Kunstfreiheit
Die Kunstfreiheit ist ein Grundrecht, das dem Schutz künstlerischer Ausdrucksformen dient. In Deutschland ist es in Art. 5 Absatz 3 des Grundgesetzes (GG) verankert. Dort zählt es zu den am stärksten geschützten Grundrechten des deutschen Grundrechte-Katalogs. Das Bundesverfassungsgericht zählt die Kunstfreiheit zu den Kommunikationsgrundrechten und erachtet es daher als wesentlich für die demokratische Grundordnung.
Rechtslage
Die Kunstfreiheit wird durch Art. 5 Absatz 3 GG gewährleistet. Der Wortlaut des Grundrechts lautet seit Inkrafttreten des Grundgesetzes wie folgt:
(3) Kunst und Wissenschaft, Forschung und Lehre sind frei. Die Freiheit der Lehre entbindet nicht von der Treue zur Verfassung.
Entstehungsgeschichte
Bereits im späten Kaiserreich wurde um die Kunstfreiheit diskutiert. In der Eröffnungsrede zur Großen Berliner Kunstausstellung 1912 wies Max Schlichting auf die staatliche Rolle hin: „Im Gegensatz zu Privataussstellungen hat eine vom Staat unterstützte Ausstellung die Verpflichtung, alle künstlerische Bestrebungen gleichmäßig zu fördern, und jedem steht ihre Hilfe offen, der sie für seine Person anrufen will.“[1]
Zeit des Nationalsozialismus
Insbesondere in der Zeit des Nationalsozialismus wurde die Kunstfreiheit stark eingeschränkt, zum Beispiel durch die Bücherverbrennung 1933, verschiedenste Verbote für Künstler (Auftrittsverbot, Ausstellungsverbot usw.) oder Herabwürdigung der Künstler und/oder ihrer Werke, zum Beispiel durch NS-Propaganda, nationalsozialistische Amtsträger, NS-Zeitungen oder gleichgeschaltete Zeitungen oder durch die Ausstellungen „Entartete Kunst“.
DDR
Die Verfassung der Deutschen Demokratischen Republik von 1949 schützte in Art. 34 formal die Kunstfreiheit: „Die Kunst, die Wissenschaft und ihre Lehre sind frei.“[2] Diese Kunstfreiheit stand jedoch nur auf dem Papier. In der Praxis war die Kunst den Vorgaben der Staatspartei SED unterworfen. Neben einem Verbot von Kunstformen, die Kritik an der herrschenden Ordnung ausdrückten, schränkte vor allem die Vorgabe, dass Kunst dem sozialistischen Realismus entsprechen müsse, die Kunstfreiheit massiv ein (siehe hierzu Formalismusstreit).
In der Verfassung von 1968 wurde konsequenterweise die Kunstfreiheit nicht mehr aufgenommen. Art. 18 erwähnt die Kultur nur noch als „sozialistische Kultur“ bzw. „sozialistische Nationalkultur“ und macht so deutlich, dass nur Kunst im Dienste des Sozialismus einen Schutz durch die Verfassung und eine Förderung durch den Staat genoss. Laut Verfassung galt: „Das künstlerische Schaffen beruht auf einer engen Verbindung der Kulturschaffenden mit dem Leben des Volkes“. Welche Kunst diesem Anspruch entsprach, war Entscheidung der Regierung.[3] Eine freie Kulturausübung konnte als zu bekämpfende „imperialistische Unkultur“ definiert werden.
Schutzbereich
Persönlich
Die Norm macht keine Angaben zum Kreis der Grundrechtsträger. Daher können sich alle natürlichen Personen auf das Grundrecht berufen. Einschlägige Grundrechtsträger sind in erster Linie Künstler.[4] In Betracht kommen aber auch solche Personen, die die Kunst einem Publikum zugänglich machen, etwa Verleger[5], Filmproduzenten[6], Schallplattenhersteller[7] oder Geschäftsführer eines Buchverlags.[8] Juristische Personen können ebenfalls Träger des Grundrechts sein. Darunter fallen auch einige staatliche Einrichtungen, etwa Hochschulen für Kunst oder Musik.[4]
Sachlich
Das Grundrecht schützt die Freiheit der Kunst. Dies bereitet insofern Schwierigkeiten, als der Begriff der Kunst definiert werden muss, damit er der juristischen Arbeitsweise zugänglich ist. Eine Definition steht jedoch im Konflikt zum Wesen der Kunst, das sich durch eine stetige Weiterentwicklung auszeichnet.[9][10] Außerdem soll ein staatliches Kunstrichtertum, wie es zur Zeit des Nationalsozialismus bestand, ausgeschlossen sein.[10]
Das Bundesverfassungsgericht sah im Mephisto-Urteil von 1971 als kennzeichnendes Merkmal der Kunst, dass durch freie schöpferische Gestaltung bestimmte Eindrücke, Erfahrungen, und Erlebnisse des Künstlers zum Ausdruck gebracht werden.[11] Diese Definition wird als materieller Kunstbegriff bezeichnet.[10] In späteren Entscheidungen betrachtete das Gericht diese Formel als nicht ausreichend und entwickelte den formalen Kunstbegriff. Dieser bestimmt Kunstwerke nach ihrem Werktyp. Kunst nach dem formalen Kunstbegriff liegt vor, wenn ein Werk einer kunsttypischen Gattung zugerechnet werden kann, beispielsweise Wort, Text oder darstellendem Spiel.[12][10] Abschließend handelt es sich bei einem Werk nach dem offenen Kunstbegriff um Kunst, wenn es von Betrachtern fortwährend auf verschiedene Weise interpretiert werden kann und sich immer neuen Deutungsmöglichkeiten erschließt.[13]
Der Schutzbereich der Kunstfreiheit umfasst zwei Felder, den Werk- und den Wirkbereich.[14][15][4] Ersterer umfasst die künstlerische Arbeit, also das Herstellen eines Kunstwerks.[14] In den letzteren Bereich fällt jedes Verhalten, das dazu dient, den Inhalt eines Kunstwerks einem Publikum zugänglich zu machen, da Kunst als Kommunikationsgrundrecht auf die Öffentlichkeit bezogen und daher auf Wahrnehmung in der Öffentlichkeit angewiesen ist.[16][17] Nicht geschützt wird dagegen das Erzielen von Einnahmen mithilfe eines Kunstwerks. Eine Ausnahme ergibt sich, wenn der finanzielle Aspekt für die Ausübung des Grundrechts der Kunstfreiheit maßgeblich ist.[18][4] Unter dem Schutz der Kunstfreiheit steht aber die Werbung für ein Kunstwerk.[19] Nach einer Entscheidung des Bundesverfassungsgerichts muss die Werbung nicht selbst künstlerischen Ansprüchen genügen, die Kunstfreiheit kann hier unabhängig von der Gestaltung wahrgenommen werden.[15]
Die Reichweite der Kunstfreiheit erstreckt sich von vornherein nicht auf die eigenmächtige Inanspruchnahme oder Beeinträchtigung fremden Eigentums zum Zwecke der künstlerischen Entfaltung.[20][21][22]
Objektivrechtliche Dimension
Neben der Funktion als subjektives Abwehrrecht enthält die Kunstfreiheit auch eine objektive Wertentscheidung des Gesetzgebers, die den Staat zur Förderung der Kunst verpflichtet.[23][24] Hierbei besitzt er aber einen weiten Entscheidungs- und Gestaltungsspielraum.[25]
Eingriffe
Die Kunstfreiheit enthält das Verbot, auf Methoden, Inhalte und Tendenzen der künstlerischen Tätigkeiten einzuwirken, insbesondere den künstlerischen Gestaltungsraum einzuengen oder allgemeinverbindliche Regelungen für diesen Schaffungsprozess vorzuschreiben. Ebenfalls Eingriffscharakter besitzen Behinderungen im Wirkbereich der Kunstfreiheit.[25] Keinen Eingriffscharakter besitzt das Fördern einzelner Kunstrichtungen, dabei kann jedoch bei einer merklichen Ungleichbehandlung unter den Künstlern ein Verstoß gegen das allgemeine Gleichheitsgrundrecht aus Art. 3 Absatz 1 GG vorliegen.[25]
Verfassungsrechtliche Rechtfertigung eines Eingriffs
Eingriffe in die Kunstfreiheit bedürfen der verfassungsrechtlichen Rechtfertigung. Damit ein Eingriff rechtmäßig ist, muss er bestimmten Anforderungen genügen.
Zunächst muss das Grundrecht einschränkbar sein, damit in seinen Gehalt eingegriffen werden darf. Ein Kennzeichen der Kunstfreiheit ist, dass sie verfassungsrechtlich vorbehaltlos gewährleistet ist. Im Gegensatz zu einigen anderen Grundrechten sieht das Grundgesetz für sie keinen ausdrücklichen Gesetzesvorbehalt vor. Eine Anwendung des qualifizierten Gesetzesvorbehalts des Art. 5 Absatz 2 GG, wie sie vereinzelt vorgeschlagen wurde, kommt nicht in Betracht. Ebenso wenig anwendbar sind die Schranken des Art. 2 Absatz 1 GG.[26][27][28] Jedoch bejaht das Bundesverfassungsgericht die Möglichkeit, auch die Kunstfreiheit einzuschränken. Es sieht das Grundrecht als beschränkbar durch kollidierendes Verfassungsrecht.[29][30][31] Diese Einschränkung muss auf Grundlage eines Gesetzes erfolgen.[32][33]
Als Schranke kommt das allgemeine Persönlichkeitsrecht in Betracht. Dieses findet beispielsweise Ausdruck durch die Vorschriften zum Schutz der persönlichen Ehre, die etwa verunglimpfende Abbildungen unter Strafe stellen.[34] Ebenfalls finden sich im Jugendschutzgesetz Schranken für jugendgefährdende Kunst, beispielsweise das Verbot pornografischer Romane.[26] Ebenfalls beschränkend wirken die Vorschriften zum Schutz von Staatssymbolen, etwa der Bundesflagge. Diese müssen nach Ansicht des Bundesverfassungsgerichts restriktiv ausgelegt werden, um die Ausdrucksform der politischen Satire nicht zu beschneiden.[35][36][37]
Weiterhin muss der Eingriff verhältnismäßig sein. Dies bedeutet ein Verbot, den Grundrechtsträger zu stark zu benachteiligen. Das Bundesverfassungsgericht vertritt hierbei die Theorie von der Wechselwirkung. Diese besagt, dass Gesetze, die die Kunstfreiheit beschränken, ihrerseits im Lichte der Kunstfreiheit auszulegen sind. Dies bedeutet, wenn die Kunstfreiheit einer Person aufgrund eines Gesetzes eingeschränkt wird, muss entweder der Gesetzgeber oder das Gericht eine sorgfältige Abwägung zwischen der Kunstfreiheit und dem gesetzlich geschützten widerstreitenden Verfassungsgut vornehmen. Daraus folgt, dass die Kunstfreiheit als besonders geschütztes Grundrecht nur durch besonders bedeutende Gründe eingeschränkt werden darf.[28] Bei der Kollision der Kunstfreiheit mit Grundrechten anderer Bürger wie der Eigentumsgarantie erfordert die praktische Konkordanz ebenfalls eine Güterabwägung.[38]
Das Zitiergebot des Art. 19 Absatz 1 Satz 2 GG findet auf die Kunstfreiheit keine Anwendung, da das Grundrecht keinen expliziten Gesetzesvorbehalt besitzt.[28]
Konkurrenzen
Die Kunstfreiheit geht der Meinungsfreiheit aus Art. 5 Absatz 1 GG als lex specialis vor, sofern die Meinung auf künstlerische Weise geäußert wird.[14] Ein Spezialitätsverhältnis besteht ebenfalls zur Allgemeinen Handlungsfreiheit aus Art. 2 Absatz 1 GG. Sofern ein Kunstwerk einen sakralen Hintergrund besitzt, besteht Idealkonkurrenz zur Religionsfreiheit aus Art. 4 GG.[14]
Berücksichtigung durch den Gesetzgeber
Die Kunstfreiheit muss auch durch den Gesetzgeber beachtet werden, da dieses Grundrecht gegenüber anderen Grundrechten eben nicht durch Gesetze eingeschränkt werden darf (s. o.). So enthält z. B. das Kunsturheberrechtsgesetz, welches die Veröffentlichung von Bildnissen ohne Einwilligung des Abgebildeten unter Strafe stellt, eine Bestimmung, wonach bei einem höheren Interesse der Kunst eine solche Einwilligung nicht erforderlich ist. Künstler dürfen demnach Porträtgemälde, künstlerische Fotografien und andere Personendarstellungen ungefragt in der Öffentlichkeit ausstellen, ohne hierfür strafrechtlich belangt werden zu können.
Literatur
- Ulrich Karpen, Katrin Hofer: Die Kunstfreiheit des Art 5 III 1GG in der Rechtsprechung seit 1985. Teil I und Teil II. In: Juristenzeitung. 47, 1992, S. 951–956, 1060–1066.
- Bodo Pieroth, Bernhard Schlink, Thorsten Kingreen, Ralf Poscher: Grundrechte. 30. Auflage. C.F. Müller, Heidelberg, ISBN 978-3-8114-9361-2.
- Christoph Gröpl, Kay Windhorst, Christian von Coelln: Studienkommentar GG. C.H. Beck, München, ISBN 978-3-406-64230-2.
- Bodo Pieroth, Hans Jarass: Grundgesetz für die Bundesrepublik Deutschland Kommentar. 13. Auflage. C.H. Beck, München 2014, ISBN 978-3-406-66119-8.
- Hanno Rauterberg: Wie frei ist die Kunst? Der neue Kulturkampf und die Krise des Liberalismus. Suhrkamp 2018, ISBN 978-3518127254.[39]
Weblinks
- Künstlerische Freiheit: Auftritt misslungen – mit welchen Folgen für die Künstler? Artikel von RA Prof. Dr. jur. Dieter Nennen
- BVerfGE 30, 173 - Mephisto
- BVerfGE 67, 213 - Anachronistischer Zug
- BVerfGE 77, 240 - Herrnburger Bericht
- BVerfGE 83, 130 - Josephine Mutzenbacher
- BVerfG, 1 BvR 1783/05 (Esra-Entscheidung)
- BVerwGE 1, 303 - „Sünderin“-Fall
- Feuer, Eis und Dynamit-Entscheidung des BGH
- Eingriff in die Kunstfreiheit, 2019
Einzelnachweise
- Die Kunstwelt: deutsche Zeitschrift für die bildende Kunst — 1.1911-1912, S. 577
- Art. 34 Verfassung der DDR 1949
- Art. 18 Verfassung der DDR 1968
- Jarass/Pieroth/Jarass, Grundgesetz für die Bundesrepublik Deutschland Kommentar, 2014, S. 230.
- BVerfGE 119, 1 (22): Esra-Urteil.
- BGHZ 130, 205 (218).
- BVerfGE 36, 321 (331).
- BGHSt 37, 55 (62).
- BVerfGE 67, 213 (224): Anachronistischer Zug.
- Jarass/Pieroth/Jarass, Grundgesetz für die Bundesrepublik Deutschland Kommentar, 2014, S. 229.
- BVerfGE 30, 173 (188-189).
- BVerfGE 67, 213 (226): Anachronistischer Zug.
- BVerfGE 67, 213 (226 f.): Anachronistischer Zug.
- Gröpl/Windhorst/von Coelln/Gröpl, Studienkommentar GG, 2013, S. 132.
- Ulrich Karpen, Katrin Hofer: Die Kunstfreiheit des Art 5 III 1 GG in der Rechtsprechung seit 1985. Teil I. In: Juristenzeitung, Heft 47/1992, Seite 952 ff.
- BVerfGE 30, 173 (189): Mephisto-Urteil.
- Pieroth/Schlink/Kingreen/Poscher, Staatsrecht II, 2014, S. 170.
- BVerfGE 31, 229 (239).
- BVerfGE 77, 240 (251).
- BVerfG, Beschluss vom 19. März 1984, 2 BvR 1/84, NJW 1984, 1293, 1294 – Sprayer von Zürich; BVerwG, Beschluss vom 13. April 1995, 4 B 70/95, NJW 1995, 2648 f.
- Uwe Scheffler: Kunst und Strafrecht Europa-Universität Viadrina Frankfurt (Oder), Stand: April 2014. Letzte Modifizierung: 27. April 2018.
- Verwaltungsgericht Hamburg, Urteil vom 26. Februar 2015 - 20 K 2855/13
- Entscheidungen des Bundesverfassungsgerichts, Band 81, S. 116.
- Jarass/Pieroth/Jarass, Grundgesetz für die Bundesrepublik Deutschland Kommentar, 2014, S. 229.
- Jarass/Pieroth/Jarass, Grundgesetz für die Bundesrepublik Deutschland Kommentar, 2014, S. 231.
- BVerfGE 83, 130: Josephine Mutzenbacher.
- BVerfGE 30, 173 (191-192): Mephisto-Urteil.
- Jarass/Pieroth/Jarass, Grundgesetz für die Bundesrepublik Deutschland Kommentar, 2014, S. 232.
- BVerfGE 67, 213 (228): Anachronistischer Zug.
- BVerfGE 119, 1 (23): Esra-Urteil.
- Gröpl/Windhorst/von Coelln/von Coelln, Studienkommentar GG, 2013, S. 21.
- BVerfGE 83, 130 (142): Josephine Mutzenbacher.
- Jarass/Pieroth/Jarass, Grundgesetz für die Bundesrepublik Deutschland Kommentar, 2014, S. 36.
- Bundesverfassungsgericht, Anachronistischer Zug, in: Neue Juristische Wochenschrift, 1985, S. 264.
- BVerfGE 81, 278 (293).
- BVerfGE 81, 298 (304).
- Jarass/Pieroth/Jarass, Grundgesetz der Bundesrepublik Deutschland Kommentar, 2014, S. 233.
- Ronen Steinke: Prozess um Graffiti-Sprayer OZ: Wenn Banksy hier wäre Süddeutsche Zeitung, 27. Juli 2011
- Rezension (Deutschlandfunk Kultur)