen, Pyramiden, Paläste, Zeremonialzentren, Observatorien, Ballspielstätten und Anderes; darum befanden sich, zumeist recht ungeordnet, die Wohnstätten.
Beispiele für solche Städte sind Tenochtitlán (Azteken, Mexiko), Chichén Itzá (Maya, Mexiko), Copán (Maya, Honduras), Palenque (Maya, Mexiko) und Monte Albán bei Oaxaca (Zapoteken, Mexiko). Einige Städte, vorwiegend in den Bergen, waren in einem Terrassen-, Treppen und Wegesystem angeordnet, beispielsweise Machu Picchu (Inka, Peru) und die Inka-Terrassen bei Písac (Peru).
1550–1840
Die spanischen Siedler ließen sich meist im kontinentalen Zentrum der Länder nieder und gründeten neue Städte, wodurch deren Anzahl deutlich stieg. Die Machtzentren der bisherigen Kulturen wurden entweder zerstört oder überbaut. Das Zentrum der Stadt war, wie auch in Spanien, der Hauptplatz, die Plaza Mayor, mit Kathedrale, Rathaus und Regierungssitz, umgeben von Wohnvierteln als Schachbrettmuster in quadratischen Blocks (sogenannte manzanas oder cuadras) von 120 m × 120 m.
1840–1900
Noch vor 1900 begann die erste Verstädterungsphase mit Binnenwanderung und Einwanderung, zum Teil auch aus anderen Kontinenten. Dabei wuchsen die Städte zellenförmig.
1900–1950
Die Zweite Verstädterungsphase setzte mit der beginnenden Modernisierung ein. Die Industrialisierung wurde unter anderem durch den zunehmenden Auf- und Ausbau der Eisenbahninfrastruktur vorangetrieben. Die Oberschicht siedelte sich daraufhin nach und nach in den Randgebieten der Stadt (Stadtperipherie) an (Suburbanisierung). In der Peripherie bilden sich Arbeitervororte. (Sektorenbildung) Es bildeten sich langsam von Gewerbe und Konsum geprägte Innenstädte. Starke physiognomische Verstädterung setzte ein. Es wurden verstärkt Vecindades (Wohnbauten mit gemeinsamen Küchen und/oder Bädern) gebaut. In vielen Fällen wuchsen die Städte ungleichförmig, z. B. entlang der Eisenbahnschienen (asymmetrische Baulinie).
Seit 1950
Die Zeit seit 1950 wurde hauptsächlich von Metropolisierung und Wirtschaftsaufschwung geprägt. Der Einzelhandel hoher Qualität verlagerte sich in die Stadtzentren. Parallel dazu entwickelte sich eine starke Kultur des Straßenhandels für Waren von geringerem Wert und Qualität. Oft entstanden moderne Kernstädte mit Büros und Banken. Aufgrund der starken Zuwanderung von hauptsächlich verarmten Landbewohnern setzte eine starke Slum-Bildung ein, die zum Teil auch die verlassenen Patio-Häuser aus der Kolonialzeit erfasste. Mit steigender Autoverkehrskonzentration durch den Umzug der Oberschicht in die Stadtperipherie und das allgemeine Wachstum wurde die Luftverschmutzung zunehmend problematisch.
Typische bauliche Merkmale
Spanisches Stadtmodell
Die spanischen Siedler ließen sich meist im kontinentalen Zentrum der Länder nieder. Die Hauptstraßen sind daher auf zentral gelegene Städte ausgerichtet. Seit der Generalinstruktion (1521) wurden alle neuen baulichen Erweiterungen nach dem Schachbrettmuster angelegt. Das Zentrum der Stadt war der Hauptplatz, die Plaza de Armas, mit Kathedrale, Rathaus und Regierungssitz. Sie war umgeben von Wohnvierteln, die in quadratischen Blocks (sogenannte manzanas) von 120 m × 120 m angelegt waren. Um diese Wohnviertel herum befand sich der Ejido Urbano, ein quadratisches Stück Land, das in größere Parzellen (meist 8 × 8 manzanas) eingeteilt waren, auf denen Agrarwirtschaft betrieben wurde.
Ab dem 19. Jahrhundert begann sich die Stadtform langsam aufzulockern. Das Schachbrettmuster aus der Kolonialzeit blieb jedoch als Merkmal der allermeisten Städte Hispanoamerikas erhalten. Die ursprünglichen Wohnhäuser (Patiohäuser mit Innenhof) wurden durch größere Wohnblocks ersetzt bis hin zum Hochhaus-Boom des 20. Jahrhunderts.
Portugiesisches Stadtmodell
Im portugiesischsprachigen Raum wurden die Städte meist an der Küste gegründet, nahe natürlicher Häfen wie Buchten, um den Handel zu begünstigen. Es gab keine geometrischen Anordnungen wie etwa das Schachbrettmuster, sondern die Bebauung richtet sich nur auf die Beschaffenheit der Umgebung (Berge, Küste, Exposition).
Heutige Situation
Das Wachstum der Städte Lateinamerikas vollzieht sich heute meistens an den Haupt-Ausfallstraßen. Dort werden Industriegebiete und etwas abseits Wohngebiete ausgewiesen, manchmal bilden sie sich auch spontan, je nach Einfluss der Stadt in den Urbanisierungsprozess. Besonders wenn eine große Industrieanlage die Wirtschaft der Stadt dominiert, werden auch eigene Viertel für die Arbeiter dieser Industrie nahe der Produktionsstätte angelegt.
Rund um die offiziell ausgewiesenen Wohngebiete legen sich oft Ringe von informellen Siedlungen, bewohnt meist von Binnenwanderern. Diese verbessern häufig nach und nach – entweder spontan oder nach staatlichen oder von Nichtregierungsorganisationen organisierten Infrastrukturprogrammen – ihre Bausubstanz und Infrastruktur, ihre Grundbesitzverhältnisse werden legalisiert und sie werden so zu normalen Stadtvierteln. Eine begleitende Tendenz ist die Auslagerung der informellen Siedlungen in Sozialwohnungsviertel am Stadtrand.
Die Viertel der Ober- und Mittelschicht liegen häufig in zwei klar unterscheidbaren Gebieten der Stadt: einmal nahe dem Zentrum, oft in sanierten Stadtteilen der Altstadt, und andererseits ebenfalls an der Peripherie in Villenvierteln mit großen Grundstücken. Die zweite Tendenz wird seit den 1980er Jahren immer stärker, häufig werden große geschlossene Wohnanlagen angelegt, die das Stadtgebiet weit in die Peripherie ausdehnen.
Soziale Merkmale
Häufig anzutreffen in lateinamerikanischen Großstädten ist eine extreme Ungleichheit der Wohnverhältnisse. Während die Villenviertel der Reichen selbst im europäischen Vergleich komfortabel wirken, wohnt ein manchmal hoher Anteil der Bevölkerung in informellen Siedlungen mit nur rudimentärer Infrastruktur. Das Phänomen der informellen Siedlungen ist in den meisten Ländern Lateinamerikas allerdings seit den späten 1990er Jahren auf dem Rückzug; Grund ist meist nicht nur die etwas bessere wirtschaftliche Situation, sondern vor allem ein Abflauen der Binnenwanderungsbewegungen, die diese Siedlungen in der Vergangenheit verursacht hatten.
Ein häufiges Phänomen lateinamerikanischer Städte ist, dass man die Peripherie in sozio-ökonomisch unterschiedliche Zonen einteilen kann, deren Zuordnung insbesondere den landschaftlich-klimatischen Bedingungen der jeweiligen Gebiete entspricht, die sie mehr oder weniger attraktiv machen.
Beispiele:
- In Buenos Aires, in dem der Río de la Plata von Nordwest nach Südost fließt, lebt die Oberschicht tendenziell im Nordwesten der Stadt. Die größten Viertel der Unterschicht befinden sich südöstlich des Zentrums, wo der Fluss bereits von Industrieabwässern verschmutzt ist.
- Im über 3.500 m hoch in einem Talkessel gelegenen und daher vom Klima her kalten La Paz wohnt die Oberschicht in den klimatisch begünstigten tiefer gelegenen Gebieten, während die Unterschicht an den Berghängen oder auf der umgebenden Hochebene in der Nachbarstadt El Alto wohnt.
- Umgekehrt ist die Situation im ebenfalls in einem Talkessel gelegenen Córdoba (Argentinien), das ein warmgemäßigtes Klima mit vielen Hitzetagen aufweist: Dort wohnt die Oberschicht hauptsächlich in höher gelegenen, damit kühleren und auch landschaftlich attraktiveren Vororten nordwestlich des Stadtzentrums, während die Unterschicht an der Peripherie im Talkessel selbst wohnt.
Wirtschaftliche Merkmale
Die Industrie ist in den Städten Lateinamerikas unterschiedlich stark ausgeprägt. Insbesondere in den Andenländern wie etwa Peru oder Bolivien und Teilen Mittelamerikas (Guatemala, Honduras) ist sie nur wenig entwickelt, während in Staaten wie Brasilien und Argentinien große Industriegebiete die Städte prägen. Die Industriegebiete sind allgemein an den Hauptausfallstraßen der Städte angesiedelt und oft wegen des Fehlens einer einheitlichen Raumplanung mit Wohngebieten gemischt.
Probleme lateinamerikanischer Großstädte
Stadtökologische Probleme
Die ökologischen Probleme lateinamerikanischer Städte resultieren oft aus dem durchgängigen, starken Bevölkerungswachstum der Städte in der Zeit zwischen 1880 und 1980, das vor allem auf Binnenwanderungsbewegungen zurückgeht. Obwohl dieses Wachstum heute fast überall deutlich gebremst ist, bleiben große Infrastrukturprobleme bestehen, die besonders in den ärmeren Ländern nur langsam angegangen werden können.
So haben einige lateinamerikanische Städte im internationalen Vergleich sehr hohe Luftschadstoffkonzentrationen, da lange auf die Anlegung von Grünanlagen verzichtet wurde und die Industriebetriebe keinerlei Normen zum Umweltschutz (Filterung der Abgase) einhielt. Viele Städte verfügen über keine oder nur unzureichende Kläreinrichtungen, was Auswirkungen auf die Qualität des Trinkwassers hat. Ein weiteres Problem ist die unzureichende Müllentsorgung: Entweder wird der Müll verbrannt – meist in offenen Feuern ohne jegliche Schadstofffilterung – oder er wird auf teilweise großen Deponien entsorgt, die ohne sorgfältige Studien (z. B. über die Beeinträchtigung des Grundwassers) angelegt werden.
Elendsviertel
In den Elendsvierteln (in Brasilien auch „Favelas“ genannt, in Mexiko „Ciudades perdidas“ und in Peru „Barriadas“) leben die Menschen auf engstem Raum zusammen. Die hygienischen Bedingungen sind oft sehr schlecht, es gibt z. B. kaum Kloakensysteme. Deshalb sind die Möglichkeiten für die Ausbreitung von Krankheiten sehr hoch. Die Kriminalität (Mord, Raub, Vergewaltigungen) ist in großen Elendsvierteln ebenfalls oft höher als in anderen Vierteln; vielfach sind Drogen- und Waffenhandel auf diese Gebiete konzentriert.